Lieber Hendrik

hier der versuch einiger antworten auf Deine einwände.

1. Gegen meine annahme, gedichterfahrung könne zur redefinition von begriffen veranlassen, insbesondere die erfahrung des palast-gedichts zur redefinition des begriffs 'palast', wendest Du ein, dass der begriff 'palast' eben bestimmte definitionsmöglichkeiten enthalte; würde jedoch der begriff 'palast' zu weit ausgedehnt, dann handelte es sich eben nicht mehr um einen palast im strengen sinn.
Was die richtige, angemessene oder wenigstens eine erfahrungsgemässe definition bzw. ontologische situierung eines palasts ist, das ist aber gerade eine der fragen, die das gedicht stellt. Der text überlässt es dem leser, scheint mir, ob er es mit seinen erfahrungen vereinbaren kann, die palast-definition so weit zu fassen.
Da das gedicht (jedenfalls in meiner deutung) sowohl zu verstehen gibt, es sei ein palast, als auch, es sei kein palast, da es also einen widerspruch zu verstehen gibt, ist es umso mehr dem leser überlassen, welche der widersprüchlichen aussagen er für wahr hält. Und ich bin natürlich auch hinsichtlich meines eigenen gedichtes nichts anderes als ein leser. Doch viel wichtiger als die frage, ob die redefinition und reontologisierung im beispielfall meines gedichtes plausibel ist, ist mir die allgemeine frage: ob die erfahrung literarischer texte überhaupt zu redefinition und/oder reontologisierung veranlassen kann. eine frage, die ich für mich mit ja beantworte und die für mich weitreichende konsequenzen hinsichtlich der erkenntnismöglichkeiten von literatur enthält.

2. Du wendest auch ein, dass das, was ich als mögliche erfahrung des gedichts als palast beschreibe, eigentlich die simulation einer palastbegehung sei oder auch durch die tätigkeit der poetischen einbildungskraft hervorgerufene vorstellung einer palast-begehung.
Ich glaube, simulation ist hier das falsche wort, jedenfalls sofern es enthält, dass etwas nachgeahmt wird, eben simuliert. Ich glaube auch nicht, dass das gedicht, wie Du schreibst, ausschliesslich so erfahren werden will, dass es etwas ähnliches oder einem palast äquivalentes herstellt. Nein, es will tatsächlich, wenn auch wohl unter anderem, eine palast-erfahrung hervorrufen. Aber wie gesagt: das gedicht (so wie ich es deute) gibt auch zu verstehen, dass es kein palast ist. Es will uns also einem widerspruch aussetzen, so dass wir frei sein können herauszufinden, welche der widersprüchlichen propositionen wir für wahr halten. – Deinen einwänden beispielsweise glaube ich zu entnehmen, dass Du es für wahr hältst, dass das gedicht kein palast ist, und die im widerspruch dazu stehende proposition für falsch. Dem gedicht ausgesetzt, willst Du keine redefinition des begriffs ´palast`vornehmen und auch keine reontologisierung von palästen. Und das ist zweifellos eine vernünftige antwort auf das gedicht: Du weist eben aus Deinen erfahrungen eine bestimmte möglichkeit zurück, die das gedicht vorschlägt.
ich glaube jedoch nicht, dass es sich bei dieser möglichkeit, das gedicht als palast zu erfahren, um eine mystifizierende lesart handelt. Es handelt sich einfach um eine lesart. Ob man die entsprechende proposition für wahr oder für falsch hält, das hängt eben von den erfahrungen ab, die man gemacht hat, im laufe seines lebens, und zu diesen lebenserfahrungen gehört auch (wie denn nicht?) auch das lesen des gedichts. Wie sehr dieses gedichtlesen ins gewicht fallen kann oder soll, ist eine andere frage, die wiederum jeder für sich selbst beantworten muss...
Worin bestünde denn das mystifizierende? Definitionen bzw. ontologische kategorien aufgrund von erfahrungen zu verändern, wäre ja durchaus rational, auch wenn was ungewohntes dabei herauskommt oder sogar etwas, das dem sogenannten gesunden menschenverstand spottet. Das ist beispielsweise in der physik oder in der psychologie oder in der neurophysiologie nicht anders als in der poesie, wenn es auch in der wissenschaft auf ganz anderen wegen dazu kommt, und man die wege der poesie als zweifelhaft, dunkel, unverlässlich und vage charakterisieren mag. Gut, zugegeben. Jemand der sich die grundfesten seiner welt durch gedichte erschüttern lässt, ist vielleicht ein narr und in diesem sinn irrational.
Du zweifelst allerdings an dem ontologischen stachel einer redefinition von "palast", die eine ontologieveränderung enthält; und du zweifelst auch daran, dass eine solche ontologieverändernde definition dem gesunden menschenverstand spottet. Warum nur? Wenn jemand ernsthaft glaubte, dass das beispielgedicht ein palast sei, dabei die annahme preisgebend, dass alle paläste sinnlich wahrnehmbar und materiell sind, dann würden wir ihn oder sie als ziemlich exzentrisch oder als elfenbeinturm bewohnend sehen, oder?
Du selbst tust ja eben das, indem Du die (in meiner deutung) vom gedicht vorgeschlagene redefinition zurückweist. Es soll sich im übrigen nicht um eine genialische geste gegen den gesunden menschenverstand meinerseits handeln, sondern um eine angemessene deutung eines gedichts und zugleich um die darlegung einer möglichkeit, die, wie ich glaube, manchen literarischen texten innewohnt. Darüber liesse sich allerdings streiten. Mag sein, dass die definitorischen und ontologischen lasten, und also die erkenntnismöglichkeiten, die ich der literatur aufzuerlegen geneigt bin, ihrerseits der meisten literatur spotten und jedenfalls demjenigen, der sie in anspruch nimmt.

