Eine chronographische Tauchfahrt
– zu Uwe Tellkamps Nautilus –
Auch wenn der Stapellauf des Nautilus im Sinne einer Publikation noch aussteht,
wird dem neuesten literarischen Projekt Uwe Tellkamps bereits im Vorfeld der
Mut zu einem großen Entwurf attestiert. Uwe Tellkamp, der dieses Jahr
mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, begibt sich mit dem Nautilus
auf eine poetische Tauchfahrt in die Tiefen der europäischen Geschichte.
Das lyrische Epos, das als eine detaillierte Aufarbeitung von Vergangenem entworfen
ist, setzt es sich zum Ziel, über sprachliche Re-Präsentationen eine
Erfassung des Gegenwärtigen zu erlangen. Jede imWort fixierte Historie
steht für das lyrische Ich jedoch im Widerstreit mit den als unzeitlich
erfahrenen Augenblicken des Jetzt, da nur das, was geschrieben steht, was sich
durch die Reflexion in ein Wortgewebe, in eine Chronologie einordnen lässt,
als Fassbares und Begreifbares dient.
Die Wieder-Holung der Geschichte gewährt jedoch nicht nur eine Erinnerung
an Ereignisse, die in Gedächtnisinhalten manifest werden, sondern evoziert
gleichsam ein Aufmerksam-Werden auf das ständige Unterworfensein der gesamten
Wirklichkeit unter den zeitenlosen Weber: die Zeit. Die als Historie überschriebene
unendliche Kausalitätskette der Ereignisse lässt Tellkamp in geschichtliche
Tiefen vordringen und letztlich auf den Grund des Erinnerns gelangen, der immer
wieder Ursprung und Anlass für ein anschließendes langsames Auftauchen
bildet:
alles muß sehr langsam beginnen, / sagt der Wind, nur so ist klarheit
zu verstehen, / denn sie wird aus dem Dunkel gedehnt [...]. / aber wir müssen
sie finden, und es ist, schlank zu werden und einfach, es ist, die arme zu strecken
und mit den fingerspitzen zukunft und vergangenheit zu berühren.
Dabei bleibt der Nautilus nicht nur Vehikel, um das in der Zeit Liegende betrachtend
zu durchschiffen, sondern wird selbst zum Fahrten-Schreiber, zum Griffel des
poetischen Schaffensprozesses: Kiel, der die Spur schreibt, Steuerruder.
Der Tiefenmesser, der dieser Tauchfahrt zur Verfügung steht, ist von einer
doppelten Skalierung geprägt, deren Meßeinheiten durch auftretende
Kongruenzen vereinzelt Parallelführungen zwischen den Bildebenen aufscheinen
lassen. So durchdringen sich Tellkamps
persönliche Erinnerungen an die Kindheit in der DDR (Auch Staaten
sind tellurische Uhren), Alltagserfahrungen in der deutschen Volksarmee
oder des Sozialismus mit Stationen europäischer Realhistorie und Geistesgeschichte.
Der letztere Bereich umspannt
einen Zeitraum von der Antike bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und impliziert
eine stufenweise Abfolge, die von der griechischen Mythologie ausgehend über
historische Schlaglichter wie etwa die Entwicklung der Zeitmessung, die Reformation
oder die erste Kernspaltung bishin zur Etablierung des NS-Regimes führt:
Der Jud ist schuld! [...] Flugzeugbewegung / und Volksliederblau, Goebbels-Flansch
zwischen Sprach- Rohre / und noch kalte Gehöre geklinkt, auf- tritt das
klare, in anfließendem / Haß gebadete Gesicht.
