Ein Loch im Brötchen

Sieben Gedichtbände nocheinmal geraucht


Neulich ein Fund, der mir ein paar süchtige Abende bescherte: die Beat Hotel Anekdoten von Harold Norse sind nach über 10 Auflagen immernoch im Maro Verlag erhältlich und legen neben den psychedelischen cut ups von Norse mit dem Vorwort von Carl Weissner eine der kompaktesten und informativsten Einführungen in die Beat Generation und deren pariser Zuhause, das Beat Hotel vor: „Zu dem Zeitpunkt, als Harold Norse das Zimmer 9 bezog, konnte die alte Madame Rachou mit Zufriedenheit auf die ausgefallenste Gästeliste seit Bestehen des Hotels verweisen. zum beispiel Melo, der einsneunzig grosse Neger aus frz. Guyana. Er war ein Genie im Aufreissen von neurotischen Blondinen; ausserdem nervte er jeden, der ihm über den Weg lief, mit detaillierten schilderungen der Initiationsriten seines Stammes: ‚Da schmieren dir die dicken Mamas heisses Cantari auf den Schwengel, und da bleibt der drei Tage lang steif’ usw.“ Dazu freie liebe von 2Raumwohnung, schräge Platten von Simon & Garfunkel, ein Tütchen, Lavalampe — fertig ist die täuschend echte Rekonstruktion eines 60er-Jahre-Gefühls.
In ähnlicher Stimmung ist auch bitteschön Milch Holz Katzen von Paul Brodowsky einzunehmen. Brodowsky ist Herausgeber der literaturzeitschrift bella triste und legte 2002 eine erste eigene Veröffentlichung vor: introvertierte, entrückte Weltansichten, den Blick genauestens auf das bedrohliche Detail gerichtet — meine Lavalampe, als ich mich dem Bändchen einmal wieder widmete, erzeugte Spuk-Gesichte: Denn die Miniaturen, meist kaum eine Seite lang, entspringen einer Paranoia vor Löchern, Unebenheiten, Spalten und allem, was darin Lebendiges nisten, knabbern und auf den Erzähler überspringen könnte. „In meiner Wand gibt es jetzt ein Loch. Es muss ein Durchbruch sein, aufgestemmt, die Ziegel noch schrotig. Gelegentlich falle ich hinaus. Dahinter scheint kein Tageslicht, aber es ist hell vom Lehm.“ Der Erzähler ist, durch zuviel Alleinsein, auf eine höchst poetische Weise meschugge, monologisiert über Laubfrösche, Holzwürmer und Kekskrümel und deren beängstigendes Eigenleben. Hört die Flöhe husten und das Gras wachsen, versucht, Verbindungen zu schaffen, Überbrückungen der Spalten und Löcher: Auf Stegen ist wackliges Gehen, die Bretter reichen nicht bis zur nächsten Strassenecke aus, das Wachs in den Ohren (gegen die Geräusche von Kleinstlebewesen) verstärken bloss das Rauschen im Kopf.
