Der trunkene Durst des begeisterten Schleuderers

Vor hundert Jahren wurde Pablo Neruda geboren

In den fünfziger Jahren schrieb Pablo Neruda neben vielen anderen „elementaren Oden“ auch eine Ode an Walt Whitman, den nordamerikanischen Sänger der Erdenliebe und der freien Rhythmen. In jenem Text sind die wichtigsten Elemente von Nerudas Dichtung enthalten: Wahrnehmung Amerikas als Kontinent, Beschwörung eines ursprünglichen Substrats seiner Bewohner, Sorge um die „Sklaven“ und alle anderen Unterdrückten, Ausdruck von Lebensfreude im Widerstand gegen die hinderlichen Wechselfälle der Geschichte. Die Ode an Walt Whitman gehört nicht zu den besten Werken Nerudas. Federico García Lorca, mit dem Neruda eine enge Freundschaft verband, hatte 1933 ein weit kühneres, raffinierteres, konkreteres Werk desselben Titels veröffentlicht. In Nerudas Ode glaubt man einige Anklänge daran zu hören – allerdings nur im Bereich der Klischeebilder vom bärtigen Dichter-Propheten und den weiten amerikanischen Prärien.
Neruda war viel zu selbstherrlich, als dass er sich literarischen Einflüssen unterworfen hätte. Die Nähe zu Whitman ist vielmehr eine charakterlich und durch die literarische Intention bedingte Verwandtschaft. Als ihn zu Beginn seiner Karriere ein Dichterkollege auf einen anderen Einfluss aufmerksam machte, schreckte der jugendliche Bohemien auf und schrieb nach Uruguay an den heute fast vergessenen Carlos Sábat Ercasty (1887-1982), dessen Gedichte er mit Begeisterung gelesen hatte. Sábat Ercasty bestätigte die Ähnlichkeit, lobte aber auch die Verse Nerudas. Der Uruguayer hatte sich für den Rest seines Lebens der hinduistischen Philosophie verschrieben, seine Dichtungen sind von pantheistischem Schwung und zentrifugaler Vitalität – Eigenschaften, die auch Nerudas Werk kennzeichnen und zugleich ein Problem aufwerfen: Verstrickt sich der Dichter auf der Suche nach dem Grenzenlosen nicht in die Schrankenlosigkeit seiner eigenen poetischen Rede? Wenn Dichtung mit Konzentration und sprachlicher Verdichtung zu tun, wie lässt sich dann das oft nur allzu lockere Gerede rechtfertigen, in welchem die rhetorischen Figuren den Gehalt nicht etwa stärken, sondern geradezu ausdünnen?
Natürlich gelten solche Einwände nicht für alle Hervorbringungen Nerudas, und sie gelten in geringerem Maße für die frühen, tatsächlich genialischen Werke wie die 20 Liebesgedichte und das eine Lied der Verzweiflung (1924). Das Überbordende, Ausufernde ist hier freilich schon angelegt. Der argentinische Lyriker Juan Gelman, der sich zu den Bewunderern Nerudas zählt, hat denn auch von der maquinita gesprochen, denen zahllose Gedichte aus Nerudas Spätwerk ihre Entstehung verdanken: einem rhetorischen Mechanismus, der die eingangs genannten Topoi samt der Grundstimmung „brennender“ Vitalität wiederholt. Wenn das Bennsche Diktum von den sechs Gedichten, die ein Lebenswerk als Fazit bietet, auf einen Autor zutrifft, dann auf Pablo Neruda. Es fällt allerdings schwer, sechs Titel zu nennen. Eher handelt es sich um Passagen aus längeren Texten, und bei wiederholter Lektüre, je nach dem Einstieg, den man wählt, wechselt der Eindruck, so daß ein Fazit im strengen Sinn unmöglich ist.
