Ein Schiff, das versinkt
Glühend leben. Poeme von Marina Zwetajewa in neuen Übersetzungen
Von Zeit zu Zeit wagt einer, was allgemein für unmöglich
erachtet wird, und übersetzt fremdsprachige Versdichtung ins Deutsche.
Das ist gut und muß bemerkt werden. Zumal, wenn damit ein Stück Weltliteratur
der Unbekanntheit entrissen wird und endlich auch in Deutschland Leben erhält.
Es sind kleine Verlage, die jenen Mut zum Risiko aufbringen, den der Suhrkamp
Verlag, der schon einiges von Zwetajewa ediert hat, leider nicht besitzt. So
legt der Göttinger Wallstein Verlag jetzt Zwetajewas poetische Variation
auf das russische Märchen „Der Vampir“ in einer zweisprachigen
Ausgabe vor. „Mólodec“ – d. h. der junge Held –,
beendet 1922 in Prag und 1924 dort veröffentlicht, gehört zu einer
Gruppe längerer Verserzählungen nach russischen Volksmärchen,
die Zwetajewa 1920-22 schrieb: „Das Zaren-Mädchen“, „Auf
rotem Roß“, „Gäßchen“. Sie alle durchbrechen
den traditionellen Handlungsverlauf und offenbaren eine andere seelische Wahrscheinlichkeit
des Geschehens. Hier siegt zuletzt nicht „das Gute“ und Bräutigam
küßt Braut. Hier ergibt sich vielmehr die weibliche Hauptfigur einer
dämonischen Energie, auch wenn diese ihr Leben zerstört. Der einmal
erfahrene Zustand der Ekstase bindet stärker und errettet in visionären
Schlußbildern aus einem stumpfen Leben.
Die ebenso befreiende wie destruktive Energie der Oktoberrevolution –
in der Zwetajewa Stand, Vermögen, Kind und auf 5 Jahre ihren Mann verlor
– brach sich in diesen Poemen in einem neuen Sprachstil die Bahn. Selbst
für Muttersprachler gehören sie zum Schwierigsten, was Zwetajewa geschrieben
hat. Sie verlangen eine völlig andere Lesehaltung: Die knappen Verse von
oft nur zwei Worten oder gar Silben des Erzählers und der handelnden Personen
sind das akustische Stenogramm eines dahinjagenden Geschehens. Die Vorstellungskraft
des Lesers hat sich Rhythmus und Intonation zu überlassen und daraus auf
die dramatischen Situationen rückzuschließen. Dann aber eröffnet
sich ihm ein überwältigend kühnes Bild eines seelischen Zwiespalts.
Die Zeitgenossen reagierten verständnislos ablehnend. Nur eine Rezension
des Literarhistorikers Svjatopolk-Mirskij 1925 in Paris erklärte Zwetajewa
zur bedeutendsten nachrevolutionären Dichterin neben Pasternak.
Die Slawistin Christiane Hauschild legt ihrer Interlinearübersetzung –
ergänzt um das Märchen „Der Vampir“, einen kurzen Kommentar
und ein gutes Nachwort – das Prinzip zugrunde, „den auf die jeweilige
Situation bezogenen Wortsinn bei größtmöglicher Verknappung
wiederzugeben“, ja sogar die russische Reihenfolge der Satzglieder beizubehalten.
Der nach dieser eigentümlichen ‚Texttreue’ entstandene deutsche
Text funktioniert aber für sich alleine nicht. Wem das russische Original
zur Linken unzugänglich bleibt, für den ergeben sich kaum klare Situationsbilder.
Das Dorfmädchen Marussja – die Koseform für Marina assoziiert
rusyj: dunkelblond und Rus’: das alte Rußland – tanzt mit
dem schönen Fremden. Aber wer denkt bei „Es fliegen dralle“
an dicke Zöpfe? Wer sieht bei „Hüpfe höher, / Mit Honig
gesättigte“ die im wilden Tanz sich immer rascher hebende Brust?
