| Erfahrung mit Fühmanns Gedicht Vor Feuerschlünden: Übersetzungsprobleme Teil 1 |
![]() Zurzeit übersetze ich Franz Fühmanns großen Essay zu Georg Trakl ins Englische. „Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Trakls Gedicht“ (1982) ist in vielerlei Hinsicht das Magnum Opus des schändlich vernachlässigten DDR-Autors. Angedacht als Nachwort zu der von Fühmann besorgten DDR-Ausgabe von Trakls Gedichten, entwickelte sich der Text zu einer tiefschürfenden und brisanten Abrechnung mit Fühmanns eigener Biografie – und mit den großen ideologischen Konflikten des 20. Jahrhunderts. Fühmann (1922-1984), als Sohn einer konservativen Familie im Sudetenland geboren, zog bereits 1939 freiwillig in den Krieg, ein blind Überzeugter, dessen Glaube an den Nationalsozialismus erst gegen Ende des Krieges durch die Begegnung mit Trakls düsterer Lyrik zu wanken begann. 1945 kam er in sowjetische Gefangenschaft und schließlich an eine „Antifa-Schule“ in Russland, wo er sich zum Sozialismus bekannte. 1949 zog er in die DDR, um zunächst als Kulturfunktionär, dann zunehmend als Schriftsteller am Aufbau des neuen sozialistischen Staates mitzuwirken. Trakls im Sozialismus als „dekadent“ verurteilte Lyrik begleitete ihn jedoch weiterhin. Hatte sie einst erste Zweifel an den Nationalsozialismus gesät, brachte sie Fühmann nun dazu, den realexistierenden Sozialismus immer mehr in Frage zu stellen und ihre starre Doktrin als borniert und unmenschlich zu kritisieren – sogar als Pendant zur Ideologie des NS-Staates: „Dieses völlig duale Weltbild … war hierin ein Kontre-Stück zu der Weltsicht, die ehedem unser Denken beherrschte“. „Vor Feuerschlünden“ arbeitet schonungslos eine Desillusionierung und innere Zerrissenheit auf, an denen eine ganze Gesellschaft litt. Fühmann bemühte sich um Wahrheit, egal wie schmerzhaft, um eine Ethik und Ästhetik, welche jenseits von starren Ideologien „dem ganzen Menschen“ mit allen Widersprüchen und Abgründen gerecht werden könnte – ohne Illusionen, jedoch mit Toleranz und Empathie. Fühmann, der in allen erdenklichen Genres schrieb (außer dem des klassischen Romans – leider ein Grund für seine Vernachlässigung), war vor allem ein glänzender Essayist. In den „Feuerschlünden“ zieht er gleich alle essayistischen Register: bittere oder lyrische autobiographische Passagen; leidenschaftliche-ironisch pointierte politische Argumente; eine feinfühlige Annäherung an Trakls Biographie; und Bausteine einer Poetik, die sich vordergründig an einen naiven oder skeptischen Leser richtet und Schritt für Schritt – zugleich rigoros und verspielt – Zugang zu Trakls Worten verschafft. Für Fühmann hat das einzelne Wort eine unheimliche, beinah fetischistische Kraft; bestimmte, oft eigensinnig verwendete Worte wiederholen sich leitmotivisch innerhalb seines Textes und werden immer mehr mit Bedeutung und Assoziationen aufgeladen. Abgesehen von den Gedichten an sich und seinem ins kleinste Detail gehende poetologische Ausführungen stellen diese Fühmannsche Worte für mich als Übersetzerin die größte Herausforderung dar. Auf einige möchte ich unter dieser Rubrik eingehen – angefangen mit dem Wort Gedicht selbst. *