Borges, der die poetische Kraft Nerudas erkannte und würdigte, stufte ihn als „Dichter der Liebe“ ein und legte ihn damit zu den Akten. Dasselbe Etikett erhält er in Antonio Skármetas Roman Mit brennender Geduld und dessen Verfilmung Il postino. Selbst bei eingefleischten Lesern lyrischer Dichtung ist das Neruda-Bild heute durch die von Philippe Noiret verkörperte Figur des weisen Poeten, der die Stürme des Lebens schon hinter sich hat, geprägt. Das ist nicht ganz falsch, aber doch sehr vereinfacht. In seinen frühen Werken erscheint Neruda als südamerikanischer Rimbaud, sein Individualanarchismus, von dem er sich zeitlebens ein Stückchen bewahren wird, ist noch nicht von ideologischen Gewißheiten überlagert. Einschneidend in seiner Lebensgeschichte ist die Erfahrung des spanischen Bürgerkriegs – bei dessen Ausbruch war er chilenischer Konsul in Madrid – und der Entwicklungen, die dahin geführt hatten. In dieser Epoche näherte er sich, beeinflußt durch die damalige Lebensgefährtin Celia del Carril (die er in seinen Memoiren kaum erwähnt), dem orthodoxen Kommunismus an. Seine Blauäugigkeit im Hinblick auf die Länder des Ostblocks, die er nach dem zweiten Weltkrieg häufig besuchte, mag heute verwundern, ist aber leicht nachvollziehbar, wenn man den Rahmen der politisch gelenkten Reiseprogramme für ausländische „Freunde der Sojetunion“ bedenkt. Nach dem 20. Parteitag der KPdSU (1956) hatten plötzlich auch Kommunisten eine problematische Vergangenheit. Neruda verleugnete seinen früheren Glauben an Stalin nie und versuchte, jene Vergangenheit zu bewältigen, ohne zu den Wurzeln vorzudringen. Er schrieb die „sinistren Einzelheiten“ des realen Sozialismus einer „Entartung“ von Stalins Persönlichkeit zu – und blieb damit in der Begrifflichkeit des Totalitarismus befangen.
Mit Borges wird man das politische Engagement in Nerudas Dichtung, besonders im Canto general, der ein großes gesamtamerikanisches Versepos zu sein beansprucht, als Teil des poetischen Materials betrachten, das Neruda mit gewaltiger Gefräßigkeit verarbeitete. Frauenliebe und vaterländische – chilenische, kontinentale, menschheitliche – Begeisterung sind bei ihm zwei Seiten derselben Medaille. Nicht nur betont er in den an Matilde Urrutia, die spätere Ehefrau, gerichteten Versen des Kapitäns immer wieder die Notwendigkeit, die alltägliche Verwirklichung der Liebe mit „den Kämpfen“ zu vereinbaren. Indem er die Frau, einer uralten poetischen Methode folgend, nach dem Bild der Erde beschreibt, verschränkt er die persönliche Liebe mit der Treue zum Ursprung, zur (chilenischen) Mutter Erde. Umgekehrt schildert Neruda die Natur nach dem Vorbild des Menschen und letztlich nach den individuellen, verinnerlichten Erfahrungsmustern. Sein Anthropomorphismus entpuppt sich dabei oft als Egomorphismus, besonders auffällig in den machistischen Versen, wo er die Frau als durch ihn selbst gezeugt und geformt darstellt. In solcher Poetik verrät sich eine Unschuld nicht nur literarischer, sondern biographischer Art; eine willentlich bestärkte Naivität, die Selbstreflexion oder Zweifel gar nicht erst aufkommen lässt. Die politischen Gewissheiten Nerudas sind von sprachlichen und existentiellen Gewissheiten grundiert. Die Sprachkritik der Moderne ist ihm vollkommen fremd, auch wenn seine frühe Dichtung oft zu ungewöhnlichen Bildern und Fügungen findet. „Welch gute Sprache ist die meine“, sagt er in den Memoiren, „welch gute Zunge haben wir von den fürchterlichen Konquistadoren ererbt.“
