Gespräch um Zuneigung


Mit der Bitte, ich solle etwas zur jüngeren Poesie schreiben, wird ausgesprochen, daß ich selbst nicht dazugehöre. Das ist richtig. Mein erster Gedichtband erschien vor 10 Jahren. In den 70ern geborene Dichter, mit ein paar Springern aus den frühen 80ern, geben nun ihr Debüt; viele legen bereits ihren zweiten Band vor. Sie erleben damit, was ich selbst erlebe, wenn ich zurückschaue auf das, was “nach vorn” heissen soll - in etwa: “wohin entwickelt sich die Poesie?”, “wie überbietet sie sich?” -, zunächst aber doch nicht mehr meint als den Fortschritt der Zeit.
Der nicht unbedingt ein Fortschreiten der Dichtung ist. Denn was sollte “Fortschritt” dort heißen?
Doch immer wieder fallen wir dieser Suggestion anheim. Unser eigenes Erleben von Veränderung bestimmt unseren Blick auf “die Literatur” und unseren Versuch, sie zu ordnen. Doch gleich mehrere ungelöste Fragen heben da lachend ihren schlangigen Kopf: wer weiß etwas zu sagen über den Zusammenhang zwischen dem Geburtstag des Dichters und seinen Gedichten? Noch schwieriger: worin drückt sich das Zeithaftende eines Gedichtes aus, wenn wir zum Beispiel nicht wissen, wann und von wem es geschrieben wurde? Gibt es etwas wie eine Atmosphäre, die sich einfangen/anschreiben läßt?
Ihr möchte ich hier auf die Spur gehen, vielleicht auch auf den Leim. Er klebt und lockt, subjektiv wird er sein, zwangsläufig hergesprochen von meinem eigenen poetischen Zeitort, der mit zunehmendem Alter weiter und enger zugleich wird. Ausgedehnt durch die eigene Arbeit, die mehr Jahre gehabt hat, über den Tellerrand der eigenen Sprache und Dekaden hinauszuschauen, doch auch eingeengt durch den eingeschlagenen Weg.
Insofern ist ein Blick auf Debüts und dem Debüt schnell gefolgte zweite Bände aufschlußreich: sie markieren Einsatzpunkte. Das Feld der vernehmlichen Stimmen wird sich zerstreuen, doch etwas wie eine Anfangsbündelung von Wahrnehmung und Ausdrucksform mag sich heute (noch) auftreiben lassen. Meinen Blick bestimmt dabei Nichtzugehörigkeit, doch (relative) Nähe, eine merkwürdige Doppelung: mittendarin zu sein und doch als “andere” zu sprechen.
Durch die poetische Landschaft 1995 lief fühlbar noch der Riss zwischen einer Avantgarde des Sprachexperimentes und einer Tradition eher narrativen Dichtens. Dank Osteinfluß und Generationenwechsel zerkrümelte er. Einzelspieler traten auf. Allmählich veränderte sich unsere Wahrnehmung, denn das Myzel des Poesiepilzes veränderte sich. Slams, spoken word poetry, der Auftritt, die Verständlichkeit. Oralität und Schriftlichkeit traten in ein neues Wechselverhältnis, ebenso medial und wörtlich kreierte Bildlichkeit. Sprachavantgardismus an sich wirkt heute schal. Narration im Gedicht, der alltäglichen Narration wegen, langweilig. Angesichts des allenthalben zu beobachtenden Griffes auf alte Formen und den Reim mag mancher denken “welch seltsame Rückwärstbewegung vollzieht sich hier?” Doch, es handelt sich keineswegs um Nostalgie. Vielmehr um Verbindungsarbeit - das Aufgreifen verlorener Fäden, Bereicherung, Ausweitung. Und insgesamt um eine erstaunlich lebendige Poesie, allemal angesichts der Totenklagen, die sie immer wieder einholen, über ihr ausbrechen, eingeholt werden von ihr.
Ich sehe in der jüngeren Poesie niemanden, der - etwa wie Durs Grünbein - darauf zielte, der politisch-gedanklichen Gravur seiner Zeit auf den Grund zu gehen. Niemanden, der wie Lutz Seiler oder Thomas Kling auf je sehr unterschiedliche Weise historische Forschung betriebe. Keine Stimme, die sich mit Intensität einer Brigitte Oleschinski, Barbara Köhler oder Kathrin Schmidt der (weiblichen) Körperlichkeit und ihrer Verschränkung mit Geschichte, Politik und Kultur annähme. Glücklicherweise auch niemanden, der sich, wie Raoul Schrott, zum poetischen Weltinhaber erklärte. Ich sehe vor allem: Beugung hinab zu kleinen Dingen - und durch sie hindurch. Wahrnehmung, oft zart/fein, ins Detail. Übungen der Zugewandtheit. Verbunden mit Formbewußtsein und formalem Können.

