2001 wie heute: Wahrhaft lausige Zeiten
Adolf Endler & Konstantin Kavafis
Best of-Kompilationen haben sich seit längerem bewährt, besonders
bei der Verbreitung kanonisierter Lyrik. Dass einem mit dem Besten gelegentlich
— wie etwa bei vielfältigen Goethe-Auslesen — auch wirklich
Schlechtes untergejubelt wird, erträgt man, überliest man. Dass manche
best of-Zusammenstellungen besonders ausländischer Dichter oft ihre erste
deutschsprachige Präsentation überhaupt sind und mithin nicht zwangsläufig
vom Besten — auch das kommt vor, nur selten wird es einem bewusst. Dass
manchmal aber auch ein innerdeutsches best of dazu herhalten muss, nicht das
dichterisch Gelungenste der letzten Jahre darzustellen, sondern den Dichter
überhaupt erst und erstmalig einer grösseren westlichen (und häufig
wesentlichen) Öffentlichkeit bekannt zu machen, haben die Beispiele einiger
DDR-Autoren gezeigt.
Adolf Endler war vor dem Mauerfall eine bekannte Grösse im Literaturbetrieb
der DDR und er ist in der Retrospektive weiterhin ein wichtiger Autor. Allerdings:
die Leserschar, die „eine der verwachsensten Gurken der neuen Poesie“
(Endler über Endler) durch gelegentliche, wenn nicht spärliche Veröffentlichungen
in Westverlagen und -zeitschriften (etwa Wagenbachs „Tintenfisch“
oder „Freibeuter“ in den 1970er Jahren) kannte, ist gemeinsam mit
dem Dichter alt geworden. Ein junges Publikum kennt den Siebzigjährigen
meist nur aus der näheren Umgebung Berlins, von Vorträgen in Endlers
„Wohnstube“, der literaturWERKstatt in Pankow oder von Veranstaltungen
im Literarischen Colloquium am Wannsee. Hin und wieder hat er auch im Auditorium
gesessen, wenn sein grosser und unlängst verstorbener Freund Karl Mickel
gemeinsam mit einer jungen Schauspielerin aus seiner Werkausgabe vortrug.
Zur Werkausgabe hat es dem querulanten Endler zu DDR-Zeiten nicht gereicht,
und heute können wir froh sein, dass der Suhrkamp Verlag mit dem Pudding
der Apokalypse zumindest eine kleine Werk-Schau unternommen hat. Zu sehr vereinzelt
ist die Literatur Adolf Endlers, zu vielfältig, sie bloss in eine einzige
Schublade zu stecken, als dass eine konsequente Folge von Irgendwas möglich
gewesen wäre. So ist dem Gedichtband denn ohne weiteres der Untertitel
der endlerschen Tagebücher (Tarzan am Prenzlauer Berg) noch einmal hinzuzufügen:
sein apokalyptisches Dessert besteht aus „Sudelblättern“, aus
Literatur, die ein einziges Durcheinander ist und sich nicht entscheiden kann
zwischen Lyrik und Prosa, die oftmals blosse Skizze ist und zu ihrer Zeit in
jedem Fall auch politisch unkorrektes Durcheinander verursachte. Schreibverbote,
Ausschlüsse aus Gremien uä. zeugen davon; auch, dass der Dichter aus
Publikationsmangel lange Zeit und ausgiebig Literaturkritisches geschrieben,
seine Lyrik von Briefschlitz zu Briefschlitz publiziert und zu konspirativen
Wohnzimmerveranstaltungen gelesen hat, immer mit freundlichem Gruss an die mit
Richtmikrophonen oder Wanzen lauernde Staatssicherheit: „Kontinuierliche
Präsentation dessen, was in unüberbrückbarer Distanz zum offiziellen
Literaturbetrieb produziert wird. Ja, zweifellos, die haben uns auf dem Kieker,
es soll uns an den Kragen gehen! Haben wir nicht damit gerechnet? Aber es bleibt
schon ein befremdliches Erlebnis, wenn — wie neulich in Pankow in der
Florastraße geschehen —, sämtliche Besucher einer Lesung im
fischerschen Haus der ausgeschwärmten Polizei zwecks Aufnahme der Personalien
ihren Ausweis auszuhändigen gezwungen sind.“ (Tarzan, 207)
Die Zeit erstarkender Alternativliteraturen am Prenzlauer Berg hat ihm den Ruf
des „Underground“-Schriftstellers eingebracht und zB. auch bewirkt,
dass ich Endler immer für einen jungen Burschen Mitte dreissig gehalten
habe, ganz ohne mich zu besinnen, dass junge Männer Mitte dreissig nicht