Ich war, genau wie beim ersten Lesen, ergriffen, wie Brodowsky dem verschrobenen Kerlchen mit jeder neuen Halbsatzwendung die Wirklichkeit entzieht. Dabei haben die Textlein keine zwingende Reihenfolge, sondern ergeben gerade durch den mosaikalen Charakter ein Ganzes — einmal abgesehen von den in korrekter Serie gesetzten „Einar“-Episoden, von denen man sich unbedingt mehr gewünscht hätte: „Jemand lebt in den Kartoffelfurchen. Ich will ihn Einar nennen, das klingt leise, aber krautig genug. Ich hätte ihn auch Dorrning rufen können, aber ich glaube kaum, dass er Latzhosen trägt. Immer wenn ich komme, ist Einar schon fort, er schläft selten.“ und Einar lädt zum Tee: „Auf der Anrichte liegen Kekskrümel, das deutet auf Feller hin, ein denkbarer Besucher, ich kenne ihn flüchtig. ich stelle mir vor, wie Feller hinter dem Kühlschrank steht und Butterkekse knabbert.“ Dann ist Einar geflohen: „Ich sitze im Zug. Gut möglich, dass er sich in meiner Nähe aufhält. Er könnte auf der Oberleitung hocken oder sich in eine Radnabe gefressen haben. Heute beim Frühstück hatte ich ein Loch im Brötchen...“

Neue Heiterkeit


Wir lagen träumend im Gras, die Köpfe voll verrückter Ideen: so machen ein paar Jugendliche sich den Abend schön. Es gibt keine Disko, keine Szene-Kneipe, aber es gibt einen Dorfanger und vielleicht noch ein bisschen Gras aus Holland, Anfang der politisch bewegten 80er. Hauke Hückstädt kommt in seinem ersten Gedichtband Neue Heiterkeit zur Sache, das schlichte Büchlein ist ein guter Kif, und in etwa die „Alternative Version“ zu Marcel Beyers Erdkunde. Dort wie hier werden ruhige, hügelige Landschaften erfasst; Landschaften, die nicht durch eine übergeordnete Natur, eine Allmacht bestimmt werden, sondern Kontur durch in ihr sich erinnernde Individualwesen gewinnen. Dort wie hier verstärkt sich die Stimmung bei fortgesetztem Genuss. „Melancholische Additionen“ hat Hückstädt einmal ein Feuilleton in der FR überschrieben, und genau das ist seine Neue Heiterkeit. Selten bricht das Ich in Euphorie aus, eher scheinen diese mit der Kargheit des europäischen und deutschen Ostens umgehenden Doku-Poeme wehmütig: an verlassenen Plätzen, russischen Laubhütten, vergilbten Postkarten wird nicht die Vergangenheit vermisst, sondern die Erinnerung an Vergangenheit zelebriert.
Hückstädt entwirft ein sepiatristes Plattenbaupanorama, das Gerd Ruge im sibirischen Hinterland oder Marcel Beyer an einem moskauer Bahnhof nicht prägnanter hätten einfangen können. Postkartengedichte mit einer „ostelbischen Briefmarke“, nur dass wir vergessen haben, wie die geheime Botschaft lautet, wenn die Marke ein wenig schräg aufgeklebt ist: „Ich komme wieder“, oder „schönen Gruss, es war ’ne gute Zeit mit uns zweien“!? Dieser band gehört, wenn überhaupt, weit nach vorn ins Bücherregal. Am besten aber gleich auf die Hand. Denn kiffen macht ja bekanntlich hungrig...

Lagebesprechung

Man muss sich nicht immer wieder neu darüber aufregen, dass gerade in der Rede über Lyriker das Adjektiv jung in seiner Bedeutung enorm ausgeweitet, ja, verkaufsträchtig missbraucht wird. Man darf aber. Da werden in der von Kurt Drawert herausgegebenen Anthologie Lagebesprechung arrivierte Literaten wie Brigitte Oleschinski (*1955), Joachim Sartorius (*1946) oder Michael Krüger (*1943) plötzlich noch in ihrer — zumindest dichterischen — Entwicklung begriffen, quasi zu begabten Anfängern. Immer wieder, in jeder neuen Auswahlpublikation. Der Mensch entwickelt sich weiter. Aber es scheint doch ein bisschen übertrieben zu behaupten, Leute, die längst einen eigenen Stil etabliert oder diesen bereits vor Jahren wieder verloren haben, als Nachwuchstalente zu kategorisieren. Neben den Erwähnten sind Peter Waterhouse, Robert Schindel, Thomas Rosenlöcher, Uwe Kolbe, Kling und Falkner doch seit langem angeschaut und eingestuft, auch, wenn man in Westdeutschland etwa immernoch einen gewissen Nachholbedarf hat, was das Bewusstsein in Bezug auf DDR-Lyriker und DDR-Autoren im Allgemeinen angeht.
