Sing die Großstadt

An den Lagerfeuern von Berlin: Gerhard Falkner unternimmt eine dichterische Expedition

Nichts ist diesem Dichter verhasster als jener Kulturgehorsam, mit dem man sich in Deutschland für den Karrieresprung zum „Götterliebling“ ausstattet. Gerhard Falkners Schönheitsverlangen braucht die schroffe Abgrenzung gegenüber den jeweils dominanten Tonlagen des lyrischen Betriebs. Oder die kunstvolle Irreführung, wie er sie neulich in der Poetik-Anthologie „Die Hölderlin-Ameisen“ zelebriert hat. Dort jonglierte Falkner, 1951 in Schwabach geboren und heute im Fränkischen und in Berlin zu Hause, mit mythologischen Materialien als den vermeintlichen Ingredienzien seines Gedichts „Vielversprechend versprochene Kiesel“ – um dann preiszugeben, dass seine Interpretation nur eine Luftnummer war, ein Bluff zur „Aufpolsterung“ der poetischen Textur.

Trotz einer ausgeprägten Neigung zur ironischen Imprägnierung seiner Stoffe fühlt sich Falkner einer „Rehabilitation des Schönen“ verpflichtet. In seinen ersten drei Gedichtbänden hatte er die flau gewordene Subjektivitätspoesie der Alltagsrealisten und das „verausgabte“ experimentelle Gedicht im Visier.
Angeödet von einem gedichtblinden Literaturbetrieb, zog er sich nach seinem dritten Band „wemut“ (1989) an die Westküste der USA zurück. Sein Schweigegelübde vermochte er indes nur einige Jahre einzuhalten. Kurt Drawert hat Falkner einen „Minnesänger der Moderne“ genannt – weil dieser Dichter beharrlich die Anschlussfähigkeit der Dichtung an die Bewusstseinsherausforderungen einer medial präformierten Gegenwart herzustellen sucht. Zuletzt agierte Falkner als Mentor der ruppig diskutierten Anthologie „Lyrik von Jetzt“, in der die Generation der Dreißigjährigen ihr urbanes Lebensgefühl kundtat, dabei mitunter aber in den Bildbeständen eines schal gewordenen Realismus kramte.

In seinem jüngstem Gedichtband, den er in einer frühen Fassung bereits 2003 in der Berliner Literaturwerkstatt vorstellte, hat sich Falkner an eine neue Kühnheit gewagt: an die Rekonstruktion des modernen Großstadtpoems, das mit einem „starken, aufgestockten Deutsch“ neu belebt werden soll. Das Langgedicht „Gegensprechstadt – ground zero“ ist zugleich Großstadtgesang, politische Rhapsodik nach den Erschütterungen des 11. September und Requiem auf eine verlorene Liebe. Das lyrische Subjekt gleicht hier jenem schlaflosen Dauergast im „Hotel Insomnia“, das schon Charles Simic als Fabrikationsstätte moderner lyrischer Fantasie beschrieben hat. „Ich habe zu wenig geschlafen / in diesem Jahrhundert!“: Dieser Refrain bildet den Auftakt zu einem nervösen Spaziergang entlang der Bewusstseinsreize und Mode-Zeichen des zu Ende gegangenen „Jahrhunderts der Gegenwart“. Der 11. September wird ebenso herbeizitiert wie eine Unzahl kultureller Codes: Das „E-Mail-Konto von Yahoo“ , ein „gelb kariertes Van-Laack-Hemd“ oder „die Scheibe von Lou Reed“ werden mit derselben Aufmerksamkeit bedacht wie der Angriff auf die Twin Towers. Diese zerstreuten Inspektionen eines Großstadt-Subjekts werden auf der beigefügten CD flankiert von den stimmlichen und perkussiven Suggestionen des Avantgarde-Musikers David Moss.

Das lyrische Ich, das „zwanzig Jahre an den Lagerfeuern von Berlin“ verbracht hat, registriert die Gegenwarts-Versessenheit der Metropole, in der jeden Tag neue Utopien geboren werden und „die Gesterns – nichts als Späne (sind), / die vom Heute flogen“. Falkner verfährt fast durchweg erzählerisch, adaptiert von seinen Bezugsfiguren Walt Whitman, Charles Olson und Allen Ginsberg den offenen Vers. Die paradoxe Sprachfigur, die Verballhornung und die kühne Metapher sind ihm dabei genauso nah wie das kitschige Bild. Die Kollisionen zwischen Neo-Romantik und Banalität fallen mitunter heftig aus: „die unstillbare Liebe / das ist der poetische GAU / Hölderlin hat das nur anders ausgedrückt...“

Der Textteil und der Anmerkungsapparat stehen in diesem Buch in einem seltsamen Gegensatz-Verhältnis. Je verhaltener der Ton der lyrischen Rede, desto ausladender wird der Dechiffrierehrgeiz in eigener Sache, den Falkner in seinem zwanzigseitigen Kommentar an den Tag legt. In seinem universalpoetischen Kategorien-Furor kann Falkner sehr geistreich, aber auch sehr umständlich sein. In seinem Gedicht gibt es entzückende, aber auch sehr verquaste Partien. Aber wie sagte schon Walter Höllerer vom langen Gedicht: Es „gibt eher Banalitäten zu, macht Lust auf weiteren Atem. Ich spiele mit dem, was ich gelernt habe.“

Michael Braun

 

Tagesspiegel vom 6.5.2005

Gerhard Falkner: Gegensprechstadt – ground zero. Gedicht & CD. Musik von David Moss. Kookbooks Verlag, Idstein 2005. 96 Seiten, 24,80€.