mehr Adolf heissen. Wohlmöglich kamen mehrere Faktoren zueinander, die
Endler selbst Anlass boten, Persönlichkeit und Namen hier und da zu doubeln;
das Katz-und-Maus-Spiel mit der Stasi gleichermaszen wie der negativ assoziierte
Name. „Eddy“ Endler, Bobbi Bergermann, Bubi Blazezak und Robert
F. Kellermann sind nur einige seiner sprechenden Pseudonyme. Er signiert selbstironisch
seine Bücher damit, er setzt sie als Autorenname über seine bissigsten
Satiren. Und der Huchel-Preisträger 2000 hat nichts dagegen, wenn Winand
Herzog in einem Text über ihn (Montage, verrutscht, ndl 5/ 2000) noch ein
weiteres dazuerfindet und in einem Schwung gleich auch der „langjährige
geistige Zwilling Adon Flederls“ zu Mick Rallke mutiert. Oder gibt es
das Anagramm Adon Flederl wirklich? Jedenfalls: mit der Verwendung unterschiedlicher
Namen verhindert der Autor sowohl unangenehme Rückschlüsse auf sein
Privatleben als auch sehr bewusst und mangelnde Bekanntheit in Kauf nehmend
Epigonentum jüngerer Dichter.
Er weiss, was er tut. Denn sein eigenes „zu großen Teilen allzu
epigonales ‚Frühwerk’“ (Endler) hat der Autor im neuen
Sammelband aussen vor gelassen, dafür gibt er in einem vergnüglichen
Nachwort des Pudding lieber noch einmal Auskunft über die Veröffentlichungsgeschichte
einiger seiner Texte und wie er „so entschieden wie torkelnd von der gepriesenen
‚Hauptstraße’ der DDR-Lyrik abgebogen [sei], vermutlich von
anderen Lyrik-‚Hauptstraßen’ auch. [...] Aber das war ja immer
so: Ich laufe als Außenseiter — und dann noch die verkehrte Strecke...“
Nun, seit seinem Erscheinen ist vermehrt geschrieben worden über das Buch
und den Verfasser, dessen Poeme wegen „politischer Bedenklichkeit“
teilweise erst Jahre nach ihrem Entstehen erstveröffentlicht werden konnten.
Um 1979/ 80 herum war der Dichter „außerhalb jeder Gnade“,
wie Sabine Brandt in der FAZ schreibt. Endler hatte gemeinsam mit anderen der
Sorge über die kulturpolitische Entwicklung unter Honecker und der „Verfolgungsmaßnahmen
gegen Stefan Heym und Robert Havemann“ Ausdruck gegeben und war kurz zuvor
aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen worden. Tarzan am Prenzlauer
Berg dokumentiert diese Ereignisse, mit „Fiktionen, Träumen, Obsessionen
hart aneinandergeschnitten“ (Klappentext) nachträglich genauso eindringlich
wie einige Gedichte im Pudding. Allerdings: was an den Texten heute Geschichte
ist, klang 1981 noch gefährlich aufrührerisch. Die Akte Endler, des
Dichters erstes best of nach 25jähriger Schriftstellerei enthält nicht
nur die damals noch gültige Epigonallyrik, sondern auch Poeme, deren Brisanz
in einem Nachwort unbedingt abgemildert werden mussten. „Und siehe, sogar
das andere ‚Mauer’-Gedicht, schon 1963 geschrieben, ist mit den
übrigen Gedichten [...] (und zwischen ihnen versteckt) 1982 endlich durchgerutscht
[...] Keiner vermag es im ersten Moment zu glauben; man fragt mich: ‚Steht
das wirklich da?, gedruckt in diesem Jahr 82? Sag’ mir, daß ich
träume’“ (Tarzan,132). Peter Gosse hat denn auch alle Hände
voll zu tun, von Pro domo abzulenken und Endlers berühmtes Sandkorn (1967)
vom auf die DDR bezogenen, zerstörungsgierigen Aufruhr umzudeuten auf eine
marxistisch tradierte Sichtweise absterbender kapitalistischer Staaten. „Was,
wenn das Hochvoltige von Endlers Dichtung sich nicht so sehr aus ihm, Endler,
heraus entlüde als vielmehr durch ihn hindurch aus den Weltläuften,
in die er empfindlich hereingestellt ist?“ Endler als gesellschaftlicher
Seismograph, ja. Aber ein höchst eigensinniger, auf keinen Fall ein entindividualisiertes
und daher objektives Partikel der Geschichte! „Wahrhaft lausige Zeiten
sind angezeigt, man kann an die Jahre gegen Kriegsende denken,“ wenn einem
andere Assoziationen partout nicht gefallen wollen.
