«Die Nicht-Poesie der Nicht-Poeten»
«Poetisch» ist ein Adjektiv des zwiespältigen Lobes. Zu Ausstellungen, Installationen, Liedern, Plastiken kann man heute problemlos sagen, dass sie «poetisch» sind. Das Prädikat ist hier weniger deskriptiv als wertend. «Poetisch» bedeutet abwechselnd geheimnisvoll, schön, tief, einzigartig, auffallend.
   Im heutigen Frankreich herrscht ein semantisches Phänomen, das nicht unbemerkt bleiben darf: Ich meine damit nicht nur das Wort «Poesie» (deskriptiver Begriff in der Eigenschaft, dass er eine symbolische Aktivität bezeichnet, die man im Laufe der Jahrhunderte als ein Gattung der «Sprachkunst» identifiziert hat), dessen Adjektiv «poetisch» (wertend) nicht mehr seinen natürlichen Träger beschreibt, sondern auch, dass man den Dichtern die Poesie abstreitet, mit der man Nicht-Poeten auszeichnet.
   Ein Paradox der Epoche: In ihren literarischen Beilagen hören Zeitungen nicht auf so etwas wie Romane, Essays, Reflexionen als «poetisch« zu loben. Aus ihren Kolumnen verschwinden aber die natürlichen Träger jenes Adjektivs, das sie so gern verwenden.
   Im Oktober 2010 erschienen in einer sehr schönen Ausgabe die Fragments von Marilyn Monroe. Sie enthalten neben Prosa auch Zeitschriftenartikel und Briefe sowie veritable Gedichte. Man hat sie gefeiert. Eine Poetesse war geboren. Im April 2013 veröffentlichte der französische Romancier Michel Houellebecq eine Sammlung von Gedichten (nicht seine erste): Configuration du dernier rivage (Anm.: auf deutsch erhältlich unter dem Titel Gestalt des letzten Ufers). Die Kritik war einstimmig und laut und nahm in den meisten Zeitungen und Zeitschriften eine volle Seite in Anspruch. Man feierte weniger seine Kunst als seinen Mut: den Mut der Poesie (den Dichtermut von Hölderlin). So beweihräucherte man Marilyn und Houellebecq, weil sie Lyrik geschrieben haben (und Gedichte zu schreiben ist eben eine hochachtungsvolle Tätigkeit. Es wäre nicht dasselbe gewesen, hätte Houellebecq ein Gemälde ausgestellt oder hätte Marilyn Monroe ein Theaterstück geschrieben). Hätten sie keine Gedichte geschrieben, hätte man sich nicht dafür interessiert – Es ist nicht die Poesie der Dichter, die interessiert, sondern die Poesie der Nicht-Poeten.
   Das, was die Poesie der Nicht-Poeten charakterisiert, ist ihre «altmodische» Erscheinung. Michel Houellebecq hilft uns, das zu verstehen, indem er erklärt, keinen Dichter des 20. Jahrhunderts gelesen zu haben. Ein Romanschriftsteller, von dem manche behaupten, dass er zur Neuerfindung des zeitgenössischen Romans beigetragen hat, denkt also, dass er sich nicht mit den Praktiken der zeitgenössischen Dichtung auseinandersetzen muss, um Gedichte zu schreiben.
   Man kann sich leicht davon überzeugen, indem man es liest: Die Poesie des Nicht-Poeten unterhält denselben Dialog mit der zeitgenössischen französischen Dichtung wie die Gemälde eines Sonntagsmalers mit der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts. So wie jener, sagen wir zwischen 1880 und 1914, seine Familie oder einen Garten in seinen kanonisierten Formen als ein Stück Geschichte porträtieren will (er entleiht sich seine Motive aus einem Kunstmuseum, das Monet und Manet, Gauguin und Cézanne ausstellt), will der hier seine unglückliche Liebe in konventionellen Formen besingen, die er sich von Lyrikadepten und Chansonniers ausgeliehen hat.
   Man kann also sagen, dass die «Nicht-Poesie der Nicht-Poeten« heutzutage in Frankreich auf die gleiche Art gefeiert wird wie die Poesie. Eine solche «Unterscheidung» ist nicht unmöglich; auch wenn die romandominierte Literaturwelt nicht mehr zwischen Schriftstellern «unterscheidet» (die sich devot der Massenkultur unterwerfen). Man muss die Beherrschten der Beherrschten suchen (diejenigen, die sich selbst als Unterworfener der Romankultur darstellen). Sie betreiben die Gattung als Hausierer und Lumpensammler (unter dem Vorwand, dass sie von symbolischem Wert ist) und predigen den «Mut der Dichtung». Schöne Diskrepanz.
