Wenn der Planet friert
Der Dichter Rolf Haufs wird 70

Auf der lyrischen Agenda dieses Dichters ist fast jeder Tag als ein „Aufhängetag“ verzeichnet. Abgestürzte Engel und heillose Menschenwesen bevölkern seine Gedichte, als Kuriere des Unheils haben sie die Vertreibung aus dem Paradies erlitten und hoffen nun vergeblich auf Asyl. Gewiss ist: Keiner spielt das „heilige Spiel Melancholie“ in der deutschsprachigen Gegenwartslyrik so ausdauernd und so virtuos wie Rolf Haufs. In den Gedichten dieses schwarzen Idyllikers riecht die Welt nach Sterben, die Erde ist „ausgehoben für größere Untergänge“. In „Juniabschied“, seinem vielleicht grossartigsten Gedichtband von 1984, findet sich bei dem Dichter der grimmigen Lakonie ganz unerwartet ein „Lied“ in klassischen Reimen. Die Zerrissenheit ist hier in schlichteste Verse gefasst und tönt doch in anrührender Intensität: „Mein Leben ist in Stücke ich will / auch keine Ruh / ihr könnt zu Ende stechen / ich werde mich nicht rächen / was immer ich jetzt tu...“ Der Gesang des Unglücks, den dieser Dichter in fast tonloser Beiläufigkeit anstimmt, ist stets grundiert mit sarkastischem Humor.
Dieser Humor kommt aus Berlin, wohin der in Düsseldorf geborene und am Niederrhein aufgewachsene Haufs bereits 1960 aufgebrochen war. Dort wohnte er einige Jahre im Niemandsland, wovon das frühe Gedicht „Steinstücken“ handelt: Hier porträtiert sich Haufs als Eingeschlossener in dem winzigen Dorf Steinstücken, einer auf DDR-Gebiet gelegenen westlichen Exklave, die von den Grenzbefestigungen des östlichen Polizeistaates fast hermetisch abgeriegelt war. Haufs wurde Redakteur beim Sender Freies Berlin, zog als ein Genie der Freundschaft mit seinen Dichterfreunden durch Berlin, seine Gedichte wurden jedoch immer düsterer.
In einer klugen Reminiszenz an Haufs´ ersten Gedichtband „Strasse nach Kohlhasenbrück“ (1962) hat Michael Krüger einmal die genaueste Beschreibung der frühen Gedichte geliefert: Es sind Versuche, einer existenziellen Umklammerung zu entkommen und „sich einer klaustrophobischen Situation zu entziehen“. Bereits diese frühen Gedichte von Rolf Haufs lesen sich wie ebenso trotzig-übermütige wie todesverfallene Beiträge zur Kulturgeschichte der Melancholie. In späteren Bänden wie „Felderland“ (1986) oder „Vorabend“ (1994) wirft ein schwermütiger Hieronymus im Gehäus in seiner Einsiedelei letzte Blicke auf das Dasein. Zum Grundmotiv wird die unaufhaltsam verrinnende Lebens-Zeit, deren bedrückende Macht nur im Augenblick des Schreibens einen Moment lang ausser Kraft gesetzt werden kann. Penibel vermisst der Melancholiker „die Geschwindigkeit eines einzigen Tages“, so im Titelgedicht eines Bandes von 1976, um am Ende mit dem immergleichen Vanitas-Gefühl und dem Schrecken vor der Leere dazustehen.
Seither hat Rolf Haufs diese Todesmelodie mit der ihm eigentümlichen heiteren Schreckenskomik fortgeschrieben: „Wenn alle gestorben sind / Schwellen die Füsse an / Der eine blau der andre / Eine Reklame für Seeteufel“. Der Melancholie ist aber immer auch ein wilder Übermut beigesellt, der den Diagnostiker der Leere aus der Seelenlähmung herausreisst. Auf das Ausweglose seines Daseins reagiert dieser Dichter eben nicht nur mit den dunklen Tönen der Schwermut, sondern auch mit kühler Beiläufigkeit. Die poetische Notwehr wird sogar karikiert, erscheint als lächerliche Verteidigung eines „Reviers“.
So kommt es in diesem Gedicht zur seltsamen Verbrüderung von Komik und Verzweiflung: „Auf allen Vieren flüchten wir und / Heben das Bein. Das ist unser Revier / Der Planet friert. Still! Sagen die Stimmen / Still!“ An diesem letzten Tag des Jahres wird Rolf Haufs, der akribische lyrische Beobachter der Untergänge des Menschengeschlechts, 70 Jahre alt.


Michael Braun

zuerst erschienen in der NZZ vom 31.12.05