Kleist im Kopf

„ Armer Teufel, steht herum
und starrt minutenlang
auf eine Sonnenblume.
Wenn er nur etwas zu tun hätte,
das wäre besser für ihn.“
Darwins Gärtner
(zitiert nach Hans Magnus Enzensberger)

„Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Er braucht nicht eben ein scharfdenkender Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum befragen solltest. nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen … Der Franzose sagt: 'L'appétit vient en mangeant', und dieser Erfahrungssatz bleibt wahr, wenn man ihn parodiert und sagt: 'L'idée vient en parlant.'“ Heinrich von Kleist in seiner Abhandlung „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“

Um zu schreiben benötige ich einen Nukleus und einen Vertrauten. Und genau das ist mein Problem. Es gibt genug Gründe in den Schreibprozess einzutreten, aber es gibt Lebensphasen, in denen das Mißtrauen in meine Sprache so groß ist, daß ich zu nichts komme. Ich rede nicht von Mißtrauen im Generellen, sondern eher von Impotenz im Speziellen. Ich benötige dann Tage währende Versuche zu einer Sprache zu kommen, von der ich spüre, daß sie mich betrifft und der ich mein Vertrauen aussprechen kann, während ich sie benutze. Das ist Besucherstatus, der sich ins home-Mädele streckt. Man benötigt einen Adressaten. Das muß kein realer Mensch sein, sondern kann auch jemand Erdachtes sein, von dem ich mir wünsche, daß es ihn jemals geben wird. Sobald ich diesen jemand positiv bedenke, macht meine Kreativität auf und ist sich nicht zu schade für Tanzübungen vor dem Spiegel. Diesen jemand gilt es zu finden.
Idealerweise ist er nicht hier, sondern weit weg und ohnehin nur ein Geistwesen. Er kann auch das Gegenüber eines Selbstgespräches sein, also ein Teil des Ichs, das man das angekommene nennen könnte und das jenseits des Hamsterkäfigs des Alltags etwas bewahrt, was vor einer Weltbemächtigung (auch der sprachlichen) gebraucht wird: das Vertrauen selber als eine Art Aktivität im grünen Bereich zu sein, Weltbestandteil, der sich einmischen kann. Deswegen sind depressive Phasen im Allgemeinen so schlimm, nicht weil sie voller Zweifel sind, sondern, weil sie das Einmischen scheuen, sich zurückwerfen auf unter das Bett (des Bedrohten, des Verfolgten, Wortabgeschnittenen). Wer die Rede an sich selbst verliert und klar ist mit seinem Elend, der ist stumm und vereinsamt. Nicht die Einsamkeit macht stumm, nicht der Zweifel, sondern die Unsagbarkeit, die man als Grenzerfahrung erlebt, und dort womöglich als Erschütterung, als Verlust des Vertrauens.

Ich kann das schreiben, weil ich beim Schreiben bevorzugt auf dem Bett sitze, ein notebook auf einem Extrakissen vor mir. Ich bin vollkommen allein, manchmal über Tage, von Zweifeln geplagt und in Gedanken hin- und hergeschickt. Solange das ins Sagbare gehört, bin ich jeweils gerettet. Das ist mein therapeutisches Moment. Beim Durchschreiten der Denkgegenden stelle ich mir einen Adressaten zur Verfügung, dem ich vertraue.
Allerdings: es gibt genug Leute, die einem diesen Adressaten madig machen wollen, indem sie das Geschriebene kritisieren oder dezidiert ablehnend darauf reagieren. Es gibt sogar regelrechte Mobbing-Kings, die in sozialen Medien versuchen mit kleinen superklugen Bemerkungen etwas loszutreten, literarische Rangringer und heimliche Rächer. Von solchen „Kollegen“ ist niemand frei. In literarischen Kreisen gibt es recht viele Elefanten (und es lauern Leute, die einen an öffentlichen Telefonen anrufen), von denen man nicht die geringste Ahnung hat und die aber bei etwaigen lyrikpolizeilichen Ermittlungen kräftig ihren Senf hinzurüsseln.