Nach der Natur

Daß die Lyrik der heute 25-35jährigen sich gern der “Natur” zuwendet, zeigt sich schon in den Titeln der Gedichtbände: Die Räumung dieser Parks von Daniel Falb, Jan Wagners Probebohrung im Himmel und Guerickes Sperling, Silke Scheuermanns Der Tag an dem die Möwen zweistimmig sangen, Steffen Popps Wie Alpen. Der Blick in die Gedichte verstärkt diesen Eindruck noch: Monika Rinck, Hendrik Jackson, Marion Poschmann, Ron Winkler, Antja Utler - “Naturschriften” überall, Blüten, Teiche, Gräser, Nadeln, Farne, Moose, Sümpfe, Dünen, Meere, Karste, Strände, Berge, Parks, bevölkert von Herden von Ziegen, Schafen, Pferden, Kühen, Vögeln und Insekten. Doch warum?
Die Antwort auf diese Frage ist unmittelbar mit dem Aufleben alter Formen verbunden. Naturbezug und Formgebrauch haben einen gemeinsamen Fluchtpunkt. Er heißt “ich”, oder, neutraler gesagt, “Sprechinstanz des Gedichtes”. Und heißt damit auch “Individualität”.
In eben diesem Fluchtpunkt bildet sich die Atmosphäre der Gedichte. Er ist der (Frucht-)Knoten, der die Möglichkeit austreibt, sie zu sprechen/schreiben. Er ist gut versteckt, denn ein schwankendes, schwaches, um sich suchendes Sprechich braucht Anderes, um zu erscheinen. Es braucht das Gerüst einer Form, um sich aussprechen zu können - nicht im übertragenen Sinn des “sich das Herz Ausschüttens”, nein, grundsätzlicher: um überhaupt “ich” zu sagen. Ein innerer Bedarf nach jenem anderen, das lebt, doch nicht menschlich ist, jenem anderen, das uns ständig umgibt, dem wir zugehören, ohne identisch mit ihm zu sein, das wir stets neu erfinden, in Abgrenzung zu Kultur, an die wir nicht (mehr) glauben - Natur also, Ort der Verwandlung, der - eben als solcher - vielleicht geeignet ist, das sich verwandelnde Subjekt, beschleunigt und globalisiert, in seine Mutationszyklen nicht aufzunehmen, doch sich selbst spiegelnd zurückzugeben. Als Fläche der Projektion, als Übungsort.
Zweierlei erklärt dies: jene wischende Bewegung im Subjektgebrauch, die sich in den Gedichten so oft findet (dazu gleich mehr). Und warum kaum über Naturzerstörung geklagt wird. Dies hat keineswegs mit Wahrnehmungslosigkeit der Dichter zu tun, ebensowenig mit Desinteresse an “Politischem”. Sehr wohl zu tun hat es jedoch mit dem Anspruch ans Gedicht - das sich nicht plakativ ins Tagesgeschehen mischt, sowie mit dem Bedürfnis nach dieser “Natur”, wie heruntergekommen sie auch sein mag. Es folgen daher ein “Ist-So” und vorsichtiges Einhaken. Was sich an Natur findet, wird als Faktum genommen, strotzend, lebendig und fett, oder auch mickrig, versifft, verblüht.