![]() „Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Trakls Gedicht“ – ich sehe mich schon am Untertitel scheitern (welche Erfahrung wäre Franz Fühmann gemäßer, als das Scheitern, gleich am Anfang, immer wieder, immer besser?). Am singularischen Gedicht, an diesem (dachte ich) stilistischen Spleen, über den ich bis dahin hinweggelesen hatte, da ich den Sinn zu verstehen glaubte: Trakls Dichtung. Trakl’s Poetry. Ausgerechnet das Wort zu übersetzen, das der Autor bewusst nicht wählte, hier Dichtung oder Poesie, ist bestenfalls eine Verlegenheitslösung. Also doch Trakl’s Poem? So schmilzt es aber, oder täusche ich mich, auf erschreckende Weise zusammen, verwaist, verniedlicht zum Gedichterl – so sah Fühmanns Vater Trakls Verse. Gedicht steht für sich, schwebend zwischen Singular und Kollektivum, Konkretum und Abstraktum, scheint mehr zu meinen, als irgendeinen Text. Weshalb (meine Ausrede) ich immer wieder über die Irritation hinweglas. Auch, weil mich das Buch jedes Mal so packte, weil diese Poetik auch eine Spurensuche, eine Abrechnung, eine Beichte (Sühne) des 20. Jahrhunderts ist, und eine derart dichte Fülle im Kopf hinterlässt, ein Alles-hängt-mit-Allem-zusammen. (Welche freilich die Gier weckt, alles bis ins Kleinste durch die Hände gleiten zu lassen, auszuspellen.) Fühmann zerrt dich durch sein Dickicht und redet auf dich ein. Du bist sein Gegenüber, er unterstellt dir Fragen und Irritationen, um diese (niemals ganz) aufzulösen, lenkt dich spürbar, doch ohne Bevormundung, ein Spiel auf Augenhöhe: so lässt er Argumente Schritt für Stolperschritt nachvollziehen. Er bahnt sich Schleichpfade – du folgst ihm wie im Traum einem, der zu wissen scheint, wo es langgeht –, durch Dornenbögen, Blätterhöhlen, er jagt dich durchs Gebüsch dorthin, wo du auf einmal meilenweit siehst (und ein falscher Schritt dich in den Abgrund stürzen würde). Du gehst gern mit: seine Leidenschaft steckt an, er macht Mut, weil er sich zuweilen heillos verrennt und doch unbeirrt weitermacht, weil er ohne zu zögern in die Dunkelheit geht, weil du ahnst, dass all die Irrwege zusammen etwas ergeben, schlüssig, doch nicht abgeschlossen. Weil er gerade mit seinen großen Gesten sagt, dass diese Wege lediglich die Seinen sind; das Gelände, unerschöpflich, steht jedem offen. Das Gelände, welches das Gedicht ist. Nach und nach wird
deutlich, was es mit Fühmanns singularischem Gedicht auf sich hat:
[D]ie eine Dichtung
seines Gesamtwerkes … Trakls Gesamtgedicht.
Vielleicht kommt
[der Leser] zu der Überzeugung, dass nicht nur Trakls Werk insgesamt,
sondern auch das der weltweiten Moderne ein einziges großes
Gedichtganzes darstellt, die Summe unserer Epoche, darin die Menschheit
gezwungen ist, sich als Menschheit zu konstituieren, und eine
Brüderschaft von Dichtung und Kunst geht ihr voran.
[D]ie Verse [in
Trakls Manuskripten] fließen ineinander über, verzweigen sich und
vereinen sich wieder; sein Werk ist im Grunde ein einziges Gedicht.