Ist „Mähne – schief, / An Atem – rasend“ ein Bild
der Tanzekstase? Wer deutet „Zahn auf Spaten – / Klack“ richtig
für „Beiß’ ins Gras! / Sense!“? Man küßt
auf, nicht „In den Mund!“. Schauder gehen über, nicht „Auf
dem Rücken“ usw. Und wer ahnt 1340 Verse später noch, daß
sich die Beschwörung „Schlafe – hör nicht, M-“ an
die gestorbene Mutter richtet? Die Liturgie beginnt im Namen, nicht „Im
Angesicht der Ungläubigen“. Flügel „plätschern“
nicht, aber schlagen oder rauschen. In der Kirche zerbrechen nicht „Gläser“,
sondern Scheiben. Kurz, was hier vorliegt, ist noch kein für sich bestehender
Lesetext, sondern der erste Schritt dazu: eine Studienausgabe des „Mólodec“.
Ganz anders die zweisprachige Ausgabe von Zwetajewas „Poem vom Ende“
(1924) in der noch viel kleineren Wiener edition per procura. Das Werk entstand
in Prag nach dem Scheitern einer drei Monate währenden Liebe zu dem 28jährigen
Konstantin Rodzewicz, ehemals Offizier der Weißen Garde, später Sowjetagent
und ein Freund von Zwetajewas Mann. Wie aus ihren 2001 in Rußland veröffentlichten
Briefen an Rodzewicz hervorgeht – jenem erschütternden „document
féminin“ vom 22. September 1923 –, war dies die erste, auch
körperlich glücklich erfüllte Beziehung der 31jährigen zu
einem Mann. Dabei war sich Zwetajewa der Spielernatur ihres Geliebten von Anfang
bewußt. Sie war Teil seiner Anziehungskraft: „Das Leben“.
Doch die aus der Perspektive der Frau geschriebene Prager Dichtung führt
weit über das Biographische hinaus in das elementare Drama zwischen Mann
und Frau, Körper und Seele, Leben und Werk.
Schon 1962 hatte Paul Celan einen Vers aus diesem Stück Weltliteratur:
„[In dieser christlichsten aller Welten sind] Die Dichter – Juden!“
als russisches Epigraph seinem Gedicht „Und mit dem Buch aus Tarussa“
vorangestellt. Darin setzt er sich mit Bezug auf Mandelstam, Zwetajewa und Apollinaire
mit dem Thema Exil und ewige Wanderschaft auseinander. Das „Poem vom Ende“
ist das Hohelied einer Liebe, an deren Ende sich Salomo vor den Tränen
der Auseinandergehenden tief verneigt.
Anfangs aber droht der tragische Moment in Banalität und Lüge unterzugehen.
Der Frau fällt es zu, mitten im Kleinbürgermilieu eines abendlichen
Gasthauses vom Ende der Liebe zu sprechen. Der Mann beteuert routiniert noch
ein wenig Leidenschaft, lenkt aber plötzlich ein. Bestürzt von der
Geschicktheit dieses Manövers, muß die Heldin an eine billige Komödie,
ein seelenloses Puppenspiel glauben. In der Übersetzung des jungen Berliner
Slavisten und Dichters Hendrik Jackson (geb. 1971) klingt das so: „ –
Bin ich es, die geht? – Durchschaut: / Wie Harlekin überläßt
er / – Als Danke für ihr Vertraun – / Pierrette, so wie Knochenreste,
// Die Ehre zu gehn. Vorbei. / Ein schmachvolles Vorrecht. Geste / Des Vorhangs.
Ein Spruch. Dann Blei, / Ein Zoll, in die Brust: Wär besser, // Heißer
und reiner. Zähne zusammen- / Beißen! Nicht weinen.“
Das Paar drängt aus der Fremde des Gasthauses den Fluß entlang –
die Moldau als Zeugin und Beweinerin der Liebenden – auf den Spuren ihrer
Liebe ins brüderliche Elend der Vorstadt hinaus. Hier wird aus der Komödie
doch noch Tragödie. Die Verstellung fällt ab: Der Mann weint. Das
heißt, nicht alles war Spiel. Es gab wahren Schmerz, also auch Liebe.
