-- Freiwillige Abstürze in die poetische Unterkomplexität: «74
Stimmen» vereinigen sich zum misstönenden Konzert einer «Lyrik
von JETZT» --
Wenn der Dichter im Tiefkühlfach die Biere explodieren lässt
Uralte Echos wehen da heran, undeutliche Töne des Aufbegehrens, Zitate aus
einem sehr fernen Säkulum. Es sind Echos, Töne und Zitate von Rolf Dieter
Brinkmann, dem wilden Poeten aus Vechta/Niedersachsen, der bis heute die anarchische
Vorbildfigur für viele eigensinnige Jungdichter geblieben ist. Als die erlebnissüchtigen
Alltagslyriker der «Neuen Subjektivität» vor zwanzig Jahren von
der Bühne der Poesie abtraten, begann auch der Heroen-Glanz des lyrischen
Solitärs Brinkmann zu verblassen. Seine Wiedergänger belagern nun die
allerjüngste Versammlung einer neuen Dichter-Generation, die sich unter dem
grammatisch eher zweifelhaften Titel «Lyrik von JETZT» ihr anthologisches
Manifest gegeben hat.
Natürlich ist diese neue Generation nicht so naiv, sich gänzlich dem
Traditionszertrümmerer Brinkmann hinzugeben. Was sich da mit sehr eigenen
Wahrnehmungsweisen und Abweichwinkeln in dieser Anthologie tummelt, bewegt sich
durch die unterschiedlichsten lyrischen Galaxien: von Mandelstam bis Brinkmann,
von Rilke bis Rühmkorf, von Leonard Cohen bis Jimi Hendrix - und weit darüber
hinaus. Aber trotz der varietätenreichen Artikulationsformen verblüfft
doch die Bewunderungsbereitschaft, mit der Rebellen-Posen der Altvorderen gecovert
werden.
---Wieder steht ein Realismus rum ---
Bei mindestens vier der insgesamt 74 Autoren (Jan Volker Röhnert, Crauss,
Björn Kuhligk, Tom Schulz) ist Brinkmann die überlebensgrosse Figur,
die mittels stilistischer Mimesis und peinlich devoter Reminiszenzen angerufen
wird. Und hätten sich die lyrischen Erbschaftsanwärter Brinkmanns nicht
jedes allgemeingültige Bekenntnis verboten - sie könnten von dem radikalen
Anti-Traditionalismus ihres Vorbilds durchaus profitieren. Denn der Aufbruchs-Behauptung
dieser neuen Anthologie liesse sich als Motto eine lässige Sentenz Brinkmanns
aus dem Band «Westwärts» implantieren: «Ein neuer Realismus
entstand, er stand rum.» Denn es ist - schon wieder - ein «neuer Realismus»,
ein sehr alter Bekannter also, der sich da in sehr vielen Texten der Anthologie
breit macht.
Dieser Realismus ist bislang relativ erfolgreich als jüngste Metamorphose
einer Berliner Grossstadtpoesie herumgereicht worden, ohne dass er über wirklich
neue sprachdynamisierende Elemente verfügte. Es kennzeichnet die trübe
Sprachrealität dieser Gedichte, dass die Realien des Alltags schon für
Poesie genommen werden und sich eine hemmungslose Sentimentalität Bahn bricht.
--- Ihre Zahnbürste in seinem Bad ---
«Lass besser im Tiefkühlfach die Biere explodieren», empfiehlt
etwa Björn Kuhligk, «wenn du den Bezirken zusiehst / wie sie wachsen,
/ verkommt auch der Wodka / weisst du, die Strassen, sie kommen / alle aus demselben
Mutterleib / aus einem Sonntag-Nachmittag-Spielfilm / und drüber dieser Richard-Wagner-Himmel
/ in dem ich alles zu sagen weiss / wenn ich die Hände an der Haut / der
Liebe hab / es gibt hier/ keine Küstenstrassen.» Das ist, in seiner
rührenden Unmittelbarkeits-Gestik und der schmeichelnden Du-Anrede, ein Aufguss
des alten Gefühligkeits-Kitsches eines Wolf Wondratschek oder Jörg Fauser.
Diese Realismus-Posen sind beängstigend zahlreich in der Anthologie vertreten,
selbst dürftigste Elaborate einer hilflosen Beziehungskisten-Poesie haben
die Herausgeber in ihrer unerschütterlichen Grosszügigkeit aufgenommen.