Dabei widerspricht Endlers politischer Anspruch dem des künstlerischen
keineswegs. So oder so hat man einiges zu lachen in seinen Texten, etwa in der
Ode auf eine vernachlässigte Sportart (Das „Sichdenberghinunterrollenlassen!“);
die Form des Auslachens ist stets inbegriffen, auch, wenn wir als junge Leser
und Westkonsumenten nicht genau bestimmen können, ob vielleicht gerade
über uns gelacht wird. Kann schon sein. Eigentlich müssen wir aber
nicht beleidigt sein über diese „Ermutigungen, die im übrigen
auch mal Rippenstöße sein konnten“ und die beispielsweise „einige
Feigheiten bekämpfen halfen." Peter Geist erinnert sich sehr rege
an die blauen Flecke (Zerbeult sternenwärts. Über Adolf Endler in
ndl 5/ 2000) und an „den unbedingten Einsatz von Brigitte [Endler] und
Adolf für junge Autoren, ein Engagement, das sich im Poesie-Café
‚Clara’ fortführte und es zu einem Sammlungsraum der Weltpoesie
weitete.“
Um Weltpoesie scheint sich Adolf Endler immer dann gekümmert zu haben,
wenn für seine eigenen Texte in der DDR wenig Platz war, beispielsweise
1979, als er, aus mehreren Verbänden ausgeschlossen, hauptsächlich
an Literaturkritiken arbeitete oder etwas später an der Retrospektive Akte
Endler. Falls er Konstantin Kavafis nicht schon früher kannte, war das
der richtige Zeitpunkt, diesen Genossen näher zu entdecken. Endler und
Kavafis sind sich ähnlich in ihrer ausschweifenden Art: was Kavafis heimlich
lebt, nachts in den Cafés, was bei diesem eher sporadisch und gemäszigt
Eingang in die Texte findet, das schreibt Endler auf mit der ungezügelten
Lust explodierender Wortkaskaden, die direkt aus einem Kneipenbesuch resultieren
oder einem „Verfolgungswahn“: „Als der lange gesuchte, vielleicht
sogar bis heute nicht gefundene PRENZLAUER-BERG-RIPPER [...] bin ich erstaunlicherweise
bislang nicht in Betracht gekommen.“ (Tarzan, 69). In ihrem Blick auf
Unzulänglichkeiten des Alltags, im Wahrnehmen von scheinbar uninteressanten
Kleinigkeiten gleichen beide sich, das schlägt sich nieder auf ihre Dichtung,
trotz der unterschiedlichen Epochen, in die sie hineingeboren wurden: der eine
als Sohn eines griechischen Getreidehändlers, aufgewachsen in England,
Beamter in Alexandria, der andere nach einer Jugend in Düsseldorf und mehreren
Brotberufen endlich freischaffender Lyriker und Urgestein in Ostberlin.
So wundert es nicht, wenn der Dichter vom Prenzlauer Berg seinen griechischen
Kollegen mithilfe der Interlinearübersetzungen von Georgios Aridas nachdichtet.
Da Kavafis zu Lebzeiten sehr wenig veröffentlicht hat, mussten auch hier
diverse (zwar nicht als solche deklarierte) best of-Ausgaben dazu herhalten,
den Autor überhaupt erst bekannt zu machen. Als das deutsche Standardwerk
wird nach wie vor Konstantin Kavafis. Gedichte. Das Gesammelte Werk (1953/5
bei Suhrkamp Frankfurt) angesehen. Diese Übertragungen von Helmut von den
Steinen reichen bis in die Enddreissiger Jahre zurück und wurden mit weiteren,
bereits 1965 bei Castrum Peregrini veröffentlichten Nachdichtungen erstmals
1985 in einem gemeinsamen Band präsentiert (Konstantin Kavafis. Gedichte.