Alle poetisch explizierten Ereignisse und Vorgänge innerhalb der Geschichte
werden jedoch stets in ihrer Bezogenheit auf die allem zugrundeliegende Dimension
der Zeit skizziert, die Tellkamp einer großen Maschine gleichsetzt, die
sich immer weiter verzweigt und jede Epoche, jeden historischen Markstein als
Bauteil ihrer selbst umfasst, deren Aufbau aber, ungeachtet des Wissens um diese
Mechanik, nie gesamthaft zu erfassen sei. Davon ausgehend strebt Tellkamps Lyrik
einem Zustand entgegen, in dem es der Zeit einmal langweilig werden würde,
immer nur zu siegen. Doch diese Herrschaft bleibt bis zuletzt jeder direkten
Einflußnahme enthoben und kann nur in ihrer präteritalen Form entschlüsselt,
die Weltinhalte nur in der Rückschau verstanden werden. Schon Kleist beschreibt
diese Uneinholbarkei der Gegenwart, deren Erscheinungen, will man sie präsentisch
fassen, ebenso unbegriffen verschwinden, wie sie auftreten. Die einzige Ausdrucksform,
die diese Ebene des unzugänglich Chaotischen der Gegenwart ins Bild zu
setzen vermag, bilden für Tellkamp poetische Versatzstücke, die den
Rückblenden in die Vergangenheit kontrastierend entgegengestellt werden
und die Tauchfahrt in die Zeit-Tiefen immer wieder durchbrechen.
Diese Bruch-Zonen, die sich aus Börsenmeldungen, Gesprächsfetzen,
Werbeslogans oder gar SMS-Mitteilungen zusammensetzen, bestechen durch eine
radikale Abkehr von tradierten syntaktischen Strukturen und untersagen damit
die Erfassung des semantischen
Aussagewertes derartiger Verskola:
klar-klar im Rot der / Spritzn: Gott der Wiegen Schlaf Kanüle/EKG
/ und Ultraschall So:Ssoundzz Papaver abge- / fahrn die U-Bahn:User:Uhr titriert
und Stau ... / so rauschn:blau die Hand / +++ Indices: Nemax-All-Share (Frankfurt)
/ 2727,32 +++ DJ Euro STOXXX 50 (Frankfurt) / 3689,34 [...] Wolltest Du (w,
-40) nicht schon immer / mal von einem maskierten Mann (35, Akad., / geb.) in
Deiner Wohnung überfallen, gefesselt / und vergewaltigt werden? Chiffre:
abrammeln.
Die Aufhebung der Form in das Impressionen- Gewirr der Gegenwart wird dabei
nicht zuletzt durch die Verwendung der ungewohnten graphischen Elemente fundiert,
die den Eindruck der Verstörung noch verstärken. So lässt sich
Der Nautilus letztlich als ein Geflecht mehrerer sprachlicher Ausdrucksebenen
charakterisieren, das aus Zitaten aus Wissenschaft und Mytholgie, aus zeitweise
prosaisch anmutenden Erklärungen und Beschreibungen der Real-Historie und
schließlich den vornehmlich graphisch geprägten Versabschnitten besteht.
Die durch diese Ebenen erzeugte Strukturierung des Textes bietet gleichsam eine
Tiefen-Verortung innerhalb der poetischen Tauchfahrt, die an der sprachlichen
Gestaltung der jeweiligen Segmente abzulesen ist. Denn je weiter man in die
Geschichte abtaucht, umso bildgewaltiger und metaphernreicher gestaltet sich
das lyrische Sprechen und umso härter erweist sich der Bruch zu den analytisch
auflistenden Einschüben aus der Gegenwart. Wenn einerseits auch die Gefahr
besteht, durch die dynamischen, atemraubenden Bildwechsel und Raum-Zeit-Verschiebungen
einen Tiefenrausch zu erleiden, so ist es andererseits gerade die klare Akzentuierung
der einzelnen poetisch-historischen Schichten der Lyrik Uwe Tellkamps, die es
ermöglichen, an jeder beliebigen Stelle des Nautilus den Tauchgang zu
eröffnen und diesen in jede gewünschte Richtung fortzuführen.
Martin Endres
12.02.2005