Schließlich fällt ein Wort von Trakl selbst: „Erwachend fühlst du die Bitternis der Welt; darin ist alle deine ungelöste Schuld; dein Gedicht eine unvollkommene Sühne.“ Schuld und Sühne, Fühmanns Lebensthemen: seine Jugend als Faschist, sein Erwachsenwerden als blinder Sozialist, die Verführungen der Ideologie, die er schließlich mit einer unerbittlichen Ehrlichkeit, gerade in den Feuerschlünden, abbüßte. Dieser Satz von Trakl ging ihn an. Und in diesem Satz meint „dein Gedicht“ „dein Werk“: das Ganze. Undenkbar, dass Trakl hier von irgendeinem Gedichterl spricht, nein, es geht um all sein Schaffen, alles, was zu schaffen überhaupt möglich wäre: das ist es, was niemals reichen wird. (Was könnte eine Schuld sühnen, die die Bitternis der Welt ist?) Das war Trakls Gedicht in Trakls Augen, in einem seiner letzten Selbstzeugnisse, kurz bevor er an die Front fuhr. So wirkt Fühmanns Untertitel wie ein Versuch, dieses Gedicht nicht nur für die Nachwelt zu retten, sondern auch vor dem Glauben des Dichters an dessen Unzulänglichkeit. Das trotzig-irritierende singularische Gedicht als trotzig-zuversichtliche Botschaft an Trakl. So klar steht sie im Text, die Auflösung dieses Gedicht-Singulars. Auch über sie hatte ich immer wieder hinweggelesen. Entgegen Fühmanns Gewohnheit wird hier eine Irritation aufgelöst, ohne auch nur einmal als eine solche gehandelt zu werden, obwohl sie so plakativ im Titel steht – das irritiert erneut, nicht argumentativ, sondern gestisch. Die Frage des Lesers aufgreifen, das ist die für Fühmann typische Geste, aber gerade hier unterbleibt sie. Dieses Gedicht scheint für ihn, der sonst jede Selbstverständlichkeit in Frage stellt, selbstverständlich geworden, oder er behauptet es als Selbstverständlichkeit. Denkbar: Den Singular, der sich im Denk- und Schreibprozess herausgeschält hat, nimmt er am Ende in den Titel auf – als Schlussstein. Denkbar: Der ganze Text ist auf diesen Singular hingeschrieben, auf einen Sprachgebrauch hin, in welchem ein Singular mit Vielheit aufgeladen wird. (Ein solcher Singular ist auch Erfahrung.) Oder aus diesem Sprachgebrauch heraus, mithilfe des Werkzeuges, welches Fühmann dem Leser am Anfang in die Hand gibt: „Die deutsche
Sprache ist so hellsichtig gewesen, dem Substantiv ‚Wort‘ zwei Plurale
zukommen zu lassen: ‚Worte‘ und ‚Wörter‘, und wir beabsichtigen die
Konsequenz, hier nicht den Fall eines zweifachen Plurals anzunehmen,
sondern schon den zweier verschiedener, wenn auch gleichlautender
Singulare …“
Das ist der Anspruch dieses so ausufernden wie in sich schlüssigen Essays: bei jedem Singular einen gleichlautenden ahnen zu lassen, welcher Unendliches und Paradoxes umfasst, das Wort „im Sinne eines Plurals ‚Worte‘, dessen Wesen die widersprüchliche Einheit menschlicher Erfahrung ist“. So wäre Trakls Gedicht alles zugleich: spinnertes Gedichterl, unvollkommene Sühne unendlicher Schuld, und ein einziges großes Gedichtganzes. Wie kaum ein anderes Wort wirkt Gedicht in diesem Sinne, enthält im Singular den umfassenden Zusammenhang, der Trakl so vernichtend unvollkommen erschien, für Fühmann jedoch (gerade deshalb?) eine zu rettende Welt darstellte – eine Welt, in der er sich selbst vor den Vollkommenheiten der Ideologie retten konnte. Dieses Etwas, welches Gedicht enthält, könnte im Englischen ergänzt werden – Trakl’s One Poem, Trakl’s Great Poem – doch das wäre die Veräusserlichung eines inneren Zusammenhangs. Dieser liegt schon in der Vorsilbe Ge-, in der Wortbildung, das Fremd-Organische, das man erst in seiner vollen Lebendigkeit spürt, wenn man es fassen will und es einem entgleitet – beim Übersetzen. 47 Seiten widmet das Grimmsche Wörterbuch dem Ge-, „diesem wundersamsten worte unserer sprache“. Die erreichbar
älteste bedeutung ist eine zusammenfassende, in vielseitiger
verwendung, am erkennbarsten bei subst. [Gebrüder,
Geschwister, Gesellen]
… ein lebendiges
verhältnis steckt wol ursprünglich z. b. in dem ge- von
gehören (angehören, zugehören), ein
geistiges z. b. in ge denken,
glauben, gönnen, vom
äuszeren zum inneren fortschreitend in gebühren,
geziemen, gefallen. … in
anderer weise schlieszt sich an das urspr.