Kersten Flenter bedichtet in furchtloser Schlichtheit das Einmaleins der Liebe:
«Wir verbringen schon lange / Zeit / Miteinander reden / Sitzen im Café
/ Oder vögeln / Dann eines Abends / Danach / Bemerke ich / Deine Zahnbürste
in meinem Bad...» - solche unbedarften Notate hat der strenge Lyrik-Leser
Peter Wapnewski vor vielen Jahren schon treffend «Tagebuch im Stammel-Look»
genannt.
Leider haben sich solche freiwilligen Abstürze in die lyrische Unterkomplexität
als poetischer Normalfall in der «Lyrik von JETZT» etabliert. Wenn
man einmal bei schönen Entdeckungen aufatmen will, etwa bei den mythengetränkten
Geschichtserkundungen des grossartigen Uwe Tellkamp oder bei den bildertrunkenen
Exaltationen des hoch begabten Hendrik Jackson, wird man umgehend wieder böse
frustriert durch ranzig gewordene Sprachgesten verspäteter Beat-Dichter oder
vollmundiger Slam-Poeten.
In rührender Naivität hat die Kritik schon vor dem Erscheinen dieser
Anthologie das Marketing-Signal aus dem DuMont Verlag aufgenommen und die pathetische
Formel von einer «neuen Generation» umstandslos nachgeplappert. Dabei
ist gerade dieses Insistieren auf der Existenz einer neuen «Generation»
das Hauptärgernis dieser Gedichtsammlung. Denn es gibt keinerlei soziologische
oder ästhetische Merkmale, die in der Gemengelage der «Lyrik von JETZT»
die Rede von einer «Generation» rechtfertigten, einzig das biologische
Faktum, dass die beteiligten Autoren nach 1965 geboren sind.
--- Und sie haben sich doch bewegt ---
Die Willkürlichkeit dieser biografischen Grenzziehung ist dabei nicht das
zentrale Problem, obwohl ihr exzellente Autoren wie Michael Lentz oder Ulf Stolterfoht
zum Opfer fallen, weil sie gerade mal ein bzw. zwei Jährchen älter sind.
Die Fokussierung auf das Jahr 1965 hat immerhin eine verborgene literaturgeschichtliche
Pointe. In diesem Jahr erschienen nicht nur Walter Höllerers bahnbrechende
«Thesen zum langen Gedicht», sondern auch die ersten Hefte des «Kursbuchs»,
welche die Politisierung der Studentenbewegung ungemein beschleunigten. Nicht
zufällig setzt auch eine bedeutende lyrikgeschichtliche Studie von Jürgen
Theobaldy und Gustav Zürcher («Veränderung der Lyrik», München
1977) als lyrikgeschichtliche Markierung das Jahr 1965: «Über westdeutsche
Gedichte nach 1965». Auch in der «Generations»-Debatte hat eine
Textsammlung von Jürgen Theobaldy die entscheidenden Zeichen gesetzt, nämlich
1977 in der Anthologie «Und ich bewege mich doch...». Hier artikulierten
sich die von der Studentenrevolte geprägten Dichter, die in trotziger Selbstbehauptung
das Recht auf die Selbstwahrnehmung des Ich deklarierten.
--- Ein ästhetisch taubes Dokument ---
In der «Lyrik von JETZT» wird überhaupt nichts mehr verkündet
oder deklariert, denn es gibt kein lyrisches Kollektivsubjekt mehr, dem ein gemeinsamer
Artikulationswille unterstellt werden könnte. Es ist eine Anthologie, die
aus einem Juvenilitäts-Bonus ästhetische Distinktionsgewinne schöpfen
will. Poetologisch hat diese Gedichtsammlung schon vorab kapituliert. Björn
Kuhligk und Jan Wagner, die Herausgeber der «Lyrik von JETZT», haben
sich von jedweder Differenzierungsanstrengung dispensiert und lassen sich lediglich
im Vorwort von Gerhard Falkner ihre Entschlossenheit zu einer «dokumentarischen
Anthologie» attestieren.