die zierkirsche ist gerade verblüht.

ich hatte das fehlerhafte rosa gegen das parkhaus

fotografieren wollen, das entstehungsjahr

dieser ganzen anlage ist vermutlich ebenfalls


1973, ein sperling bei den containern,

ich hole ein luftgewehr


und treffe ihn erstaunlicherweise,

d.h. er bleibt sofort liegen. dann, karnevalesk,


der rückzug ins badezimmer, wo vor dem spiegel

gesichtsausdrücke geübt werden.


Die Zierkirsche, der Sperling - zwei Bestandteile der Stadtnatur, gekünstelt, aber auch überlebensfähig - geben in Daniel Falbs Gedicht dem Ich jeweils Anlaß und Möglichkeit zu erscheinen. Lapidar. Ein Ich, beschäftigt mit Aufzeichnung. Es will fotografieren. Es wertet (“fehlerhaft”) und deutet etwas wie historisches Bewusstsein an (“vermutlich ebenfalls/ 1973"). Da sollten bis zur Geburt des biographischen Ichs Daniel Falbs noch vier weitere Jahre vergehen. Was das “ebenfalls” bedeutet, bleibt offen - hier genügt dem Gedicht eine Andeutung, ein Strich. Die historische Dimension ist nicht ausschlaggebend, wird am Ende aber eingeholt. Der Fokus liegt zunächst auf Bewegung und Maschinen. Getauscht wird der Fotoapparat gegen das Luftgewehr; mit beidem läßt sich schießen. Doch gelingt der Schuß? Das Fallen des Sperlings erinnert an Abschüsse in einem Computerspiel. Virtualität und Realität klappen in eins. Bild ist Bild - und auch das Gedicht macht eines. Knapp und präzise kehrt es ein zur Zeichnung eines Ichs auf Kriegszug - jede Bewegung ein Einfangen, Festhalten, ein Vorstoßen und “Rückzug”. Ins Badezimmer, den klassischen Ort der Initimität und des kontrollierenden Blickes in den Spiegel. Auch hier wird dies angedeutet, aufgerufen. Doch was tut das Ich: es übt Gesichtsausdrücke.
Merkwürdig? Ganz normal. Gesichtsausdrücke werden gelernt. Allerdings im Baby- und Kleinkindalter. Doch: einer, der wie das Gedicht andeutet, aus dem Jahr 73 stammen könnte, und auf jeden Fall mit einem Luftgewehr schießen kann, übt noch immer. Ein Vorgang, der zu unserer Sozialisation gehört - normalerweise aber “natürlich” (von uns unbemerkt, durch natürliche Nachahmung) abläuft, wird sichtbar. Verlangsamt. Verzögert Das “Ich” ist Maschinenträger. Emotion und ihr Ausdruck fehlen ihm, werden aber gebraucht. Also üben. Wie ein Avatar. Der übt ja auch, nach Programm.
Und die Wirklichkeit kippt zwischen Spiegel und Halterung. Der Sperling fällt, aber ist deswegen tot? Oder ein Videospuk, die gleich wieder auffliegen wird? Auch das heißt “nach der Natur.” Und woher kommen die Fehlfarben der Zierkirsche? Aus Züchtung oder aus dem binären Programm?
Die Stadtlandschaft aus Parkhaus, Zierkirsche und 1973 ist sofort zu erkennen. Und das verrumpfte “Ich”, das nicht empfindet, aber Empfindung sucht.
Sich danach sehnt. Sie braucht.
Es gibt Untersuchungen, wie Gesichtsausdrücke Empfindungen erzeugen. Lachen Sie fünf Minuten in den Spiegel, Ihre Laune hebt sich. Schneiden sie fünf Minuten sich selbst böse Grimassen, Ihre Stimmung wird sich verschlechtern. Das Gefühl folgt dem, was normalerweise seine Folge ist. Kausalität dreht sich im Kreis.
Ein Subjekt also beim Üben der Subjektvität. Hier Schritt um Schritt im Zweizeiler gesprochen. Stets ist die erste Zeile kürzer als die zweite, bis auf jenen Moment, in dem das Luftgewehr geholt wird und jenen vorm Spiegel.
Wir sehen: ein lädiertes und andere lädierendes Subjekt. Im Entstehen begriffen. Umgeben von gebauter Natur.

