Mirko Bonnés Gedichtzyklus über Tauben, Wespen und Silberfische
ist eine Blaupause der Melancholie.
Von ferne grüßen Caspar David Friedrich und Thomas Kling.
01. November 2008 von Nadja Wünsche
Der Tod ist gründlich und grundlos, wenn es darum geht, die Zeit totzuschlagen,
ehe sie selbst totschlägt, und die Trauer kreuzt als "Schiff aus Tränen"
manches Meer. Und überhaupt: "Was hat dich hierher verschlagen?"
Großen Themen widmet sich der 1965 geborene, in Hamburg lebende Autor
und Übersetzer Mirko Bonné in seinem vierten Lyrikband "Die
Republik der Silberfische". Als Motto stellt er den Gedichten ein Zitat
Gottfried Benns voran: "Ein Tag ohne Tränen ist ein Zufall."
In diesem Sinne folgen die Verse als Blaupausen der Melancholie.
Der Band ist in vier Zyklen gegliedert, deren erster "Souvenirs aus einem
gefrorenen Garten" von einer Heimat erzählt, die den Worten zum Greifen
nahe kommt und doch verloren ist. Denn die Gegenwart löst in Bonnés
Gedichten keine Sehnsüchte ein, sondern Erinnerungen aus, deren Unberührbarkeit
den Versen eingeschrieben ist. Sie bewegen sich zwischen Vergänglichkeit
und Vergangenheit, befragen das eigene Leben nach Vergessenem und versuchen,
es für den Moment in Bildern zurückzurufen: der Kuss der polnischen
Großmutter, das Akkordeonspiel, das dem Lärm der Züge standhält,
und die Geduld zweier Kinder im verschneiten Hamburg, die Zeit haben und kaum
wissen, was das ist. Doch die Distanz des bloß Erinnerten bleibt bestehen.
Neben der latenten Verlorenheit im Blick zurück ist das Verlorengehen selbst
das Thema. Bonné beschreibt, wie Gefühle vergehen, Dinge ihre Gültigkeit
verlieren und sie sich auflösen oder still von einem lyrischen Ich fortgebracht
werden. Ein Sandkasten wird entsorgt, eine abgestorbene Zierkirsche gefällt,
"ich (. . .) trage Stamm und schwarzes Geäst / mit einer Hand aus
dem Garten, so leicht / ist diese Tote", und auch der Goldregen "wirft
das gelbe Handtuch ins Gras", wenn Ende Mai seine Blütezeit zu Ende
geht. Selbst über den Traum wacht die Lakonie der Vergeblichkeit mit einem
bittersüßen "Schlaf weiter!": "So träumte ich,
eingenickt, / von dem gefrorenen Garten, / wo Blumen fehlten und Sterne / und
Tiere in der Stille summten. / Süße, schlaf! Bis sie erfrieren, /
glauben die Bettler vom Terminal / wie die Bienen in der kahlen Platane, / es
gibt die Liebe, solange sie sammeln."
Der zweite Zyklus trägt den Titel "Die Taubenuhr". Wer nicht
per Brieftaube korrespondiert, mag erst herausfinden, dass eine Taubenuhr ursprünglich
der Registrierung der Ankunftszeit einer Taube im Heimatschlag dient. Doch auch
an die von Vögeln besetzten Uhren auf öffentlichen Plätzen ist
zu denken. Die Zeit ist hier das übergreifende Thema: "Als stünde
die Zeit still, weil Tauben / vorm Ärztehaus Sekunden zerpicken",
heißt es. "60 Tauben, 60 Minuten". Doch die Zeit steht nicht
still. Sie lässt das lyrische Ich altern, sich als Nachfahre wahrnehmen
und in Dialog mit einem Gegenüber treten: "lang nicht mehr in deinem
Arm gelegen". Mit der Sonnenuhr findet erneut die Vergänglichkeit
ihr Symbol. Doch die Verse selbst wollen den Weg aus Trauer und Resignation
weisen: "Lass der Schwerkraft ihren Lauf, lauf, / lauf durch den Regen,
nur erzähle . . ."