zusammen leicht erkennbar an der begriff desfertigen,
daher auch des bleibenden in manigfachster weise …
vollständigen, sachliche subst.
verb., sowol activisch als passivisch … gesang m. vondas
ge- zugleich mit dem
vollen begriff des
zusammen, als schreien vieler, im unterschiede vom schrei des einzelnen
…
singen … geschrei …
zugleich mit den
collectiven … sich berührend, oft verflieszend; so
gespräch … gesetz, gericht, gedicht …
bei diesen gemählde, gebräude, gebäude, gebilde, geschrift, gespinnst
u. dergl. ist mit ge- wol das fertig bringen
bezeichnet, das ja zum
theil und oft wesentlich in einem zusammenbringen besteht.
Diese Vorsilbe verknüpft sich nun mit einem Verb, das ihren verbindenden, zusammenschliessenden Charakter verstärkt, ja ausdrücklich zu benennen scheint:
DICHTEN, dicht machen,
densare, solidare …
ja dieser begünstigte soll alles was den gewöhnlichen menschen als
ahndung, einfall oder gehaltlose laune vor der seele flattert, dichten,
verdichten (ernstgemeintes
wortspiel) Tieck Nov. 1, 122.
Doch halt – das ist der falsche Freund. Der eigentliche Zusammenhang
ist ein anderer:
DICHTEN, von einem
höheren geist erfüllt dichterisch schaffen, carmen
condere, ahd. tictôn, dihtôn, mhd. tihten, ags. dihtan, niederl.
dichten, nord.
dikta, schwed.
dikta, dän.
digte, roman.
dictar, ditar;
in das
französische und englische ist das wort nicht aufgenommen, man
umschreibt s'adonner à la poésie, faire des vers: to
compose a poem, to
make verses, to versify, doch
hier auch to poetize. dichten ist das
latein. dictare.
1. wir müssen, um das wort zu verstehen, in die ältere zeit zurückgehen. ursprünglich heiszt dichten das ausgesonnene, geistig geschaffene niederschreiben oder zum niederschreiben vorsagen, damit es gelesen oder gesungen werde. so in der Exhortatio ad plebem christianam wîho âtum gawisso dêm maistrôn derâ christânheitî, dêm wîhôm potôm sînêm, deisu wort thictôta A, 15—E, 1. wie das lat. dictare und scribere geht es in den begriff von abfassen, verfassen über … 2. in erweiterter bedeutung etwas schaffen, erdenken, aussinnen, anordnen, so auchauch das latein. dictare ward so gebraucht … 3. sinnen, nachdenken. der êwige vatir tihtôt, der êwige sun werchôt Sermo de nativitate domini aus dem 12ten jh. (Wackernagels Lesebuch 1. 192, 16). … rufet laut, denn er ist ein gott, er tichtet, oder hat zu schaffen, oder ist uber feld 1 Könige 18, 27. das herz des gerechten tichtet was zu antworten ist, aber der munt des gottlosen scheumet Sprüche 15, 28. … 4. nach etwas, auf etwas dichten trachten etwas zu erreichen. … 5. wie erdichten, ersinnen, erdenken, erfinden was nicht wirklich, was nicht wahr ist, fingere, confingere, häufig in böser absicht; vergl. andichten, aufdichten. ausdichten. man
tihtet wîsheit, lêre,
reht, eine
hôhzît, einen hof.
So sagt
„dichten“ zugleich sinnen, sprechen und schreiben.Cry aloud: for he is a god;
either he is talking … Perhaps he is deep
in thought … either he is musing … perhaps he speaketh with another …
Beim Bibel-Wort, welches Luther mit tichten übersetzt, schwanken die englischen Übersetzer zwischen talking und thinking. Was tut der Gott? (Er ist übrigens Baal.) Luther scheint es zu wissen, ihm steht das Wort zur Verfügung. (Ob er es wirklich weiß? Oder versteckt er sich hinter dem Wort?) Wir dagegen müssen rätseln und hadern. Sich fragen, ob es vielleicht eins ist: ob ein Gott denkt, oder ob er spricht. Und was ein Gott spricht, ist das nicht gleich auch geschaffen? Gleich – Schöpfung? Steckt all das in diesem Verb, in dieser geheimnisvollen Handlung? Die uns, nicht anders als dem Gott, als Möglichkeit zur Verfügung steht? Selbst wenn wir keine Übersetzung dafür haben? All das sagt also dichten.