„Dass es keinen schreibenden Einzelnen und keine schreibende Generation aus dem Vakuum heraus gibt,“ versteht sich von selbst. Dennoch muss beileibe nicht hinter jedem Eleven ein adoranter „Schatten des Wortes“ die Hand führen oder als ausschliessliche Nährmutter, Urkraft des vom Debutanten Geschaffenen zur Stelle sein. Junge deutsche Lyriker sind durchaus in der Lage, aus bereits Gesprochenem eigene Wortkraft zu destillieren, selbst, wenn zB Thomas Steinfeld in einem langen Aufsatz in der SZ deren „Unfähigkeit zum Vatermord“ beklagt und Dichtern wie Kling und Beyer bescheinigt, eine neue Sprache gefunden zu haben, damit jedoch nur aufzuzeichnen, zu dokumentieren, ohne jede Schlussfolgerung. Aber Drawert spricht ja über den Stil der von ihm Auserwählten und versucht erst garnicht, eine thematische Anthologie zu formulieren. Jung, deutsch, lyrisch. Wo bleiben denn die Herren Czernin, Papenfuss, Frau Draesner, welche ja tatsächlich ebenfalls einen höchst eigenen, eigenwilligen Stil entwickelt, allerdings auch schon ein paar Jährchen auf dem Buckel haben?
Gegen den Prospekt „neue deutsche Lyrik“ im Untertitel hätte man weniger, und vielleicht einzig einzuwenden, nicht alle aufgeführten Autoren seien Deutsche, sondern manche auch Österreicher, Schweizer, Franzosen usw. — und man sollte besser im Hinterkopf behalten, wie sensibel (und zurecht) gerade Österreicher auf eine ewige Verdeutschung reagieren können. Mehr noch, nicht einmal alle ins Buch gebundenen Dichter leben in Deutschland, nicht einmal alle Beteiligten im deutschsprachigen Raum. Aber gut, „kulturelle Identitäten [lassen sich] nicht nur geographisch ableiten.“
Ich werde mich nicht weiter über den schlecht gewählten Titel und die unentschlossene, weil unthematische Zusammenstellung der Autoren auslassen (Drawert bemerkt treffend, dass man es mit einer Anthologie ja niemals jedem recht machen kann), sondern stattdessen auf die „Wiederentdeckungen“ des Herausgebers verzichten — dass beispielsweise Joachim Sartorius grosse Poesie treibt, sollte einem eh klar gewesen sein oder spätestens mit seinem aktuellen DuMont-Band Ich habe die Nacht klar werden! — und mir bloss die nach 1965 geborenen Dichter/innen ansehen. Das sind immerhin ganze fünf von insgesamt 31 verzeichneten Autoren! Diese fünf zumindest befinden sich innerhalb der Grenze, die der Literaturbetrieb gemeinhin als Höchstalter für fördernde Auszeichnungen und Stipendien vorgibt: mit etwa 35 Jahren muss man als Literat voll entwickelt sein und auf eigenen Versen stehen.