„Er kannte keine kleinen Gefühle und akzeptierte sie auch nicht“, schreibt die fiktive Herausgeberin der 1952 anonym erschienenen Verse des Kapitäns. Dieser Satz ist ohne Einschränkungen auf Neruda selbst zu beziehen. Der große, beredte Gestus eignet allen seinen Gedichten, selbst denen, die ein Loblied der kleinen Dinge singen oder sich in kindlicher Zufriedenheit einrichten. Neruda war ein hemmungsloser Verschwender, ein „Schleuderer“ von Worten, der alles doppelt und dreifach sagen musste. „Erzählt mir alles, Kette um Kette, Glied um Glied, Schritt für Schritt“, redet er die Gespenster der Inka-Stadt Machu Picchu an, und wenn er sich dem Schweigen nähern will, tut er dies gleichfalls durch synonyme Wiederholungen: „Gebt mir die Stille, das Wasser, die Hoffnung.“ Seine Geschichtsvision ist monumental, ähnlich den Bildern der mexikanischen Muralisten. Wie diese nähren sich seine Erzählungen von einer rückwärtsgewandten Utopie, getragen von dem Impuls, mit poetischen Worten und durch politisches Handeln einen verlorenen Ursprung wiederherzustellen. Mit seiner politischen Entwicklung im Spanien der dreißiger Jahre hat es zu tun, dass sich Neruda zunehmend von der negativen, düsteren Ader distanzierte, die sein frühes Werk durchzieht. Eines seiner Schlüsselwörter wird nun „alegria“, meist mit „Freude“ übersetzt, und diese Tendenz passt recht gut zu den Normen, die der sozialistische Realismus seinen Vertretern ans Herz legte.
Eine Episode des Films Il postino betrifft den Nobelpreis, für den Neruda angeblich schon um 1950 in Frage kam. Es ist eine niedlicher Einfall, der arme Exilant habe in seinem Refugium auf der süditalienischen Insel auf ein Briefchen aus Stockholm gewartet. Niedlich, aber fern den historischen Realitäten, denn zu diesem Zeitpunkt, am ersten Höhepunkt des kalten Kriegs, kam Neruda für den stets mit Rücksicht auf die weltpolitische Lage vergebenen Preis überhaupt nicht in Frage. Hätte Neruda 1971 nicht den Nobelpreis bekommen, gäbe es vermutlich kein weltweites Gedenken anläßlich seines hundertsten Geburtstags. Ob er ihn „zurecht“ bekommen hat, solche Fragen sind müßig, gehören aber zu den unvermeidlichen Ratespielen, die die schwedische Institution zu entfesseln pflegt. Neruda war so ehrlich zu sagen, dass er die Auszeichnung wünschte und sich über sie maßlos freute. „In Wahrheit möchte jeder Schriftsteller dieses Planeten irgendwann den Nobelpreis erhalten, einschließlich derer, die es nicht zugeben, und derer, die es abstreiten.“ Der Satz stimmt wahrscheinlich, zeigt aber auch, wie wenig Neruda bereit war, gewisse Dinge zu hinterfragen. Vielleicht kann man ihn und sein Werk heute trotz allem in seiner Beispielhaftigkeit lesen und anerkennen. Es ist von den großen Zwiespältigkeiten des 20. Jahrhunderts geprägt, die in dem Zwillingslaster von Historizismus und Utopismus wurzeln. Die Lyrik, auch die lateinamerikanische, hat inzwischen andere Wege eingeschlagen. Dichter wie der Mexikaner José Emilio Pacheco, der unlängst den Premio Pablo Neruda erhielt, oder der eingangs erwähnte Juan Gelman berufen sich weiterhin auf die soziale Relevanz von Poesie, doch sie haben sich von den großen Gewissheiten verabschiedet und neigen zu einem poetischen Minimalismus oder einer schillernden Sprödigkeit, worin die alte Schaffenseuphorie gedämpft, der Ausdruck aber verfeinert erscheint: „Die Besiegten tragen Anzüge aus Nichts. Sind / sie jetzt ein absurdes Zeichen? Ist / die Utopie in ihren Köpfen erfroren?“
Leopold Federmair

zuerst erschienen am 12.07.04 in der NZZ