Tatsächlich haben Kuhligk und Wagner das weite Feld der jungen Lyrik in seiner
ganzen Ausdehnung durchschritten. Die 74 Stimmen, die sie eingesammelt haben,
repräsentieren - in quantitativer Hinsicht - durchaus den poetischen Orientierungsrahmen
der jungen Lyrik-Szene, dessen Konturen bislang nur in den Zeitschriften der Szene,
intelligenten Periodika wie «Edit», «intendenzen» oder
«Die Aussenseite des Elementes» sichtbar geworden sind. Aber was ist
das doch für ein ästhetisch taubes Ding, diese «dokumentarische
Anthologie»! Wer nur «dokumentiert», der sieht ab von stilistischen
und qualitativen Differenzen, der verlässt sich auf positivistischen Sammelfleiss,
ohne dem Stimmen-Konzert eine lyrische Kontur zu geben. Der stellt biedere Stilübungen
neben avanciertes Sprechen, gibt sich mit dem Bündnis von Mittelmass und
Einzigartigkeit, von Epigonalität und Avantgarde zufrieden. Wer jedem Autor
unterschiedslos vier «Sprachfenster» zugesteht, der sorgt für
die rigide Nivellierung der himmelweiten Rangunterschiede.
--- Zwei Dutzend Solitäre ---
Die Nivellierungswut geht so weit, dass gerade von den besseren Autoren - etwa
vom österreichischen Sprach-Verballhorner Franzobel oder von der mit schönen
syntaktischen und semantischen Verschiebungen arbeitenden Anja Utler, teilweise
auch von Hendrik Jackson - nur sehr konventionelle, mitunter biedere Exempel ausgewählt
worden sind, um auch hier noch eine Qualitätsbereinigung nach unten durchzuführen.
Das Ergebnis ist ein lyrischer Gemischtwarenladen, in dem man die wirklich singulären
Dichter mit der Lupe suchen muss.
Von den «74 Stimmen» sind - bei grosszügiger Betrachtung - gerade
mal zwei Dutzend als lyrisch eigenständige Dichter ernst zu nehmen, der übergrosse
Rest geht den Weg des geringsten ästhetischen Widerstands. Aber wer mit ein
wenig Geduld die «Lyrik von JETZT» studiert, wird auch auf die originären
Sageweisen, die kühnen Artikulationen jener Dichter stossen, die wirklich
Aufmerksamkeit verdienen.
Da sind die Wahrnehmungs-Exerzitien eines Nico Bleutge, optische Feineinstellungen
als Vorschule eines neuen Sehens; da sind die intensiven, ganz auf das Rätsel
der Physis konzentrierten Körperbilder Silke Andrea Schuemmers; da sind die
überwältigenden mystischen Schöpfungsgeschichten Christian Lehnerts
oder die kalten Stillleben der Liebe von Marion Poschmann. Da trifft die lyrische
Mentalitätshistorikerin Sabine Scho, die mit schroffen Montagen die vom Faschismus
kontaminierte Sprachlandschaft der Adenauer-Zeit durchquert, auf den Anti-Idylliker
Hauke Hückstädt, einen Spezialisten für die ironische Unterminierung
von Genrebildern und Alltagsszenen. So wird man doch ein wenig entschädigt
für die beträchtliche Anzahl lyrischer Totalausfälle, die sich
in dieser Bestandsaufnahme des lyrischen Jetzt-Zustands eingefunden haben.
--- Entwutschendes Schwimmviech ---
Wer aber nach den vielen grausamen Ernüchterungen dieser Anthologie noch
immer nach einem gemeinsamen Merkmal der neuen Lyriker-«Generation»
fragt, sei auf die Ungreifbarkeiten in Dirk von Petersdorffs Diskurs-Analyse verwiesen:
«Am Grund der Diskurse ein Fisch, ein / Fisch, der nicht zu fassen ist,
es ist / ein Fisch, am Grund der Diskurse / schwimmt ein Fisch, nicht zu fassen,
/ am Grund ein Fisch, der schwimmt, am / Grund der Diskurse schwimmt ein Fisch,
/ ein Fisch, der nicht zu fassen ist.»
Michael Braun
Björn Kuhligk/Jan Wagner (Hg.): «Lyrik von JETZT». 74 Stimmen
mit einem Vorwort von Gerhard Falkner. DuMont, Köln. 422 S., Fr. 27.90.
© Basler Zeitung; 25.07.2003; Seite 32