Durs Grünbein und Raoul Schrott sind etabliert. Silke Scheuermann hat mit dem Tag an dem die Möwen zweistimmig sangen einen hübschen Erstling vorgelegt, ein zweiter Lyrikband schliesst sich in unverändertem Ton an. Wie Drawert im Vorwort erklärt, wagt sie „etwas kaum mehr für möglich Gehaltenes: unvermittelt von einem ‚Ich’ zu einem ‚Du’ zu sprechen,“ wo hingegen Lutz Seiler etwa (in latrine oder pech & blende) bei einem allgemeinen Wir-Gefühl bleibt. Die Poesie war lange Zeit belegt mit ges(ch)ichtslosen Sprechweisen, Kling’schen Mundräumen, Fachsprachen wie sie Ulf Stolterfoht hier ironisiert sowie deren Ablegern. „Ich erlernte das Sprechen ohne Mythen, Mundraum/ der Wellen, lauschte einem langen Nachhall,“ einem hohlen Echo „und hatte// keine Antwort,“ dichtet Christian Lehnert und Armin Senser stimmt in seiner dem Lyrikdebut Großes Erwachen entnommener Ekloge: Borkum mit ein: „Mundart verstehen. Als Souvenier ist die Inselmischung/ ungeeignet. Im Leben sind Reime ebenso fehl am Platz/ wie in jedem Derivat des deutschen Sprachschatzes.“ Tatsächlich steht Silke Scheuermann nicht allein da mit der Neuentdeckung eines Gegenübers. Neben einigen anderen hat Björn Kuhligk (*1975) in seinem Band Am Ende kommen Touristen es stellvertretend für seine Generation wieder gewagt, ein fremdvertrautes „Du“ zu sagen. Und ist es unvorsichtig zu behaupten, die beiden Geliebten, Ich und Du, begegnen sich nicht mehr, wie in den 1980er und 90er Jahren noch, im lebensfeindlichen Groszstadtmoloch, sondern neuerdings verstärkt an der Küste, an einem die Nerven beruhigenden, Kommunikation zulassenden Ufer? Touristen, Möwen, Hiddensee im Rücken. Kuhligks Debut hiess Es gibt hier keine Küstenstraßen, ein junges Talent der eekhorntje press dichtete gleichsam mit Silke Scheuermann, die „möwen wissen eh kaum/ dass es ein gestern gab/ und alle suchen,“ Marcel Diel, als weiteres Beispiel, bezieht sich sogar in einem ganzen Zyklus (Wesland. Pathos der Stadt) auf das beruhigend apokalyptische Strömen des Rheins, das mitreissende Hinfliessen der Zeit.
Mit der Umbesetzung der Sprechhaltung verändern sich auch die literarischen Motive und umgekehrt. Raphael Urweider versucht für die Lagebesprechung mit drei Texten seines ersten Gedichtbands Lichter in Menlo Park die Koordinaten einer neuen sprechenden Generation festzulegen: „heiß startet der nachmittag durch geschlossene scheiben [...]/ die luft zum verzweifeln“ — die Situation ist ernst und das Lachen darüber verspannt. Urweider provoziert mit seinen viel zu langen Zeilen einen Lesestau, evoziert Spannung selbst oder gerade in einer schematisierten Welt. Es bleibt nicht bei der nüchternen Atlas-Betrachtung, da schlägt „ein puls der/ sich zusammenzieht und wieder gehen lässt im süden,“ da finden sich plötzlich „spuren in folianten westlich// ausstoß und papiere in fluten/ [...] in gebäudeabschnitten ost.“ Da hat etwas überlebt, da ist Leben in der Reagenz einer postmodernen Selbstreferenzialität. Da ist Hoffnung. Erkennen Sie die Melodie von Nacht heisst Scheuermanns Poem, das sich an die unvoreingenommene Neugier von Kindern erinnert, die trotz geregelten Lebens, trotz aller Rhythmisierung durch Märsche, Rituale, Lieder („die roten Stunden mit wunden/ Kehlchen loben“) nicht vergessen können, dass es noch andere Kinder gibt in einem zweiten Deutschland, aber die sich von ihrer Neugier abbringen lassen („ab hier/ gibt’s nur russischen Zweittext“). Das Gedicht folgt keiner bestimmten Form, wirkt zunächst eher als das, was Erinnerungen ja sind, nämlich ein zufälliges Sammelsurium, ist letztendlich jedoch raffiniert verwoben und dezent gereimt. Erst das mehrmalige Lesen oder die direkte, augenfällige Verknüpfung der Vokabeln „geduldig und schuldig“ machen stutzig: Wer zu lange wartet, betrügt sich selbst um die (volle) Wahrheit.
„Es folgt unser gewöhnliches Schweigen,“ heisst es an anderer Stelle, denn das Ich und das Du brauchen immernoch einen Konverter, um miteinander sprechen zu können. Sie finden ihn bei Scheuermann in der rauhen, unbarmherzigen, aber in Kommunikationsangelegenheiten stets zuverlässigen Natur, denn „die Wellen führen durch Schaumränder/ nach früher/ und in/ die Zeit.“ Das implantierte Misstrauen gegenüber der Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft schwingt mit.