   Ohne Zweifel vollzieht sich hier eine Veränderung jener Frage, die von den analytischen Philosophen gestellt worden ist. Diese Philosophen – darunter Morris Weitz, Arthur Danto, Nelson Goodman und George Dickie in den USA oder Jean-Marie Schaeffer und Gérard Genette in Frankreich –, behaupten seit gut 50 Jahren, dass es unmöglich ist, eine «substanzielle» Definition von Kunst aufzustellen. Die Kunst hätte keine eigene Form oder einen besonderen Inhalt; allein der Kontext – historisch, institutionell und theoretisch – würde es erlauben, sich ihrer Existenz bewusst zu werden. Anstatt sich zu fragen «Was ist Kunst?» haben es sich diese Philosophen auf die Fahnen geschrieben, zu fragen «Wann ist es Kunst?» Und die Beantwortung dieser Frage lässt sofort an Arthur Danto denken, der ein Werk vor allem als ein historisches Produkt sieht, dessen Anerkennung als Kunst von der «Theoretischen Atmosphäre» des Augenblicks abhängt (die künstlerischen Kriterien, die in diesem Moment massgebend sind für die Kunstgeschichte). Wahrscheinlich macht man also in unserer Epoche gar nicht so viel falsch, wenn man die «Nicht-Poesie der Nicht-Poeten» lobt.
   Fehlt noch, dass sich diese Angelegenheit um eine weitere Drehung verkompliziert: Die zeitgenössischen Dichter lehnen es oft ab, dass man sie «Dichter» nennt, und dass man ihre Texte als Gedichte bezeichnet. 2011 erschien in der Edition La Fabrique ein kleines Manifest mit dem Namen Mais toi aussi tu as des armes. Poésie et politique (dt.: Auch Du hast Waffen. Poesie und Politik). Das Buch beginnt mit den Worten: «dieses Buch versammelt Schriftsteller, die nicht als Dichter behandelt werden wollen. Sie legen auch keinen Wert darauf, dass man ihre Schreibarbeit als Dichtung qualifiziert.» Und dennoch heisst das Buch im Untertitel «Poesie und Politik». Es gibt also auch eine nichtpoetische Poesie von nichtpoetischen Poeten.
   Sinnlos ist diese Debatte nicht. Sie ermöglicht es, wieder an die Poesie von Dichtern zu erinnern, für die das Schreiben von Gedichten von einem höheren Kunstanspruch bestimmt wird. Aber die «seltsame, unkontrollierbare Bezeichnung» (Aragon) für Dichter wird gar nicht mehr gesucht oder verweigert – man kann sich auf eine Formel von Michel Deguy berufen und sich als «Sein suchenden Dichter» präsentieren.
   In einer Hommage an Pier Paolo Pasolini fragt sich Zanzotto: «Ist es gerecht, Pasolini als Dichter zu bezeichnen, bei all dem, was er geschrieben und auf verschiedensten Tätigkeitsfeldern geleistet hat? Ja, das ist es, die peinlichste und sogar altmodischste Bedeutung (imbarazzante e persino desueta), die der Begriff tragen kann.» Ohne Zweifel, es ist schwierig sich zwischen den Bedeutungen zu entscheiden, die diesem Begriff anheften und man hat gute Gründe bestimmte Masken abzulegen. Aber diese Schwierigkeit sollte die Sein suchenden Dichter nicht daran hindern, die Dichtung zu verteidigen. Ansonsten gehen wir das Risiko ein, als jene Generation zu gelten, welche die Poesie verschleudert hat.


Martin Rueff
Aus dem Französischen von WF Schmid


Martin Rueff, geboren 1968 in Calgary (Canada), ist Übersetzer, Lyriker und Philosoph. Nach Stationen an der Université Paris VII – Diderot und an der Università di Bologna ist er Professor für französische Literaturwissenschaft an der Université de Genève. Rueff ist Herausgeber der «Werke» von Cesare Pavese und Mitherausgeber der Werke von Claude Lévi-Strauss (beide Gallimard). Als Lyriker erschien von ihm zuletzt 2008 «Icare crie dans un ciel de craie» (Ikarus kreischt im Kreidehimmel).

Der Originalartikel erschien in der Liberation am 19.5. 2013 und kann hier abgerufen werden