Das Gesammelte Werk bei Castrum Peregrini Amsterdam). Darüber hinaus gibt
es einige, aber vor allem kleinere Publikationen mit Kavafistexten, über
die die genannten grösseren Bände kaum Auskunft geben, aber beispielsweise
Mario Molegraaf in einem kompetenten Aufsatz über die Erotik bei Konstantinos
Kavafis (Forum Homosexualität und Literatur 7/ 1989, Universität Siegen).
Ein wirklich vollständiges Kompendium kavafis’scher Texte mit einer
kritischen Auswertung variierender Fassungen und Übersetzungen gibt es
bislang nicht. Das mag unterschiedliche Gründe haben, gibt in jedem Fall
aber das Schaffen eines grossartigen Dichters der Vereinzelung und dem Vergessen
preis. Dass wenigstens in einem neueren Band (Die Lüge ist nur gealterte
Wahrheit, 1991 bei Hanser) „Notate, Prosa und Gedichte aus dem Nachlaß“
in deutscher Übertragung festgehalten und gleichzeitig Schwules nicht wieder
ignoriert oder wenigstens bagatellisiert wurde, ehrt den Verlag und seinen Herausgeber
Asteris Kutulas, aus deren Hand auch Die vier Wände meines Zimmers. Verworfene
und unveröffentlichte Gedichte (1994) stammt. Bisher war der Nachlass nicht
zugänglich und die homoerotischen Gedichte und Prosafragmente nur Kennern
oder einer kleinen Fangemeinde vorbehalten. Dabei schien es Kavafis beim Schreiben
gleich gültig zu sein, von welcher Liebe er ergriffen war, seine Gedichte
schrieb er gegen das Versteckenmüssen vor einem bürgerlich restriktiven
Moralverständnis, nicht für eine bestimmte Art der Sexualität
oder gar deren offensive Verfechtung. Dennoch hat der Dichter oft mehr als zehn
Jahre zwischen Verfertigung und Veröffentlichung eines Poems mit eher „privatem“
Inhalt verstreichen lassen. Das macht eine Parallele zu Endler aus, lag aber
oft weniger an moralischen oder politischen Verhinderungen als an den aufwendigen
Studien für historische Stoffe. So war Kavafis nicht ganz unschuldig an
der Vereinzelung seines Werks und der daraus resultierenden inkompakten Rezeptions-
und Veröffentlichungsgeschichte, die heute erst umständlich nachvollzogen
werden muss.
In der zweisprachigen Insel-Ausgabe von 1979 nun finden sich weitgehend die
Standard-Gedichte, Historien vor allem, „in der vom Dichter getroffenen
Anordnung, nicht der [der] Entstehungszeit.“ (Nachwort). Die Auswahl aus
drei von Kavafis selbst „als endgültig betrachteten Bänden“
(Texte 1905-15; 1916-18; 1919-32) wird etwa hälftig von Endler und v.d.Steinen
(hier entsprechend der 1953er Ausgabe) bestritten. Das einzige Gedicht, das
Karl Dieterich übertragen hat (Alexandrinerkönige), stammt aus einer
1931 von ihm herausgegebenen Anthologie Neugriechische Lyriker. Für einen
Kavafis-Band in der DDR nicht die ichbezogenen Liebes- und Gelegenheitsgedichte
auszuwählen, sondern seine Historien, bedurfte keiner grösseren Begründung,
im Gegenteil, auch heute scheint offensichtlich, dass der individuellen Ausdrucksformen
skeptisch bis ablehnend gegenüberstehenden Kulturpolitik unter Ulbricht
und Honecker eher an Lehrgedichten von der Trockenheit Brechts lag, dass einer
antikisierenden Dichtung wie der vorliegenden der grössere Vorbildcharakter
zugeschrieben wurde. Dass jedoch Öffentlichgeschichtliches in der Dichtung
des alexandrischen Griechen gerade wieder auf das Private zurückgeführt
wird, entgeht den Programmierern. „Auf ebenholzenem Lager [...]/ liegt
in tiefem Schlaf/ Nero — sonder Bewußtsein, ruhig, glückerfüllt“
und nicht gewahr seiner staatlichen Macht und seines Reichtums. In diesem privatesten
aller Momente zittern plötzlich die kleinen Hausgötter: „Sie
spüren schon die Schritte der Erinyen.“ Da naht das Übergeordnete,
nicht Kalkulierbare (Die Schritte, 23). Nero stirbt nicht als geschichtliches
Wesen, er endet als Mensch. Geht es an den Tod, werden Könige wieder zu
Menschen. „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,/ ist dem Tode
schon anheimgegeben,“ heisst es bei August von Platen (Tristan), und zur
Heldenverehrung gehört bei Kavafis die Anbetung ihrer Schönheit: „Weint
der Palast, weint der König,/ [...] um Aristobulos weint die ganze Stadt,/
[...] Alle Dichter und Bildhauer werden trauern,/ weil unter ihnen gerühmt
Aristobulos war./ Und wo reichte ihre Einbildung eines Epheben/ je an solche
Schönheit wie dieses Kindes?“ (Aristobulos, 29).