Das Vergangene, Historische zumindest scheint auch dem 1966 geborenen Dirk von Petersdorff klar. Entlang einfach bereimter Revolutionen und Katastrophen stellt er in Heine’schem Tonfall fest, „das ist ein altes Lied,/ der Mensch hat sich verschätzt,“ und „kennst du es noch, das alte Lied —/ ein kaltes Schwinden ist die Welt.“ So simpel kann sich die neue, junge Lyrik geben; Autoren wie Marcel Beyer haben die „historischen Denkbilder,“ wie Michael Braun seine Gedichte nannte, vorgemacht. Beyers poetische Dokumentationen sind hinlänglich gewürdigt worden, in der Lagebesprechung finden sich Junge Hunde oder Falsches Futter als Beispiele politischer Erotik. „Ereignisse werden Wörter,“ und „der Blutdruck der Wolkenkratzer/ wird nicht fallen,“ scheint Armin Senser das day-after-Gefühl nach dem Erschlaffen der World-Trade-Phalli bereits 1999 vorweggenommen zu haben, und bezog sich zum Gedenken an Joseph Brodsky doch nur auf das immer Wiederkehrende Gezeugtwerden und Zeugen, den „puls der/ sich zusammenzieht und wieder gehen lässt.“
Es ist sein floskelhafter Ton (und der einiger Kollegen wie Petersdorff), der manches andere Gedicht überdauern wird, denn Sensers Lyrik ist ein Zettelchen am Handlauf der Brooklyn Bridge: „Von kleinlichen Dimensionen/ abgesehen, bekommt der/ Himmel ein neues Gesicht, geformt/ vom Meißel der Poesie.“ Und hierzu, wie gesagt, bedarf es nicht immer wieder der alten Meister. Drawert hat mit der Lagebesprechung eine hübsche Gelegenheit verschenkt, neue lyrische Tendenzen in einen deutlich hervortretenden, inneren Zusammenhang zu stellen.

Stoff der Piloten

...und kiffen macht durstig: Thomas Böhmes Gedichtsammlung Die Cola-Trinker ist wohl eher als Zwischenbilanz gedacht, der Autor ist Ende vierzig und also jung genug, einige weitere künstlerische Projekte in Angriff zu nehmen. Nach einer ersten Aufarbeitung seines lyrischen Schaffens im Rospo-Verlag Hamburg (manessischer ikarus. sechsundsechzig gedichte von 1980-1995) folgte in relativ kurzem Abstand die zweite Variante bei MännerschwarmSkript. Dass der Band dort erschien, erstaunt nicht ob der vielfältigen Verlagswechsel Böhmes in den letzten Jahren, wobei man dem Autor mehr Resonanz gewünscht hätte als es hier der Fall sein wird. MännerschwarmSkript steht für ein schwullesbisch bezogenes, ernsthaftes Programm, hat aber leider nach wie vor nicht die Möglichkeiten eines Aufbau-Verlags, bei dem Böhme ebenfalls Gedichtbände herausgebracht hat. In den Feuilletons tauchen Publikationen aus der Hamburger Werkstatt um den „Macher“ Joachim Bartholomae demnach eher selten auf. Bei mir im regal ist es sogar das einzige Buch aus jenem Verlag. Nachdem ich mich so gut in stimmung gebracht habe, schnappe ich mir das Beste von Böhme noch einmal und vergleiche das Prickeln der Afri-Cola auf meiner Zunge mit dem Kribbeln der Gedichte in meinem Nacken.