Oden nach der Natur
nennt Marion Poschmann die ersten sieben Gedichte ihres zweiten Gedichtbandes Grund zu Schafen. Nach der Natur hieß zuletzt ein Gedichtband von W.G. Sebald. Während er in drei Langgedichten historischen Gestalten auf Wegen durch Natur- und Kunstspekulation folgt, zoomt Poschmann schon im ersten Gedicht “kleines Rasenstück” unter leichter Anspielung auf A. Dürer ins Niedrige. “Nach der Natur” ist ein klassischer Untertitel der Gemäldetradition; auch von Poschmann wird er in seinem Doppelsinn benützt. Zum einen als Fingerzeig auf Kunst, die Natur nachahmt, zum anderen als Hinweis auf ein zeitliches der Natur Folgen. Sie mag vielleicht gar nicht mehr existieren oder doch halb verloren sein. Auch hier fehlt eine explizite Klage darüber, sofern nicht die Form der Ode Klage impliziert in eben jenem Preis, für den sie steht. Ein Lobgesang, der Rückwendung enthält, indem er etwas besingt, das bereits abhanden gekommen, aber noch sichtbar oder wünschbar ist.

kleines Rasenstück

100g Gras, wie Licht, das sich bewegte,
Licht, das knitterte, schnelle Lebensläufe
ohne Höhepunkte, Schwarzweißaufnahmen:
nickende Blitze.

Gras spritzte auf, fiel über Gras, von Winden
hingekritzelt, von Winden ausgedehnt nach
Zentimetern, Gras, dieser strenge Glanz, zu
Halmen gefaltet,

Gras überwog uns schon - wuchs Gras darüber,
hob sich, senkte sich, wimmelnd, flimmernd, Gras, so
haltlos wurzelnd über dem hellen Abgrund
unserer Hirne.

Anders als Sebalds Langgedichte Nach der Natur sind Poschmanns Oden auffällig kurz. Etüden auf einem Formklavier, Anrisse, schön und intensiv. Sie bereiten einen spezifischen Grund für das Subjekt. In zwei der sieben Naturgedichte kommt es nicht vor, sie erweitern den Boden der belebten “Dinge”, aus dem in den anderen fünf Eingangstexten möglichst dezent, oft zart/huschend, ein Subjekt auch grammatisch erscheint. Anwesend sind zuerst: Gras, Baum, Wolke, Wind. Und implizit ein “Jemand”, der wahrnimmt, der spricht. Er, ganz klein, zoomt sich in die “Natur”. Gras und Nadel sind belebt - und beschrieben. Verglichen, gewogen. Was gesagt wird, ruht auf unseren Systemen der Weltvermessung und des Weltumganges auf: 100 Gramm Gras. Mehr wird über das wahrnehmende Subjekt nicht gesagt, es fungiert als eine Art Sehhülle. Das hat Tradition in der “Naturlyrik”, ebenso der Blick, durch den eingedrungen, kategorisiert und beherrscht wird.
Das Ende der Poschmannschen Odes stellt dies auf den Kopf: Gras wuchert über Auge und Hirn. Ende der Vermessung. Nötig dafür wird das Auftauchen eines Subjektes als ein in einen Fall gebeugtes Pronomen: “uns”. Schon überwachsen, nur eben noch sichtbar.
“Uns” meint in Fall dieses Gedichtes uns alle; im übrigen verwendet Poschmann häufig ein symbiotisches Wir aus einer nicht weiter ausgeführten Paarkonstellation, die Restwärme sucht. Oder ein Du, das sowohl als Anrede eines anderen als auch als Selbstanrede fungiert. Immer jedoch ist es eingeflochten in den Fortlauf des Gedichtes, selten zentral. Eingekreist und umschrieben durch den odenhaft repetetiven Gang wird vielmehr ein Gefühl. Die Helligkeit des Textes, die Heftigkeit seiner Bewegungen und sein Umtänzeln des Abgrundes spielen doppelt auf unserer Stimmung, in einem ambivalenten Riss zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Gras wächst darüber. Auch über uns. Doch was geschieht davor?
Kurze Lebensläufe in Schwarzweiß, fotografiert, ohne Höhepunkt?

