Der ›Prospekt‹ der Sprache
Oswald Eggers gedächtnislose Poesie in »Prosa, Proserpina,
Prosa«
Was ist das Provozierende an einer poetischen Sprache, die sich den Vorwurf
einer solipsistischen Hermetik machen lassen mußte und in ihrem vermeintlich
egozentrischen Reigen dem Leser respektive Literaturkritiker sogar den Fehdehandschuh
der Selbstgenügsamkeit vor die Füße wirft? Worin besteht dieser
Affront, der über eine bloße Unverständlichkeit der Worte hinausgeht
und doch, im letzten Augenblick und nur für einen Moment, die Spur und
den Verdacht auf verdeckten oder vielleicht verschleiften Sinn im Leser hinterläßt?
Oswald Egger, der sich bereits in der als ›Poem‹ benamten Herde
der Rede einer solch widerständig (auf)fordernden Sprache bediente oder,
genauer gesagt, sich ihr auslieferte, geht in seinem letzten Band Prosa, Proserpina,
Prosa noch einen Schritt weiter – voraus! Wir sind in unserer Eitelkeit
und unserem literarisch-kategorialen Denken gekränkt, wenn uns Egger in
eine Auflösung des sicher geglaubten Systems der Gattungsgrenzen führt
und das einizge, was uns als Bezug und Standort dient, der unbestimmbare Text
und seine Bewegung ist. Es ist das Bedürfnis nach Absicherung und Vertrautheit,
nach dem Blick zurück auf einen Grund, eine Herkunft, mit der wir das Neue
seiner Sprache in eine Beziehung setzen können, an dessen Nerv uns Egger
trifft. Prosa, Proserpina, Prosa bedeutet die Umkehrung dieser Blickrichtung:
das Geradeaus-Gerichtetsein unserer Textwahrnehmung in einer besonderen Radikalität.
Jenseits der Frage, ob wir es hier nur mit einer äußerst experimentellen
Form lyrischer Prosa zu tun haben, besinnt uns der programmatische Titel auf
eine Qualität der Poesie, die im literarischen Diskurs leider so oft vergessen
wird: Prosa, von Egger buchstäblich aufgefasst, ist hier ›ungebundene
Rede‹, losgelöst von jeder Konvention, Erfahrung stiftend und unabhängig
von den semantischen Gebäuden, in denen wir uns allzu gemütlich eingerichtet
haben.
Doch der Titel verheißt mehr als nur die Abkehr von Traditionsrastern
wie ›versgebundener Lyrik‹ oder ›erzählender Epik‹.
Gefasst und eingelassen in die Dimension einer Prosa, die den Anspruch erhebt,
auf nichts zu rekurrieren, sich und ihren Gegenstand im Schreiben und durch
das Schreiben in jedem Augenblick neu zu erfinden, ist die römische Göttin
Proserpina. Nicht nur in der Etymologie ihres Namens, in dem sich das Vorund
Vorwärtsschlängeln verbirgt, sondern vor allem auch hinsichtlich der
schöpferischen Kraft, die der Fruchtbarkeitsgöttin als Attribut beigestellt
ist, manifestiert sich ein Motiv, das Eggers Dichtung begründet: die creatio
ex nihilo. Proserpina bildet dabei nur den Ausgang seiner mytho-poetologischen
Reflexion über Sprache. Mit Achilles stellt Egger sogleich die zweite Prominenz
an den Anfang seines Textes: Neben den eindeutigen, über den ganzen Band
verteilten Referenzen auf den Held der Ilias, verbirgt sich hinter dem Namen
›Achilles‹ ein nahezu mystisches Anagramm, wenn der Autor dieses
in ein ›Ich und Alles‹ aufzulösen weiß.