Klares Thema Böhmescher Lyrik ist der Umgang mit auf junge Männer gelegtem männlichen Begehren, auch wenn Dietrich Molitor das allgemeiner fasst: „Hervorstechend ist Böhmes Fähigkeit, Homosexualität für den ‚eingeweihten’ Leser offenkundig zu thematisieren, dabei aber gleichzeitig für anderen Interpretationen viel Raum zu lassen, [...] der eine Spannung zwischen Text und Leser erzeugt.“ (lexikon homosexuelle belletristik 1/1986). Es geht um Blicke, um Landschaften, Warhol’sche Körperlandschaften und um Widerblicke. Böhme ist neben seiner dichterischen Tätigkeit auch Photograph und hat mit Jungen vor Zweitausend (1998 bei fliegenkopf, Halle) eine eindrucksvolle Ergänzung zu seinen Texten geschaffen. In beidem, Text und Bild, versucht Böhme die Entwicklungsphase zwischen Kind und Mann festzuhalten, eine „Situation Aug’ in Aug’“ herzustellen. Beim Photographieren setzen die jeweiligen Jungen die Grenze; zur Scham(losigkeit) der körperlichen Entblössung als überhaupt eine Grenze zwischen Stillhalten und abwehrender, Unschärfe evozierender Körperbewegung. In den Gedichten geht Böhme weiter, betrachtet die bronzenen Leiber zweier Badender wie den Strand auf dem sie liegen. Er verweilt, sein Ton ist gelassen, die entstehenden Bilder aber aufregend und anreizend. Böhme schwingt dem Leser keineswegs die Homokeule um die Ohren. Aber Passagen wie aus Die Jungen sind eindeutig:
„Und mit etwas müssen sie spielen. Es ist heiß. Ihre Oberkörper glänzen, wenn sie einander belauern. Ihre mageren Körper, mit denen das Licht spielt. [...] Sie pressen ihre gewappneten Schenkel in das schlaffe, vom Sommer gedemütigte Gras. [...] Später, wenn sie versuchen, einander unter die faulige Fläche des Wassers zu drücken, dringt ein Geruch von löslichem Fisch in die Wiesen.“ Und weiter Im August: „O wollust des fallens! Des niedergerungenen/ Aufbäumen ist nur ein spiel, o wie genießt er/ Unterliegend des stärkeren sieg.“ Solche Szenen sind mit dem Auge des auf die Jugend Neidischen erspäht; aber sie sind vor allem sehr genau beobachtet. Die Melancholie des Nichtbeteiligten vermischt sich mit der Lakonie des Alters und der Fähigkeit, Dinge zu beschreiben, ohne sie beim Namen zu nennen. Allerdings sind es (neben verlagsökonomischen Argumenten) wohl auch solche Szenen, die Böhme das Dichterleben schwer machen. Die Cola-Trinker vereinigt eine Auswahl aus früheren, überwiegend in kleinen bis Kleinstverlagen erschienenen Bänden oder in Literaturzeitschriften publizierten Gedichten. Hin und wieder findet man was im Antiquariat.
Tatsächlich ist ihm eine grössere Öffentlichkeit zu wünschen für Poeme, die häufig garnicht unterscheiden zwischen Lyrik und Prosa, irgendetwas dazwischen sind. Hybride Wollust. Thomas Böhme hat sich eine eigene Sprache erschaffen und ein eigenes Universum, auf das er aufbaut. Das macht es schwierig, über Neuerscheinungen anders als über etwas Störrisches, Unzugängliches zu sprechen, wenn man das Vorausgeschriebene nicht kennt, und lässt Rezensenten immer wieder auf frühere Texte zu sprechen kommen und, vergebens, nach einer Abbreviatur suchen. Der Autor schafft es, wiederkehrende Motive wie das Ab-Bilden, Photographieren, das Musikalisch-Rhythmische, aber vor allem das Filmische einer Situation umzusetzen, ohne sich einer poppigen Sprache anzudienen. Einerseits über die Nennung von „videotechnik“, andererseits durch Hommagen an Regisseure und grosse Epiker. Die Literatur ist Böhme immernoch psychedelisches Kopfkino, ein „caramel/ braun“ schäumendes Nass, ein einziges „stahlblau/ metallic mit [...] blitzspeichen hitzeprall gelben reifen“ (im Titelgedicht Die Cola-Trinker). Alltägliches (eine Rolltreppe, eine