Ungewißheit

des Anfangs; zwei Blechbüchsen, ruhelos, windig, rollen im Kopf


Gefühle: Aufhören, Verlassen. Kleines Aufatmen/Horchen. Geben, sich recken, kaum sprechen.

Aus dem Wind oder Gras entstehende, schauend überwucherte und geschälte Subjekte sprechen wenig. Vorsichtig sind sie - sie tun sich schwer mit der Rede. Falbs Sperlings-Ich blieb stumm, verzog nur das Gesicht. Poschmanns “uns” im Rasenstück ebenso - ihm geschieht etwas. Und das allein durch die Wendung “im Kopf” implizierte Ich des Gedichtes Linien ziehen bei heftigem Wind, dessen Ende hier zitiert ist, fühlt zwar, aber weiß nicht recht, was das Rollen im Kopf sein mag. Blecherner Klang. Doch, immerhin, etwas geschieht, ein Gefühlstumult geradezu - Abschied, Ende, Erleichterung, alles in heftigem Wind, ein Aufatmen, auch Gegenatmen (gegen das Windreissen). Jemand kann horchen, etwas geben, wachsen. Aber kaum sprechen.
Wenn ich nach Poschmanns Eingangsgedicht jetzt auf das Eröffnungsgedicht von Jan Wagners Guerickes Sperling zu sprechen komme - vorsichtig, doch sprechend - so zeigt sich, woher mir der hier vorgestellte Gedankengang entgegensprang. Anfänge - markierte, akzentuierte Stellen eines jeden Buches.
Die Frage nach der “Natur” im Gedicht führt zu einer Frage: sprechen - doch wie? Jan Wagners botanischer garten geht im Vergleich zu Poschmann den umgekehrten Weg. Setzt ein mit einem Ich, endet mit stummen Wesen. Sie sind tot, sprechen aber auch im Leben nicht, da singen sie. Verbunden mit Falbs Ich, das Gesichter übt, ist Wagners Gedicht durch eine Außenlandschaft, die vollständig von Menschenhand geformt wurde. Botanischer Garten - eine Art Zoo für Bäume, international angelegt, eine Jahrhundertwendeidee. Vergangenheit ist anwesend, in verschiedenen Formen:

botanischer garten

dabei, die worte an dich abzuwägen -
die paare schweigend auf geharkten wegen,
die beete laubbedeckt, die bäume kahl,
der zäune blüten schmiedeeisern kühl,
das licht aristokratisch fahl wie wachs -
sah ich am hügel gläsern das gewächs-
haus, seine weißen rippen, fin de siècle,
und dachte prompt an jene walskelette,
für die man sich als kind den hals verdrehte
in den museen, an unsichtbaren drähten,
daß sie zu schweben schienen, aufgehängt,
an jene ungetüme, zugeschwemmt
aus urzeittiefen einem küstenstrich,
erstickt an ihrem eigenen gewicht.