Das alles widerstrebt jedoch noch nicht unseren etablierten Lesegewohnheiten
und verheißt an dieser Stelle wohl eher ein – wenn auch innovatives
– bildungsbürgeliches Amusement als ein poetisches Skandalon. Zunächst
scheint diesem Eindruck auch nur wenig zu widersprechen, wenn Egger in seinen
Prologen zu jeder größeren Untergliederung seines Bandes, die hier,
wie sich zeigen wird, wörtlich als Vor-Reden aufgefaßt werden müssen,
ein Ich einführt, das in altbekannter Weise dichtungstheoretische und epistemologische
Reflexionen monologisiert. Doch die in ihrer Unscheinbarkeit gehaltenen Fragestellungen
des Ich artikulieren den bereits im Titel impliziten Anspruch einer ›ungebundenen
Rede‹ und leiten zu dem über, was uns schon eine Seite weiter in
ein unerwartetes und absolutes ›Jetzt‹ der Sprache entläßt,
die alles konterkariert, was uns unserer Erfahrungswissen abzupolstern versuchte:
»Triesel-Fog-Monate, kein Wasser (t´ sickt im Griel). / Pfaue,
die pfauchen Eppichblätter, Logspiegel. / Zechbrache Spelzblätter
zu Kittfalz Plauderten. / Fälltzel harter Regen und wir, Wett-Würfel,
sprangen.«
Es gibt Vorboten, die uns auf diese Unmittelbarkeit der Gegenwart einstimmen
können: Egger stellt gleich zu Anfang eine Übersicht des Bandes, eine
Wegkarte der ›Vorgänge‹ bereit, die sich ereignen werden, vor
ihm, vor uns. Und läßt man sich auf die Fragen des Ich ein, die dem
Sinn der Prosa, der zügellos immer distrikt nach vorn strebenden Dichtung
›nachzugehen‹ suchen, breitet sich in uns so etwas wie eine Ahnung
und ein Gespür für das aus, was die Sprache (voran)treibt: »Was
geht hier vor – mir? // Ich meine, was geht hier vor – vor mir –
mir vor? // Kann ich mir von unmöglichen Dingen eine Vorstellung machen?
/ Ununterredend auch? / Wie etwas vor sich geht und nicht vorkommt?« Darin
wird nun die eigentliche Provokation zum ersten Mal durchsichtig, in dem Gedanken,
daß hier eine Form der Poesie Raum greift, die auf kein Gedächtnis
mehr rekurriert, die uns hervorbringend schöpferisch vorauseilt, immer
schon voraus ist. Das Verstörend-Andere an Eggers Sprache ist, daß
sie sich in jedem Augenblick neu entwirft, fremdartige Komposita generiert und
durch die Verzahnungen der Wörter ineinander alte Bedeutungen ihres Versprechens
auf Weltbezug entledigt.
Vorwärtsgetrieben scheint diese Prosa, die immer in der Hatz nach Vorstellungen
siedet, ohne um sich und das so Entstehende auch nur einen Moment länger
wissen zu können als der Augenblick eines Wortes währt: »Ich
tue (und vergesse alle Namen, alle) alles miteinander, ´ turbel` tn. /
Harsch` te Frostschraffen in den Albmählern unter Zelthaut gärnen.
/ Sie kerbelten den Tag (und fallen in Strauchfrucht) ob oder Beeren. / Kenterten
in Greftwässern Flüssen jetzt, diese rie`schelten im Kies. / Schottern
und verlanden, die Bach-Lippen plauderten (und trösten).«
Letztlich erhellt sich hier auch der Bezug zu Proserpina, die, von Pluto geraubt,
die Hälfte ihres Daseins im Orkus fristet und nur im Frühjahr und
Sommer an die Oberwelt zurückkehren darf. In dieser Doppelheit, einerseits
an Lethes Fluch des Vergessens im Hades gebunden zu sein, andererseits aus diesem
ewigen Nichts heraus schöpfend zu wirken, konstelliert sich Eggers Dichtung
– bezeichnend, daß sich der Text ab der Mitte des Bandes selbst
in ein Oben und Unten aufspaltet: Sind die Zeilen am Kopf der Seite bereits
durch ihren größeren Abstand und den manuellen Zeilenumbruch lichtdurchflutet,
so windet sich der untere Text wie ein gedrungener, vorschlängelnder und
›rücksichtsloser‹ Strom.
In und durch all diese Momente des Textes hindurch geht Achilles, streitend
das Ich mit der Welt zu vermitteln und den Weg zu öffnen, der Sprache nachzugehen.
Was einem zunächst als Provokation – und vielleicht auch intellektuelle
Spielerei – entgegentrat, verkehrt sich in die Erfahrung, Poesie nicht
auf ein kognitives Verstehen zu reduzieren, sondern im Fortgang der Rede den
Worten einen neuen Sinn zu erahnen. Das Ungeahnte der Sprache erreichen wir
aber nur, wenn wir von ihm ausgehen – im doppelten Wortsinn –, und
wir gehen nur davon aus, wenn es uns vorweg geht, uns befremdet.
Martin Endres
Oswald Egger – Prosa, Proserpina, Prosa. Frankfurt am Main 2005 (suhrkamp)