Brandmauer, Chromdioxid-Kassetten) mischt sich mit Mythischem, dem „rhythmischen klopfen/ der finger aufs schlüsselbein,“ mit Spuren, die zu entdecken sind oder einer Melodie. Fast immer ist Sommer in Böhmes Texten, nie aber ist die Stimmung besonders ausgelassen, auch wenn die immer wiederkehrenden „Gassenpiloten“ ihre überschüssige Energie loszuwerden suchen. Die Gassenpiloten sind narzisstisch, selbstgenügsam „hocken sie auf ihren skateboards/ oder neben rollschuhen kauernd/ denen man die flügel gestutzt hat,“ und warten nur darauf, dass man „sie mit glimmenden früchten bedient/ ihnen finger zwischen die schaumigen lippen/ schiebt.“ Der Sprecher möchte die Jungs für sich, oder besser: er möchte sich den Jungen hingeben, als Beute vorwerfen wie in einem Pasolinifilm, auch — oder erst recht — wenn es heisst, „sie mitzunehmen/ bedeute kein raub/ doch bringe es/ in verruf“ (Gesteinsprobe). Er nimmt es in Kauf, aber er ruft ihnen vergebens hinterher: „ich höre [...] undinen/ locken die frühkühnen jungen/ ins moor. ich rufe sie zurück/ aber zusehends ändern sich/ ihre namen“ (Mein Maß ist die Unze). Was er auch anstellt, welchen Blick er auch aufsetzt, den ebenfalls begehrenden Widerblick muss er sich erdenken; an den Stoff, der die Piloten ohne ihr Zutun unschuldig (und damit auf jeden Fall unberührbar) macht in allem Tun und Handeln, kommt er nicht heran. Er altert. Immerhin, die Augen-Blicke des Begehrens werden festgehalten. „Das sind Abende, aus denen man Filme macht,“ sagte Robert Weinreich zu Böhmes Gedichten und dem erwähnten Stoff der Piloten.
Für Neuentdecker Böhmes ist es schade, dass in Die Cola-Trinker kein biographischer Hinweis auf den Autor eingegangen ist. Aber es geht ja auch nicht um den Autor in diesem Buch, sondern um die Jungen, die in das Leben des Sprechers/ Lesers tauchen und irgendwann wieder verschwinden wie aus einem Traum. Mit einer Traum-Sequenz leitet Thomas Böhme die Cola-Trinker ein, mit einer solchen endet dieses wirklich schöne best-of (Schale und Frucht): „Ich hätte ihn gern so gründlich geschält, wie er seine Mandarinen. Zu den Verheißungen, die ich damit verband, hätte er nur die Schultern gezuckt. Was bedeutete ihm schon ewige Jugend! — Das ist mein Bauch, sagte er, und wenn er fett wird, dann wird er es eben. Ich schaute ihm nach. Er ging erhobenen Hauptes. Seine schmale Gestalt verschwand hinter den Bäumen.“

Geschichte wird verpackt

Verschwindend wenig scheint über Martin Pohl bekannt. In den üblichen Lexika taucht bloss der eben
falls aus Schlesien stammende Erzähler Gerhart Pohl auf. Der offenbar selbstverfassten Vita auf der Rückseite seines best-of-Bändchens entnehmen wir, dass Martin Pohl, geboren 1930, „bestimmt zur Theologie“ und 1947 „einer kaufmännischen Lehre entronnen“ ist. Dem Krieg entronnen zu sein scheint nicht so ausschlaggebend. In der Nachkriegszeit ist Pohl Redaktionsmitglied eines ostberliner Verlags und Meisterschüler am Berliner Ensemble unter seinem grossen Vorbild Brecht. Der Meister bewirkt später eine Haftaussetzung für Pohl, der ein Schauspielstudium absolviert und fortan als „Dichter-Vagabund“ durch Süddeutschland und die Schweiz tingelt. Es scheint, als habe Pohl eine sehr genaue Vorstellung, wie das Leben eines Dichters auszusehen habe. Dem Unglück immer eine Haarbreite voraus, die Attitüde eine Mischung aus armem Poeten und Francois Villon, aber immer nur das Gute im Sinn. Was von der Zukunft zu erwarten ist: „Müssen wir nicht geradezu von einer kunstfeindlichen Zeit sprechen, in der unsere Gedanken und Ansichten durch Computer und Medienverkabelung der Manipulation in gefährlicher Weise unterworfen sind?“ (Der Dichter in seiner Zeit).