So wird "Die Taubenuhr" zu einem poetologischen Gebilde über
die Fähigkeit des Dichters, mit Worten das Leid zwar nicht aufhalten, es
jedoch aushalten zu können. Im letzten Gedicht knüpft Bonné
mit der "Sprechimme" an den seit der antiken griechischen Dichtung
Homers und Pindars geläufigen Topos der Dichter als Bienen an. "Wir
sind die Bienen des Unsichtbaren. Nous butinons éperdument le miel du
visible, por l'accumuler dans la grande ruche d'or de l'Invisible. (Inständig
sammeln wir den Honig des Sichtbaren, um ihn anzuhäufen in der großen
goldenen Wabe des Unsichtbaren.)" So schrieb es Rilke an seinen polnischen
Übersetzer Witold Hulewicz. Folgt man diesem Bild, ist es die Aufgabe des
Dichters, das Unbegreifliche des Lebens in sich aufzunehmen und als süßen
Seim in die Wabenform eines Poems zu geben. Dass Bonné mit dem Topos
der Imme bricht und die Wespe an ihrer statt sterben und leben lässt, mag
eine Reminiszenz an den 2005 verstorbenen Thomas Kling sein, dem der Autor zudem
eines seiner Gedichte widmet. Die Wespe ist in Klings Lyrik ein oft berufenes
Emblem. Im Zyklus "Der Erste Weltkrieg" setzt er sie, ähnlich
wie Bonné, ins Verhältnis zur Zeit und der eigenen Zeitlichkeit:
"mit fühlern und mit schwarzen zangen versucht die wespe im / oktober
das schwarze zifferblatt zu knacken; mit gutgeputzten fühlern / gutgeputzten
zangen will sie die zeit, die hinter panzerglas an meinem // handgelenk, einfangen.
die wespe achtet nicht des worts. den träger von / der armbanduhr, den
träger schauerts". Bonné verdichtet die Intensität dieser
Nähe von Summen und Verstummen.
Mit dem dritten Zyklus "Das Postamt am Ende der Welt hat geöffnet"
beginnt eine Reise: Flugstunden führen die Gedichte von deutschen Großstädten
bis in die Antarktis. Doch nicht immer gelingt es Bonné, die Worte jenseits
des Kontexts historischer Daten an die jeweiligen Orte zu binden. Auch die Nennung
der Städte folgt einer beliebigen Reihenfolge, die statt Allgemeingültigkeit
eher Verwirrung stiftet. Nur wenn der Autor die Orte von der Fracht ihrer Geschichte
befreit und einen individuellen Blick auf sie wagt, gewinnen die Verse an Kraft.
Im dunklen Klang russischer Namen tritt die Fremde hervor: "Alle zehntausend
Seen sind grau. / Groß wie ein Meer ist der Onega / und Murmansk einen
Tag entfernt"; die Außenwelt nähert sich dem Reisenden auf ihre
Weise: "Frachtschiffe / fuhren in meinen müden Augen durchs Blau".
Hervorzuheben sind die stillen, unaufdringlichen Gedichte, in denen die Geschichte
des Ortes mit der eigenen verwoben ist. So überblendet "Drei Tage
in Greifswald" die Erzählungen der Großmutter, die "in
die Stadt kam,/ schwach vom Typhus der Lodzer Baracke", mit dem jungen
Caspar David Friedrich, dessen Bruder an gleicher Stelle beim gemeinsamen Schlittschuhlaufen
ertrank. In die Vergangenheit führt eine Linde, die all die Jahre am Ufer
stand und in deren Krone jetzt Männer sägen.
"Die Republik der Silberfische" ist Teil des letzten Zyklus "Gestern,
heute, morgen". Es berichtet von der Gründung des Insektenstaats unter
einer im Bad liegen gebliebenen Scherbe, unter der sich eine Parallelwelt entfaltet:
"Wunderlich, die Verschwiegenheit und Scham / in der Seele der Silberfische".
Mit eigenem Alphabet, Palast, Parkanlage und Vorliebe für die französischen
Maler des Rokoko bringen die Fischchen "ein getreues Abbild von uns / und
von unserem Gestern, Heute, Morgen hervor". Unter die Oberfläche des
Alltäglichen flicht Bonné eine poetische Miniaturrealität,
die die Dinge verrückt und einen neuen, staunenden Blick auf unsere Gewohnheiten
und Gesten erlaubt - der Silberfische: "Bei Licht, zu dem das kleine Radio
angeht, / legst du (. . .) Rouge auf, und sie verharren".
Bonnés Gedichte erzählen vom Leben. Doch erhalten sie ihre Lebensweltlichkeit
oft auf Kosten poetischer Überformtheit, anstatt diese Divergenz in Bilder
aufzulösen. Dieser Balanceakt gelingt nur, wenn das lyrische Ich die Reflexionsebene
verlässt und zum Beobachter wird, der sich behutsam und mit präzisem
Sinn fürs Detail seiner Umgebung annähert, sie an Gefühle bindet.
Nicht die sentenzhaft anmutenden Antworten des Autors, sondern seine Fragen,
die unter der Oberfläche beginnen, hinterlassen Spuren: "Warum so
aufgelöst, / im Dunkeln / nachts, / im Nieseln das Fleet entlang gehe ich
heim, / die ganze Stadt schläft über den Bäumen."
Mirko Bonné: "Die Republik der Silberfische". Gedichte.
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2008. 111 S., geb.,
17,90 [Euro].