Auf seine Tableaus passen übrigens, wenn nicht immer thematisch, so doch
stilistisch die Photographien des Kavafis-Zeitgenossen Wilhelm van Gloeden.
Auf eine derartige Zusammenstellung ist bisher wohl einerseits wegen der schon
eigenständig enormen Bildkraft der kavafis’schen Gedichte verzichtet
worden, andererseits bestimmt auch aufgrund der gegenläufigen Intentionen
beider Künstler: während Gloeden bewusst antikisiert, seine Portraits
und Szenen in einer mythischen Umgebung ansiedelt (etwa, um den Vorwurf der
Erotisierung seiner Motive und vorwiegend männlichen „Darsteller“
zu vermeiden), versucht Kavafis gerade, die jeweiligen Figuren von einer Überhöhung
und Verklärung zu befreien und mit sprachlicher Einfachheit auf ein fleischliches
Niveau herunter zu holen. Manchmal, und besonders, wenn er für eine einfache
Situation komplizierte Versmasze verwendet, wirken seine Verse dennoch hölzern,
ein Vergleich der Übersetzungen verschiedener Ausgaben bestätigt dies.
Sowohl Endler als auch v.d.Steinen schaffen es, eine alltägliche Sprache
zu verwenden, wenngleich Steinens einfache „Städte“ (in Theodotos,
9) bei Endler gleich zur „Staatsmaschinerie“ wird und „Volksabstimmungen“
zu „beamteten Bewunderern“, was ja einen Unterschied ausmacht. Ansonsten
klingt, was bei v.d.Steinen oft verschwommene oder gar keine Bilder erzeugt,
bei Endler immer deutlich. Dass durch unterschiedliche Wortwahl geringe Bedeutungsverschiebungen
entstehen, liegt hingegen eher am Griechischen.
Meist entdeckt der Autor uns eine ambivalente, tiefe Melancholie unglücklich
Liebender. Auch hier, aber vor allem in den Nachlassgedichten gesellen sich
zu dieser Melancholie zwielichtige Gestalten wie Stricher und Zuhälter.
„Korruption und moralischer Verfall bestimmten die Sitten“ Alexandriens
in der Zeit, in der Kavafis dort lebte. Seine „bürgerlichen und antiheldischen
Stadtbewohner sind die Gegenspieler der Helden kavafis’scher Dichtung.
Sein Heros ist ein nicht zum Heldentum prädestinierter Mensch. Er ist vielmehr
ein Heldendarsteller,“ schreibt Georgios Aridas im Nachwort zu dem Inselbändchen.
„Kavafis ist ein urbaner Dichter, die Großstadt verfolgt ihn ständig,
ja noch mehr, sie bestimmt das Wesen seiner Poesie.“ Und weiter weissagt
Georgios im Rückblick 1979, zehn Jahre vor dem Mauerfall: „Kavafis
glaubte nicht an die Erziehung der Menschen und hielt ihre Konflikte für
ewig [...] Schließlich kam in der bürgerlichen Ordnung der ‚Vernunftsstaat’
unter den Hammer [und unter die Sichel, möchte man ergänzen] und wurde
an den Meistbietenden verkauft [sic].“
Crauss.