3. Ja, Du hast ganz recht, wenn Du mir unterstellst, dass meine auffassung von sinnlichkeit sehr nahe an der hegelschen ist. Allerdings glaube ich nicht, dass dabei so etwas wie "der mythos unmittelbarer sinnlichkeit" bestehen bleibt. Denn bei hegel gibts keine unmittelbare sinnlichkeit, bei hegel ist alles vermittelt. Eben deshalb ist auch nichts sakrosankt, auch nicht unsere annahme, sinnliche wahrnehmbarkeit und materialität sei notwendig für das gegebensein eines palasts. Gerade hegels "phänomenologie" führt das ständige redefinieren von begriffen und das reontologisieren, und also das grundlegende reklassifizieren von dingen vor. und zwar als prozess, durch die form, die gestalt des textes. hierin, in diesem prozessualen und formabhängigen ist hegels dialektik der poesie sehr ähnlich. jedenfalls enthält der begriff `erfahrung`, so wie ich ihn gebrauche, nicht, dass es sich dabei um rein sinnliche erfahrung oder irgendeine art von unmittelbarkeit handelt. Ich gebe Dir also auch recht, dass "selbst die `ursprünglichste` erfahrung einen wust von unverdauten, aber durchaus schon zu beziehungen verknüpften emotionen, erinnerungen, hoffnungen, atmosphären, machtverhältnissen etc. enthält". Aber gerade darin liegt ja auch die möglichkeit, dass unsere normalen erfahrungen und unsere begriffe für sie korrumpiert sein könnten, unangemessen. Und dass die poesie uns die dinge zeigen könnte, wie sie im lichte der erkenntnisgemässeren emotionen, erinnerungen, hoffnungen, atmosphären usw erscheinen. (Zugegeben: vielleicht nichts als eine zweifelhafte verführung...)

4. Natürlich wäre es, wie Du schreibst, für einen architekten viel zu wenig, dass in dem gedicht nur von palast gesprochen wird. Es wird allerdings in dem gedicht nicht nur von dem palast, sondern auch von böden, staub, prunk, bedachtem, von höfen, fenstern, hallen, stufen, toren usw. gesprochen.
Dennoch, Du hast recht: ein Architekt würde wohl fragen: welcher palast, wie sieht er genau aus, wann wurde er gebaut, aus welchem material etc?
Aber dieser einwand scheint mir auf das gedicht bezogen missverständlich: einem architekten geht es zumeist um ein bestimmtes gebäude in raum und zeit. Das gedicht, intendiert aber keine beschreibung des taj mahal oder von versailles oder auch eines bestimmten imaginierten oder fiktiven palasts. In dem gedicht geht also es nicht um deskription eines bestimmten einzelnen palasts. Das gedicht ist (wie alle meine gedichte) nicht realistisch im sinne des literarischen realismus. Deshalb scheint es mir auch nicht gerechtfertigt, dem gedicht proust vorzuhalten. Wobei prousts "recherche" zweifellos auf ihre weise das evoziert, wovon sie spricht; doch wohl auch nicht durch simulation, sondern eher durch verwandlung, die allerdings auch nachahmende (mimetische) momente enthält.
Meine gedichte stehen aber eher in der tradition von hölderlin, baudelaire, mallarme, george, trakl, celan, usw. (Entschuldige bitte diese prätentiöse ahnenreihe). Das gemeinsame wäre hier: das evokative und zugleich allgemeine der begriffe: die begriffe lassen raum für individuelle erfüllung, phantasie des lesers (der ich auch selber bin). – so viel implizit apologetisches, mit bitte um nachsicht.
Es geht mir in dem beispielgedicht jedenfalls auch nicht – und ich glaube bei literatur geht es häufig nicht darum – eine palast-halluzination hervorzurufen, die man dann quasi begehen kann, so dass man in reizvolle selbst-täuschungsmöglichkeiten gerät. Das wäre eher möglichkeit des kinos oder einer cyber-space-darstellung. Viele gedichte, vielleicht auch das palast-gedicht, schaffen jedoch ein ganz spezifisches verhältnis sprachlicher und nicht-sprachlicher paramater. Ihr interagieren im lesen brächte die weissdornhecke hervor - oder den palast. Es ist hier, wie gesagt, eher eine metamorphose, eine verwandlung gemeint: Die sinnlich wahrnehmbare weissdornhecke verwandelt sich in die recherche-weissdornhecke – wenn man dem proustschen text glaubt, und ich bin sehr geneigt, ihm zu glauben. Verwandlung, metamorphose sind nun aber etwas anderes als simulation.


Franz Josef Czernin