Ein Sonett, nicht auf ersten Blick im Druckbild zu sehen, wohl aber zu hören: Reime durch Alliteration und Einsilbigkeit, Assonanz. Und ein Paradox: es spricht ein Ich, das schweigt. Worte an ein Du, die es abwägt, also nicht sagt, zwischen anderen Paaren, die ebenfalls schweigen. Anders als bislang: Ort und Zeit werden benannt, ebenso der Sprechanlaß, eine konkrete soziale Situation. Doch der Versuch, im Paar zu kommunizieren, driftet ab in eine Kindheitserinnerung. Intim, aber auch abgeschlossen - etwas Solipsistisches haftet ihr an. Ist es das, was am Ende am “eigenen gewicht” erstickt, und zugleich, von Menschenand, schwebend hergerichtet wird? Gläserne, trennende, skelettartige Erinnerung? Natürlich: die alten Wale, angeschwemmt durch ein Naturunglück. Dazu der Gewächshauswal, der im Park liegt, in dem Ich und Du sich spiegeln. Menschen, stumm zwischen der gebauten Kreatur des Gewächshauses, den erinnerten Skeletten und einem - umschriebenen - Gefühl, das den Hals zuschnürt, die Rede klemmt. So der Horizont der alten-neuen Jahrhundertwende. Der Spiegel des Badezimmers mutiert zum Spiegel des Gartens - hinter dem ein Du erscheint, das, wenn schon nicht im Gedicht, so doch wenigstens durch das Gedicht angesprochen sein kann.

Andere Formen, inmitten von “Natur” beredt zu schweigen-sprechen und ein Subjekt, sofern es denn denkbar ist, aus Schneefall, Regen oder Wolken zu entbinden, benützen Hendrik Jacksons Wettergedichte (bislang unveröffentlicht). Wetter, das uns macht - Wetter als Raum, in dem wir erscheinen:


die Tür klappte auf: der Schnee fiel in dichten weichen
Flocken, stäubte, da begann etwas halb Vergessenes,
Gedanken passierten mühelos - zwei standen unbeachtet
wie wir damals, aufmerksam auf einen Arm (Pelz),

auf eine Wendung, erstaunt, im Gespräch um Zuneigung;
das Fahrrad, Gestänge und Lenker, Schnüre und Speichen
wurden weiß, wie von Kokos überrieselt (die schweren Mäntel),
feine, zweifelnde Versprechen, dein zurückgestecktes Haar


Keiner da, der denkt. Vielmehr: Gedanken, personifiziert, passieren. Sie geschehen und gleiten hindurch. Durch wen? Also doch jemand da, der erinnert, denn er weiß, was Vergessen ist und kann Beginn orten - beginnen also mit einer Erinnerung. Dieser Jemand sieht ein Paar, das angeblich unbeachtet steht, was nicht stimmt, denn der Sprecher des Gedichtes und wir beachten das Paar ja nun, und damit eben auch jenes durch einen Wie-Vergleich hergestellte zweite Paar, zu dem der Sprecher selbst gehört. Im Nu, durch eine grammatische Wendung, sind vier Personen im Spiel - von denen wir fast nichts wissen. Zwischen den Strophen/Zeilen stellt sich Sprache zu ihnen: Arm-Pelz-Wendung. Dreierlei, aneinander gesetzt, ohne vergleichbar zu sein. Doch scheint das eine durch das andere hindurch: der bepelzte Arm eines Satzes - einer Wendung, die Geste des Körpers ist, als Armgeste oder Sprachgeste, Wendung und Umkehr - jedenfalls ein erstaunlicher Zug. Denn hier wird, ohne dass ein Subjekt individualisiert oder auch nur grammatisch aufgetaucht wäre, gesprochen, sogar miteinander. Und zudem um etwas gesprochen/verhandelt, was sich Zuneigung nennt, worin “Wendung”, übertragen und konkret, wiederkehrt. Als Wendung des Halses, des Kopfes (im Licht der letzten Zeile wird das sichtbar), als Zuwendung auch. Doch vorsichtig, gespiegelt im Wettergeriesel, das etwas schneit, was dieser Versuch werden kann, den hier zwei unternehmen - feine zweifelnde Versprechen. Verstärkt vom Mitklang der Gedichte Poschmanns, Falbs und Wagners, ist die Doppeldeutigkeit jenes Versprechens nicht zu überhören: etwas versprechen oder sich - oder gar sich als etwas? Oder ist immer beides gemeint, wie hier auch? Richtiges und falsches Sprechen in einem. Zweifel sind da wohl angebracht - beim Sprechenden wie Hörenden, der vielleicht zu (ver)sprechen ansetzt.
Das Gedicht endet mit “dein zurückgestecktes Haar”. Ein Du, das eher weiblich scheint (ohne dies sein zu müssen), angesprochen von einem vielleicht weiblichen, vielleicht männlichen Du (der Suggestion, Geschlecht des Autors und des Sprechichs des Gedichtes stimmten überein, sei hiermit eine Nase gedreht). Ein Du: das Haar zurückgesteckt, also nicht gegeben, sondern gehalten. So wird der Kopf sichtbarer, auch jede Wendung, wie Zuwendung - oder Abkehr. Ein Du, angesprochen oder als Sprechdu fingiert - das ist unentscheidbar, nämlich exakt zwischengemalt. So entsteht eine überrieselte Figur aus zwei möglichen Paaren, Fahrrad und Tür. Nur dank der Überstäubung mit Schnee (Natur, Wetter) erscheint sie überhaupt - erst in jenem Augenblick, als die Tür aufgeht, der Innenraum eines Hauses/Wohnung durchbrochen ist, wird sie sprechbar, als Wendung und Satz - auf Zuneigung, erstaunt.