Pohls Lyrik ist immer einen Tick zu ernsthaft, an einigen Stellen sogar reaktionär, in jedem Fall aber hochgradig epigonal. Über Brecht geht nichts hinaus, und schon garnicht Pohl selbst, der sich in Vers, Reimschema und Wortwahl eng am Vorbild orientiert, über die gesamte Zeit der hier dargestellten 45 Jahre. Das macht nicht nur einige Balladen zur beinah endlosen Wiederholung von woanders besser Gelesenem, sondern das gesamte Buch trocken und spröde. Nachdichtungen wie Schlafwandlers Nachtlied oder Mein deutsches Requiem sind eher peinlich, Wendungen wie eine „Stadt,/ die nach Law-and-Order schrie,“ klingen an den Zeitgeist anbiedernd, und die Verarbeitung des ungeklärten Todes von Ulrike Meinhof haben Björn Kuhligk (Geschichte wird verpackt) und Maximilian Herre (Cross the Tracks), die beide das Ereignis nicht bewusst erlebten, eindrucksvoller beschrieben. „Gedachte sie, ins schwarze Nichts zu schweifen,/ daß ihr von dort die Revolution gelinge?“ fällt dem Schreiber Pohl ein (Vermutungen um den Tod der U.M.). Und wie habe ich etwa folgenden Vers zu verstehen: „Aus deiner himmlischen Eichel/ sog ich den Seim Süßbitternis,/ in paradiesischem Speichel/ war mir die Hölle gewiß.“ (Serenade für M.). Nach vielen Texten fragt man sich: Ja, und? Worauf wollte der Dichter hinaus?
Schade, denn gerade die kurzen bis sehr kurzen, aber hier seltenen Poeme haben entgegen dem Kitsch der vielen Widmungstexte eine eigene Kraft: „Wenn ich sterbe, werden meine Hände,/ so als stünde ich dem Anfang/ näher als dem Ende,/ tasten/ nach dem Schnee —“ (Torso). Oder die Folge einer Züchtigung: „Als sie ihn in den Rücken traten,/ erlitt er einen Schock./ Seit er begriff, was sie damit taten,/ kann keiner ihm helfen, noch raten:/ Er hinkt ihnen nach — am Stock.“ Bei der Lektüre möchte man dem Autor schlussendlich aber doch sein eigenes Motto nachrufen: „Lerne beizeiten die fremden Parolen,/ kannst du auch ihren Sinn nie begreifen;/ Unverstandenes an deinen Sohlen/ wirst du durch weiteres Nichtverstehn schleifen.“ (An den Grenzen) — „Es war ein Wollen da und ist gescheitert“, heisst die Selbsterkenntnis gegen Ende des Buches; oder, wie ein Kritiker es während des Bachmann-Wettbewerbs 2000 zu einem jüngeren Autor meinte: „Der Text will wenig, und das gelingt ihm auch beinahe.“
Crauss


Brodowsky, Paul: Milch Holz Katzen. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2002; es 2267
Norse, Harold: Beat Hotel. Mit 10 Collagen von Norman O. Mustill. Augsburg: Maro Verlag 1975/ 1992
Hückstädt, Hauke: neue heiterkeit. gedichte. edition postskriptum. lüneburg: zu klampen verlag 2001
Beyer, Marcel: erdkunde. gedichte. köln: dumont 2002
Drawert, Kurt (Hg.): Lagebesprechung. Junge deutsche Lyrik. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2001
Böhme, Thomas: Die Cola-Trinker. Gedichte 1980-1999. Hamburg: MännerschwarmSkript Verlag 2000
Pohl, Martin: Gedichte 1950-1995. Berlin: UVA-Verlag 1995.