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Rolandslied

Und gingen wir durch meine Mutterstadt
fast lautlos, sprach er nichts, als bliebe es so
ungesagt und lag in diesem Sommertag
ein heißes Flüstern, gab uns kein Baum,
kein Tunnel Schatten, ließ meine Hand von
seiner Hüfte ab und fragte er mich nach
des Laudons Grab – ich weiß nicht, glaub,
er wollte nicht mehr weiter,
mein Vater.




Vom Roland und anderem Vertrauten von Nora Bossong

Ein Gedicht entsteht irgendwo auf dem Weg zwischen erster Überlegung und letzter Überarbeitung. Das eine ist bereits da, wenn ich etwas sehe oder mir das Gesehene im Kopf wiederhole, es braucht noch Worte, aber das Bewusstsein des Textes ist vorhanden. In einem anderen Fall schält sich das Gedicht viel später, durch das Verändern des einen und anderen Wortes aus einem rohen Zeilenhaufen heraus. Der Kern des Rolandsliedes könnte während des Zusammentragens, Sichtens und Verwandelns von Material entstanden sein.
Für mich ist der Bremer Roland seit jeher tief mit meiner Heimatstadt verbunden, ein Bild, das die Stadt bedeutet. Den Mittelpunkt des Marktplatz besetzt haltend, ist er Treffpunkt, Orientierungsmöglichkeit, etwas, dass in das Leben hineinragt, ein unabschaffbares Attribut der Gegend, wie mir auch Bremen als vom Roland nicht wegdenkbar erscheint. Als Kind war ich sicher, der Roland müsste eine Gestalt sein, deren Ursprünge und größte Taten in meiner Heimatstadt zu finden seien. Als ich erfuhr, dass es in zahlreichen Städten Rolandstatuen gibt, bröckelte die Einzigartigkeit der für mich familiären Figur wie vom Abgas zerfressener Kalkstein.
Historisches Vorbild für die Rolandsfigur ist der fränkische Markgraf Hruotland, der für Karl den Großen im 8. Jahrhundert in den Krieg gegen die Mauren zog. Ruhm hat ihm nicht allein der Krieg, sondern auch und vor allem die Verwendung seiner Person in einem französischen Versepos aus dem 12. Jahrhundert eingebracht: Dem Rolanslied. Hier taucht er als Hauptfigur und Neffe von Karl dem Großen auf, der sich mit seinem Stiefvater Ganelon, Schwiegersohn Karls, überwirft, Der Stiefvater lockt ihn wenig später in einen Hinterhalt. Roland, zu stolz, mit einem Signalhorn Hilfe herbeizurufen, stirbt auf dem Schlachtfeld.
Ich versuche neue, mögliche Verbindungen zu ziehen, eine Übertragung des Stoffes auf ein neues Feld: Ich stellte zunächst die im Rolandslied tradierte Täter-Opfer-Zuschreibung auf den Kopf, nicht mehr Stiefvater, sondern das Kind ist es, das in den Hinterhalt zu locken versucht. Auch handelt es sich nicht mehr um einen Sohn, sondern um eine Tochter, ein adoleszentes Mädchen, dessen Problem weniger die Mauren sind, sondern vielmehr die Suche nach einer sexuellen Orientierung - und das sich hierbei, aus Angst vielleicht, an das Vertraute, Familiäre hält. Den Stiefvater mit der Wahl unwissentlich in eine missliche Lage bringend (denn es wählt gerade ihn), übersieht das Mädchen sowohl die Grenzen des gesellschaftlich Akzeptieren und Moralischen, aber auch die persönlichen Grenzen des Stiefvaters - letztere bemerkt es nach und nach, fast verwundert: "ich weiß nicht, glaub,/ er wollte nicht mehr weiter,/ mein Vater."
Vor zwei oder drei Jahren - im Sommer, im Hochsommer sogar - schrieb ich an jenem Gedicht. Ich trug zusammen, was für mich zusammen gehörte oder gehören konnte, prüfte, ob ich richtig darin lag, ob sich dieses oder jenes in den entstehenden Text aufnehmen ließ. Ich wählte natürlich nicht rein objektiv, ich wählte schneller das, was mir zu jener Zeit nah war: Ein Freund hatte eine Hausarbeit zu Zwetajewa geschrieben, mir von ihr, von ihren Gedichten erzählt. Eine Stimmung aus einem bitteren Liebesgedicht trug ich mit mir herum, ein Sommertag, ein heißes Flüstern. In einem Gedicht von Ilse Aichinger wiederum hatte ich ein befremdliches Zusammentreffen von Vater und Tochter gefunden und die Frage nach Laudons Grab, jenes österreichischen Feldmarschalls, der im Siebenjährigen Krieg die Armeen von Friedrich dem Großen zweimal besiegte. In Aichingers Gedicht fällt Schnee.
Wie gesagt, es war im Sommer, im Hochsommer sogar und ich glaube - nein, ich bin mir sicher, dass ein anderes Gedicht entstanden wäre, hätte ich es im Herbst geschrieben, wie ich auch glaube, dass es nicht genau dieses geworden wäre, trüge der Bremer Roland andere Farben oder hätte ich seltener Gedichte von Aichinger gelesen oder wäre ich in einem vom Zentrum weiter entfernten Stadtteil aufgewachsen. Wie ich auch glaube, dass jedes Gedicht Zeugnis oder Opfer seiner Umstände ist: Eine Woche später entstanden, hätten sich im Kopf anderen Verbindungen offenbart, andere Bezüge hergestellt, hätte man in eine andere Richtung geforscht.
So bewusst sie auch durchdacht, so gekonnt sie auch gearbeitet sind: Ich glaube, es gibt keine Gedichte. Es gibt sie nur zufällig.


aus der Anthologie: "Laute Verse", herausgegeben von Thomas Geiger, dtv 2009