“diese biologischen Paläste”

(Daniel Falb)

Entschälung des Subjektes in Flügel, Flüssiges,Vorsprachliches: Marsyas, der Geschundene, bei Anja Utler. Einschalung hingegen und dadurchfragiles Erscheinen des Subjektes unter Walsskeletten, Schnee oder Gras: Wagner, Poschmann, Jackson. Glitschen des Subjektes aus dem Anfühlen einer fetten Pfingstrose, im Eröffnungsgedicht des Bandes Verzückte Distanzen von Monika Rinck. Falb: “diese biologischen Paläste”, menschlichen Körper, die - eventuell - Gefühle lernen, im Blick auf weitere Biologie. Schreiben in Zeiten massiver Eingriffe in “Natur”, Schreiben nach der Entschlüsselung des Genoms: alle.
Keiner der genannten Dichter setzt sich damit wörtlich auseinander. Doch wir, beim Lesen, wissen davon. 100g Gras, Wale, erstickt an ihrem eigenen Gewicht, und unser eigener “biologischer Palast” leuchten anders in diesem Licht. Echt oder unecht, wie soll das zu unterscheiden sein, auf Bildschirmen oder an Realkörpern, gezüchtet, geschnitten, überwuchert, gemacht?
Als Fluchtpunkt hinter dem Fluchtpunkt, als eine Art Mond, der um den fragwürdigen Planeten des Ichs kreiselt, in dem Naturbezug und Formbewußtsein sich schneiden, erscheint die Frage: wie formieren sich das Selbst und seine Wahrnehmung in einer Welt, die derart in “Natur” einzugreifen imstande ist, gewaltsam oder scheinbar harmlos im Kleinen, brechend oder manipulativ, verborgen oder im Mediengebrauch offensichtlich.
Dies gilt, als Außenbedingung, für uns alle.
Einschälen und Ausschalen, das Subjekt rinden und - doch - finden? Was bedeuten Gefühle? Wie drücken sie sich aus? Haltepunkte, wenigstens als Spiegelungen, suchend erfinden in dem, was immer nur be-schrieben ist. Gefühle fraglich, doch wir müssen sie lernen, denn wir sehnen uns danach. Und können lernen, als Leser, vorm Spiegel des Gedichts.
Gespräch um Zuneigung. Ich übe dich.


Ulrike Draesner

veröffentlicht in bella triste 11 (siehe auch: http://www.bellatriste.de)