(Sagt – ein
Fühmann-Wort, immer wieder setzt er dieses einfachste Verb
ein, anstatt bedeuten,
bezeichnen, ausdrücken, bis das Sagen in einer
Vielheit von Bedeutung aufgeht, oder die Vielheit von Bedeutung in der
Einfachheit des Sagens.)![]() GEDICHT, n. subst.
verb. zu dichten …
1) die älteste
bedeutung von tihten, für die niederschrift verfassen,
eigentlich dem schreiber in die feder sagen (lat. dictare)
… mhd.
einen
brief tihten, von
schrîben unterschieden, oben II, 1058, aus späterer
zeit s. Schm.2 1, 486, noch jetzt z. b. in Thüringen zu
hören:
schreiben kann ich wol, aber einen brief dichten das kann ich nicht.
2) daher ursprünglich
von allem in schrift verfasztem, seinem inhalt,
seiner fassung nach. …
3) auch von nachdenken,
sinnen, wie es ja zu dem dichten unter 1. 2
gehört als quelle oder mittel (s. dichten 3). … das ist wol noch das
schwäb. dîcht m. tiefes nachdenken, z. b. er ist im dîcht,
hat es im
dîcht gethan …
4) bemerkenswert selbst
für kunstarbeit mhd., eigentlich wol gleich dem
erfindung … so
von der welt als gotes getihte …
5) für
erfindung noch in
andrem sinne.
a) von erfindung
menschlicher kunst, im gegensatz zur natur …
b) besonders von
willkürlicher oder falscher, lügnerischer erfindung u.
ähnl.
α) geticht vel
lugen, ficticium,
figmentum voc. inc. teut. i 5b,
commentum …
β) daher auch im
gegensatz und reim zu geschichte …: es ist eine
geschicht und kein gedicht; ein gedicht ist keine geschicht, fabula non
est historia. …
d) doch mischte sich
der gedanke an den dichter früh auch ein, von dem
man ja ein erfinden (mhd.
vinden) verlangte. wie
schon früh der dichter
die wahrheit seiner dichtung besonders behaupten musz … 6) gedicht des
dichters, seine erfindung, schöpfung, dichtwerk in
völliger abfassung. … Auch gleich dichtung, poesie, d. h. begrifflich
allgemein oder collectivisch gedacht …
Da also: weder Fühmann noch Trakl war der Erste, der ein ganzes Werk, ja eine Schöpfung als Gedicht bezeichnete. Der Wortgebrauch ist belegt. Und doch scheint mir das inzwischen kaum noch der Rede wert – dass ein Wort, welches alles Tun vom Denken über Sprechen über Schaffen umfasst, auch diesen kleinen konkreten Sinn enthält. So muss es wohl keine Schande sein, beim Übersetzen eines solchen Wortes zu scheitern? Schon die Grimms attestieren, dass meiner Sprache das Verbum dichten fehlt, welches im deutschen Substantiv lebt und aus ihm heimlich Handlung macht. Uns fehlt der falsche Freund, der mit geheimnisvoller Berechtigung ein- und ausgeht. Uns fehlt die wundersamste Vorsilbe. Und doch sagt poem so vieles, was Gedicht auch sagt. Nicht nur eine Bedeutung, einen Sinn, auch eine Geschichte, eine Entfaltung und Verdichtung. poem
(n.) 1540s (replacing poesy in this sense),
from Middle French poème (14c.), from Latin poema "composition in
verse, poetry," from Greek poema "fiction, poetical work," literally
"thing made or created," early variant of poiema, from poein, poiein,
"to make or compose" (see poet).
poet (n.) early
14c., "a poet, a singer" (c. 1200 as a surname), from
Old French poete (12c., Modern French poète) and directly from Latin
poeta "a poet," from Greek poetes "maker, author, poet," variant of
poietes, from poein, poiein "to make, create, compose," from PIE
*kwoiwo- "making," from root *kwei- "to pile up, build, make"
(cognates: Sanskrit cinoti "heaping up, piling up," Old Church Slavonic
činu "act, deed, order").