Seine Tränen krönen die Frau. Was bleibt, ist ein Bild gemeinsamen
Untergangs: „Ein Wogen und Steigen – / Und Dunkel – verschlingt
– / Dann spurloses Schweigen – / Ein Schiff, das versinkt.“
Das Poem wurde schon einmal von dem Schweizer Slavisten und Autor Felix Philipp
Ingold (geb. 1942) ins Deutsche übersetzt („Akzente“, 1987).
Leicht überarbeitet nahm er es 1994 in seine Ausgabe einiger Verserzählungen
von Zwetajewa auf. Ingolds Übersetzung hat ihre Meriten, bleibt aber unbefriedigend.
Sie springt von umgangsprachlichen Schnoddrigkeiten („Du hast dir (...)
echt zugetraut“, „Aber der Kaffee war damals wirklich null / –
ne Brühe aus Spreu“, „Stief- ist nicht Mama! / Doch wohin?
Was tun? Hier sind wir am Arsch“) zu Preziositäten („Das höchste
der Lieder / Gibt uns Genuß“, „Das Lied – unser Leid“,
„Die Br-Brücke. Schluß“, “Nur Hi-Himmel und Flut“
usw). Beides ist Zwetajewa fremd und läßt kein klares Bild entstehen.
Jackson dagegen bleibt mit kontinuierlichem Ernst um die Situationsabfolge bemüht.
Und sie gelingt, trotz kleiner Mißverständnisse. Ihm gelingt die
Vehemenz der drei großen antithetischen Definitionsreihen Zwetajewas von
Liebe, Trennung und verfehltem Leben. Vor allem aber gelingt die Übertragung
des zentralen Themas in diesem Poem: Die Seele ist in der Liebe Körper
geworden. Sie ist eins geworden mit dem Körper des Anderen und weiß
nicht mehr, wie sie sich daraus in die Vereinzelung zurücknehmen soll.
„Schau doch: Mein Leben, Dir eingenäht, / Nächtlich, mit einem
Faden.“ Die Ausgegrenztheit der Seele aus dem Leben, der einfachen irdischen
Glückseligkeit der Körper, setzte Zwetajewa in Entsprechung zur depravierten
Außenseiterexistenz des Dichters in der Nachkriegswelt der Exilanten.
Wörtlich: „Leben – ein Ort, wo leben unmöglich: / Judenviertel…
// Wäre es nicht hundertmal würdiger, / Ewiger Jude zu werden? / Denn
für jeden, der kein Abschaum, / Ist Leben – ein Juden- / Pogrom.“
In einer zweiten, weitaus elenderen Nachkriegszeit spürte Celan in diesen
Versen so etwas wie seelische Heimat.
Man mag Zwetajewas Liebesdrama von 1924 „unpolitisch“ nennen. Tatsächlich
zeigt es die Einsamkeit dessen, was sich auch in der Moderne noch „Seele“
nennt – Liebende, Dichter – als eine geschichtlich vermittelte.
Marie-Luise Bott
Marina Cvetaeva: Mólodec. Ein Märchen. Hrsg. und übersetzt
von Christiane Hauschild, Wallstein, Göttingen 2004, 188 S., 15 EUR
Marina Zwetajewa: Poem vom Ende. Neujahrsbrief. Russisch/Deutsch. Aus dem Russischen
und mit einem Nachwort versehen von Hendrik Jackson, 2. Auflage, edition per
procura, Wien 2003, 133 S., 12 EUR
M. Zwetajewa: Gruß vom Meer. Gedichte. Aus dem Russ. von Felix Philipp
Ingold, Hanser, München 1994, 121 S., 13,90 EUR
zuerst erschienen in freitag Nr.10, 11.3.2005
vergleiche hierzu auch die Rezension von Olga
Martynova aus dem tagesspiegel vom 29.6.03