Wespe, komm

Wespe, komm in meinen Mund,
mach mir Sprache, innen,
und außen mach mir was am
Hals, zeig's dem Gaumen, zeig es

uns. So ging das. So gingen die
achtziger Jahre. Als wir jung
und im Westen waren. Sprache,
mach die Zunge heiß, mach

den ganzen Rachen wund, gib mir
Farbe, kriech da rein. Zeig mir
Wort- und Wespenfleiß, mach's
dem Deutsch am Zungengrund,

innen muß die Sprache sein. Immer
auf Nesquik, immer auf Kante.
Das waren die Neunziger. Waren
die Nuller. Jahre. Und: so geht das

auf dem Land. Halt die Außensprache
kalt, innen sei Insektendunst, mach
es mir, mach mich gesund,
Wespe, komm in meinen Mund.



Zu "Wespe, komm"
von Marcel Beyer

Wenn mir ein Gedicht zufliegt, macht mich das erst einmal mißtrauisch. "Wespe, komm" begann unerwartet, auf einer Zugfahrt vom schwedischen Nässjö nach Kopenhagen, mit dem Insekt stellte sich eine Klangfolge ein, mit dem Artikulationsapparat erschienen die Reime, das Versmaß zielte zwischen Stirn- und Brusthöhle, ich notierte "Schlund, Sund, Fund" - leicht hätte das Sprachgeschehen noch vor Erreichen des Flughafenbahnhofs in ein Gedicht münden können, ich aber sah mich überrumpelt, schreckte zurück, schlug das Notizheft zu.
...Wie man Wespen erledigt: "mit der zeitung / der illustrierten; mit dem kehrblech; mit dem handtuch", heißt es in einem frühen Gedicht von Thomas Kling. Er war es, an den ich dachte, von ihm, der Schwedisch sprach, war beim zurückliegenden Festival nachts in der Raucherecke die Rede gewesen, voller Bewunderung, nachdem er den jungen schwedischen Dichtern vor Jahren mit einem Auftritt in Göteborg neue Welten eröffnet hatte. Thomas Kling, der europäische Wespendichter - "indem wir beenden wir die fluggeometrie", heißt es in seinem ersten "wespen"-Gedicht, und in seinem letzten Buch, der "Auswertung der Flugdaten", berichtet er noch einmal "Neues vom Wespenbanner". Mag sein, daß er, aufgrund seiner schweren Erkrankung kaum mehr bewegungsfähig, im August 2004 an diesem letzten Wespenzyklus arbeitete, während mir auf der Reise ein Gedicht zufliegen wollte.
...Gedichte sind, unsentimental betrachtet, immer auch einfach: In Vibration versetzte Atemluft. Die Vorstellung aber, Thomas Klings Leitinsekt anzurufen und die von ihm durchschwirrten Verse vor Publikum zu Gehör zu bringen, ließ mich stocken. Ich haderte mit dem Motiv. Und ich haderte mit der Mündlichkeit. Ein halbes Jahr lang blieben die Notizen liegen.
...Erst die Aussicht, für eine fremde Stimme zu schreiben, lenkte meinen Blick auf das Wespenmaterial zurück. Enno Poppe hatte den Kompositionsauftrag für ein Lied angenommen und wünschte sich von mir eine Textvorlage von sechs bis acht Strophen zu - vorwiegend - ein- bis zweisilbigen Wörtern. Er plante einen Gesang für Solostimme, Klänge hatte er bereits im Ohr: ein Stück, bei dessen Darbietung der Interpret sich seiner stimmlichen Fähigkeiten bewußt werden würde. Die Möglichkeiten des eigenen Artikulationsapparats erkunden, während man denselben thematisiert - unter diesem Gesichtspunkt flog nun das Gedicht nicht mir, sondern ich dem Gedicht zu. Rasch fügten sich die halben Verse zu einer Abfolge, vom geläufigen Wortschatz zu Neologismen, von leicht zu artikulierenden Wörtern zu komplexeren Konsonantenkonstellationen, von ein- und zweisilbigen Wörtern in der ersten Strophe schrittweise hin zu viersilbigen in der abschließenden fünften.
...Wird die in Gedanken vor dem offenen Mund herumfliegende Wespe eine Irritation darstellen, oder wird sie helfen, die Konzentration ganz auf die Darbietung zu lenken, fragte ich mich, wird sie das Zentrum des Gesangs darstellen, oder wird sie sich mit Hilfe der ausströmenden Atemluft beiseite singen lassen? Damit war die notwendige, professionelle Distanz gewonnen, ohne die innige Nähe preisgeben zu müssen. Die Wespe war eine andere geworden. Und noch immer dieselbe.
Die Sopranistin Silke Evers sang "Wespe", wie die Komposition von Enno Poppe nun heißt, bei der Uraufführung im Sommer 2005 in Berlin, und mittlerweile hat der Countertenor Daniel Gloger das Stück in sein Repertoire aufgenommen. In der Gewißheit, daß die Wespenanrufung bei anderen Interpreten - in fremden Rachenräumen gewissermaßen - gut aufgehoben ist, konnte ich mir das Gedicht zurückholen: Zum erstenmal vorgelesen habe ich "Wespe, komm" dann, soweit ich mich erinnere, in Stockholm, wenige Wochen nach dem Tod von Thomas Kling.


aus der Anthologie: "Laute Verse", herausgegeben von Thomas Geiger, dtv 2009

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