Der Windfluß der Poesie
„Wilde Nelken“: Jürgen Theobaldys mystische Weltempfindung
Am Anfang aller Poesie, so glaubte einst der spätmittelalterliche japanische
Dichter Matsuo Basho, steht das Wort „Windfluss“, japanisch „furyu“.
Basho war ein Dichter, der seine Weltempfindung in Sekundengedichte übersetzte,
in knappe, schwebende, offene Notationen, die von ebenso einfachen wie intensiven
Sinneseindrücken ausgehen. Für diesen Zen-Mystiker erscheint die Windbewegung,
wie sie Blätter, Gräser und Zweige zum Schwirren oder Rieseln bringt,
als eine Urszene des Lyrischen.
Von solchen Urszenen der Weltempfindung handeln auch die neuen Gedichte des
Dichters Jürgen Theobaldy. Auch bei ihm setzt der Windfluss den Vers des
Dichters in Bewegung: „Ein kahles Feld vor meinem Fenster liegt. /
Wie haben sich dort schwere Weizenähren / im Sommerwind noch hin und her
gewiegt!“
Jürgen Theobaldy, 1944 in Straßburg geboren, aufgewachsen in Mannheim,
und im politisch bewegten Berlin in den 1970er Jahren zum Herold einer Dichtung
der „Neuen Subjektivität“ aufgestiegen, hat in seinen frühen
Jahren das Gedicht „ins Handgemenge“ führen wollen, hinein
in die turbulenten Kämpfe dieser Zeit. Nun sind es eher die stillen Bilder
und zarten Glücksversprechen eines Sinneseindrucks, einer kleinen Naturbeobachtung,
die ihn beschäftigen. Diese Gedichte riskieren viel in ihrem Minimalismus
der Mittel. Denn gerade poetische Miniaturen wie das Haiku stürzen ja oft
ab in Kurzatmigkeit und schiere Simplizität. Aber Theobaldy hat viel gelernt
von den Virtuosen des Haiku und des Senryu, von Basho und seinen zen-buddhistischen
Introspektionen. Seine kleinen Meditationen der Selbstvergewisserung komponiert
er in „Wilde Nelken“ zu einem lyrisches Stundenbuch der Jahreszeiten
und Liebeserklärungen.
Dem lyrischen Ich genügt der Blick aus dem Zugfenster, der winzige Käfer
am Wegrand oder das „frühe Leuchten“ der „jadeweißen
Zweige“ des Pflaumenbaums“, um den intensiven Erfahrungsmoment in
eine Metaphysik der Diesseitigkeit zu verwandeln. Selten sind in der zeitgenössischen
Dichtung so lebenszugewandte, so daseinsverliebte und so unzergrübelte
Gedichte geschrieben worden. Ob das Subjekt sich eines ekstatischen Naturmoments
vergewissert oder in nachgetragener Liebe der toten Eltern gedenkt – fast
immer proklamiert, wie im Gedicht „In der Mittagssonne“, ein „Herr
Zuversicht“ das uneingeschränkte Ja zum Dasein. Den Fallstricken
der Banalität kann der Sekundendichter nicht immer entgehen. Aber von seinen
„späten Bildern“ und „mittleren Tempi“ lässt
man sich gerne inspirieren, besonders in jenen Momenten, wenn das Ich daran
geht, die eigene begrenzte Lebensstrecke zu vermessen: „Der letzte
Omnibus fährt leer zurück. / Den Akt der Liebe kannst du nicht verfilmen.
/ Die späten Bilder nimmst du mit dir mit. / Wie oft hat sich ein Wort
nicht sagen lassen! / Die letzten Fragen, liebe Eltern, sind zu schwer.“
Michael Braun
zuerst erschienen in der Rheinpfalz vom 23.12.05
Jürgen Theobaldy: Wilde Nelken. Gedichte. ZuKlampen Verlag, 2005