nicht farbe

an hände denken, an das netz,
derweil die schwester, unbesprochen,
ins nebenzimmer geht. die stille, fremder
atem durch die wand, der sonntagstee,
der auf dem tisch schon auskühlt,
trübe wird. so liegt sie da, die augen
offen, und jedes wort zieht unberührt
an ihr vorbei. nicht sprechen, nicht
an die tapete gehen. was sich da häutet,
schichtet, nah sich aufeinanderschiebt.
das kriecht die wirbel noch entlang,
drückt nach in den knochen.
die tage unter pflanzen, vasen,
das wellige an ihrem haar. die lichten
stellen an den wänden, der lysolgeruch.
nicht sprechen, erst wenn der besucher fragt,
erst wenn die hand, die fremde hand,
geschüttelt ist. und nicht den zungenstand
vergessen. nicht die geräusche.
war da ein zischen hinter der tür?
war da ein keuchen, wasserdampf? nichts
will sich lösen, zeichen sein, was sich bewegt
scheint doch zu verharren. stumm,
unnahbar, ihre kinderlippen, man sieht
das haarnetz, ihre müden augen.
es nimmt nicht farbe an, das gesicht




Zu "nicht farbe"
von Nico Bleutge

"Das Gedächtnis", hat Jürgen Becker einmal geschrieben, "ist ein stummes Archiv, in das nur die Erinnerung Leben hineinbringt, oder anders, aus dem sie ihre Bilder hervorholt". Eine Asservatenkammer geistiger und körperlicher Eindrücke, deren Ordnungssystem niemand kennt. Was dort abgelagert ist, bestimmt die Wahrnehmung bis in den kleinsten Impuls hinein. Aber meist merkt man das gar nicht, weil sich das Bewußtsein im Vollzug nicht reflektiert. Es bedarf einer eigenen Art von Anstrengung, um die Bilder und Szenen zu finden, die einen bestimmten Abschnitt von Zeit, von Leben, ausmachen. Manches aber hat sich damals so rasch abgespielt, daß nur Reflexe hängen geblieben sind, Spuren, kaum sichtbar, die sich heute nur zeigen lassen, indem man etwas dazu erfindet, Verbindungen herstellt, einen Zusammenhang.
Im Herbst 1999 kam meine damals 90jährige Großmutter in ein Altenheim. Obwohl sie immer betont hatte, das Lebensende in ihrer Wohnung verbringen zu wollen, ließ es sich nach einem körperlichen Zusammenbruch im Sommer desselben Jahres nicht mehr vermeiden, ihr einen Platz in einem Heim zu suchen. Die ganze Familie hielt es für besser, die Großmutter in dem Glauben zu lassen, es handele sich nur um eine Art Reha-Maßnahme. Als sie einige Monate später merkte, daß sie nicht mehr in ihre Wohnung zurückkehren würde, hörte sie auf zu sprechen. Kein Ton mehr, nicht ein einzelner Laut. Die letzten Bilder, die ich von meiner Großmutter im Gedächtnis habe, sind die eines stummen Körpers in einer Wolldecke, dessen Leben nur die warme Hand anzeigt.
Diese Erinnerung gehört zu den intensivsten, die ich mir überhaupt wachrufen kann, aber sie ist eigenartig stumm, verbleibt in einer Art vorsprachlichem Bereich, wie jener Moment, den sie in sich verwahrt.
"Kann ein zeitloser Augenblick des Bewußtseins", fragt der Dichter Charles Simic in einem Essay, "jemals angemessen in einem zeitabhängigen Medium ausgedrückt werden, das heißt in Sprache?" Oder anders formuliert: Wie kann man Bewußtsein mitteilen, den gegenwärtigen, intensiv gelebten Augenblick, der sich der zeitlichen Ordnung des Satzes genuin entzieht? Wie bleibt man dem Augenblickspunkt treu mit dem Textnacheinander? Wie erzeugt man ihn? Wie kann man die Vibrationen der Wahrnehmung und des Denkens, all die Schwingungen und Wölbungen in den Sätzen spielen lassen?
Die Erinnerung an das Nicht-Sprechen der Großmutter stieg erneut in mir auf, als ich vor kurzem eine gute Freundin im Krankenhaus besuchte. Wieder die sterile Atmosphäre einer eng umgrenzten Institution, wieder die Trauer, wieder die Unfähigkeit zu sprechen, diesmal aber, weil die Freundin eine Operation an der Lunge hinter sich hatte und der gesamte Bereich der Atem-und Sprechorgane geschont werden mußte. Die Wiederkehr der Erinnerung wirkte wie ein Stachel in mir. Ich begann nachzufragen, vergegenwärtigte mir Bilder, suchte das Gedächtnis nach Stimmen und Sprachresten ab. Es ließ sich keine Einheit finden, aber zwei Worte schwangen immer mit, einem rhythmischen Zeremoniell vergleichbar: nicht sprechen.
Doch es war nicht nur eine Signatur für die damalige Situation im Altenheim oder für die momentane im Krankenhaus. Bald schon schien es überhaupt keine Details mehr zu betreffen, sondern bezog sich auf etwas Allgemeines. Etwas, das weniger mit meinen privaten Erinnerungen zu tun hatte als mit der Arbeitsweise der Erinnerung und mit dem Wesen des dichterischen Sprechens. "Wie Bewußtsein mitteilen …", ging es mir wieder durch den Kopf. Die drei Weisen des Nicht-Sprechens vermischten sich im Laufe der Arbeit an dem Gedicht bis zur Ununterscheidbarkeit - als wären sie die unsichtbare Spur, die den Erinnerungen in ihrem Innersten Halt verleiht. Vielleicht ist ein Gedicht nichts anderes als der paradoxe Versuch, entgegen aller Linearität Augenblickspunkte zu erzeugen, etwas Aufblitzendes, Momenthaftes, so in den Versen einzuholen, dass der Text die Lebendigkeit eines Körpers erhält.


aus der Anthologie: "Laute Verse", herausgegeben von Thomas Geiger, dtv 2009