Der Lyriker von heute kann das ab. Heißt es und so hoffe ich. Ich kann das nicht gut. Vielleicht, weil mein Adressat mich wie ein Trainer bei Pfiffen ins Trotzdem verpflichtet. Unter anderem auch deswegen habe ich keinen facebook-account. Ich komme nicht mit Attacken und Beschädigungen klar, die von außen auf das hochsensible Geflecht eines Adressaten und mir und meinem Sagen einwirken. Es ist ohnehin keine besonders stabile Konstruktion. Wer die Relativität der Dinge kennt, wird seine Streben vorsichtiger ziehen und manches Denkgebäude sieht dann aus wie gar keins, es ist einfach ein Horizont, eine Perspektive oder eine Handvoll Erde. Wie beschütze ich eine Handvoll Erde? Indem ich keinen Palast draufstelle. Mir ist mein Denken zu wertvoll, um es einer wie auch immer gedachten Ignoranz ausgesetzt zu sehen, die ihre Ichkämpfe öffentlich tarnt als Ichgewinn. Weil es mir wirklich wichtig ist, besser: weil es für mich wichtig ist. Ich brauche es, ich benötige meinen Adressaten, um schreiben zu können. Er ist meine Versicherung gegen depressive Umnachtung. Und meine Art ihn zu verteidigen ist es, ihn nicht verteidigen zu müssen, ihn rauszuhalten aus dem Pseudo-Diskurs, er soll clean sein und anonym.
Seine Klugheit ist beschränkt, aber seine Offenheit phänomenal. Ich kann zu ihm kommen mit jeder Art Problem und jeder Art Gedanke, er hört mir zu und das schenkt mir Vertrauen. Er hat keine Predigt für mich und keine Empfehlung, aber er kann machen, daß was wächst, daß Dinge entstehen, die ich nicht für möglich halte. Auf einem kleinen Fleck Erde, in einem Schlamm oder Wasser.

CLEMENS PODEWILS*
Zenith

Der mich anspringt
jetzt, immerzu jetzt,
gefleckter Räuber
im Baum des Mittags,
Lichtleopard.
(1967)

aus: Heinz Piontek (Hg.): Deutsche Gedichte seit 1960. Reclam 1972.

P.S.: Diese Notiz war wichtig, um eine Blockade zu überwinden. Sie ist quasi auf der Suche nach einem Irgendwas, einem möglichen Adressaten und findet ihn "pantheistisch" im Dreck (der mir – übrigens - verlässlicher erscheint als irgendeine Jury). Ich liebe Schmutz, ich liebe das Gegenteil von Unversehrtheit, ich liebe Historie und echte Geschichte, die sich nicht aus Mattel-Himmeln herspinnt. Dabei bewundere ich manche Vielschreiber, die kein Problem damit haben, jederzeit ihren Adressaten aufrufen zu können, er ist allzeit da, benötigt keine Elixiere, ruht im Wesen des nassen T-Shirts selbst. Bei mir ruht ganz innen die Frage: Kannst du schreiben? Und die vermeintliche Antwort darauf: Du willst schreiben, weil du etwas anderes nicht kannst! Aus Defiziten her gedacht, eine Ersatzeinmischung, eine Alternative. „Ein armer Hirnhund, schwer mit Gott behangen. / Ich bin der Stirn so satt ...“ (aus: Untergrundbahn von Gottfried Benn). Literatur als Lebensalternative – das lernt man schnell, daß das nicht funktioniert, hungerleidend. Lyrik als Flugzeug, ja, das funktioniert. Die kleine Form mit dem leichten Gepäck, reisefertig steht man da und sucht nach einer Adresse, die im besten Fall das Gedicht selber ist. Da ja kein Jenseits dabei, sondern ein echtes Hiersein. Was den Text betrifft.

Frank Milautzcki, 27.03.2018 | 08.04.2018


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Daß Clemens Podewils eher aus einer konservativen Gesinnung herstammt, fand ich erst heraus, nachdem ich das Gedicht mochte. Immerhin hat er zusammen mit Heinz Piontek die Herausgabe des ensembles geleistet, ein Jahrbuch für Literatur, daß seinerzeit als Taschenbuch bei dtv erschien.