Was das Wort alles enthält, bis auf das dictare/diktieren/dictate in činu, bis auf den falschen verdichtenden Freund in der Anhäufung cinoti. Geht dichten doch auch auf poiein zurück, auf *kwoiwo-, auf *kwei-, Steinhaufen, die etwas markieren, vielleicht einen Weg? Oder handelt es sich hier um unabhängige Entwicklungen, Parallelevolution, Parallelwege? Das scheint zugleich wundersamer und wahrscheinlicher. Unvorstellbar, dass alles auf einen Wurzel zurückgeht, dass einer das Dichten erfand, genauso wenig, wie einer vor Urzeiten auf die Idee kam, Steine aufzuhäufen, und diese Kulturtechnik sich dann in der ganzen Welt ausbreitete. So oder so: All das steckt auch im Wort poem. Bloß verborgen. Unentschlüsselt, unübersetzt. Englisch hat gegenüber dem Deutschen den Vorteil eines überreichen Wortschatzes, verschieden gefärbter Schichten des Keltischen, Germanischen, Normannischen, der alten Leihwörter, lateinisch und griechisch, der neuen aus dem britischen Kolonialreich. Allein in den USA fließen die Sprachen aller Welt zusammen. Eine unerschöpfliche Fülle an Ausdrucksmöglichkeiten, Tönen, Kontrasten. Aber auch an Verwirrung – allein die Rechtschreibung und Aussprache, hier leben die verschiedensten Sprachen nebeneinander nach ihren kaum nachvollziehbaren Gesetzen. Unsere Worte sind uns rätselhaft. Ohne nachzuschlagen ist es oft schwer zu erraten, wo sie herkommen und wie, und was sie eigentlich sagen. Das macht sie undurchsichtig, unlesbar – und auf diese Weise magisch. Die deutsche Sprache ist vergleichsweise logisch, eindeutig, transparent – transparent in der Struktur wie in der Herleitung. Zusammenhänge, die bei uns in den Sprachschichten untergehen, sind spürbarer präsent. Sicher käme niemand, ohne nachzuschlagen, auf all das, was im Gedicht steckt. Aber dass etwas drinsteckt, das wird deutlich am Körper des Wortes, an seinen sichtbaren Gliedern mit ihrer latenten Bewegung: Ge- und dichten. Das Wort poem dagegen ist dicht. Verdichtet auf einer Weise, die Fülle kaum ahnen lässt. Man schluckt das Wort, ohne zu kauen. Das Rätsel wird als Rätsel nicht erkannt. Ein Rätsel in fremder Sprache ist nur eine schöne Lautfolge. Paradox: Das Rätsel entfaltet sich erst in der Transparenz, in der Lesbarkeit. ![]() Habe ich diesen ganzen Weg zurückgelegt, nur um festzuhalten:
Gedicht = poem?
Mit dem Wort poem ist unterwegs etwas passiert, wie mit einem Lederschuh an meinem Fuß. Es hat sich ausgedehnt, ist geschmeidiger geworden. Und undicht. Es läuft sich nun darin, wie mit dem Schuh am anderen Fuß, der ihm gleicht und nicht gleicht. Wenn man den Weg zurücklegt. Wenn man den Weg zurücklegt, gibt es auch im Englischen nicht nur Wörter, sondern Worte. Deren Wesen die widersprüchliche Einheit menschlicher Erfahrung ist. Zitate aus: Franz Fühmann, „Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht“, Autorisierte Werkausgabe in 8 Bänden, Bd. 7, Hinstorff-Verlag, Rostock, 1993. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm im Internet. http://dwb.uni-trier.de/de/ Online Etymology Dictionary http://www.etymonline.com/ Abbildungen: Die Überschriften von Franz Fühmanns Notizzettel werden mit der freundlichen Genehmigung der Sammlung Fühmann in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin abgebildet, mit herzlichem Dank an Volker Scharnefsky. Isabel Fargo Cole |