Hochstapler und Lyrikdirektor im Wolkenkuckucksheim

Eins


Vor einigen Jahren, als Raoul Schrott Die Erfindung der Poesie in die Welt gesetzt hatte, wurde ihm von einem Kritiker der Spitzname „Überflieger“ verpaßt. Derlei Schlagworte lenken in der Regel vom Denken ab, statt dazu anzuregen; in diesem Fall scheint mir das Wort aber treffend. Schrott überfliegt gern ein paar Jahrtausende Literaturgeschichte, Jahrzehntausende Menschheitsgeschichte, und gern wagt er sich ins Vorgeschichtliche oder erhebt sich augenzwinkernd zu den Wolken und darüber hinaus.
Augenzwinkernd, das ist das Schöne. Sein Handbuch der Wolkenputzerei macht diese Mimik, diese Haltung deutlich, denn Schrott nimmt sich selbst nicht so ernst, wie es den Anschein haben mag. Mehrmals gebraucht er den Ausdruck „Hochstapler“, und zwar im positiven Sinn: der Felix Krull der deutschen Literatur zu sein, das wäre kein so schlechter Platz auf dem Parnaß. Von dieser Hochstapelei gibt auch das Handbuch allerlei Kostproben. Das beginnt bereits mit dem Titel, denn natürlich handelt es sich um kein Handbuch, das Buch ist nicht mehr und nicht weniger als eine Sammlung von Gelegenheits- und Auftragsarbeiten, mit einigen lauen Versuchen, eine systematische Poetik zu erstellen (denn „Wolkenputzerei“, damit ist wohl die Dichtkunst gemeint). Der Stoff in acht Kapitel eingeteilt, mit phantastisch-hochtrabenden – eben wolkenputzerischen – Kapitelüberschriften versehen. Viele der Texte wirken eilig hingeworfen, die Syntax ist teilweise schlampig, das Lektorat scheint mit der Fehlerkorrektur nicht zurande gekommen zu sein. Die enorme Stoffülle, die Schrott bewältigt, erscheint als angehäuftes Bildungsgut aus Literatur, Kunst und Naturwissenschaften. Sie ist die Frucht einer ungebändigten Neugier, eines Welthungers – und nicht einer durchdringenden Erkenntnis. Oft tut der Handbuchschreiber nichts anderes, als Handbücher und Wörterbücher (wie den Grimm) abzuschreiben. Das hat übrigens schon Jorge Luis Borges getan, aber mit mehr Prägnanz und Konzision.
Für einen Skeptiker wie mich hält die heitere Wolkenpoetik dennoch Erfreuliches und Überraschendes bereit. Sie bietet zwei Texte und zahlreiche Stellen, die dem Gestus der Überheblichkeit bewußt widersprechen. Der erste der beiden ist Schrotts Rede bei der Entgegennahme des Peter-Huchel-Preises. Darin schildert er ausgehend von einem Gedicht Huchels und einer Übersetzung Michael Hamburgers eine Erfahrung in der Libyschen Wüste, um daraus die Notwendigkeit der Dichtung zu entwickeln, sich dem Vorsprachlichen (und insofern Ursprünglichen) anzunähern. Die verdichtete Sprache will nicht sosehr deutungslos sein, wie es bei Hölderlin heißt, sondern an den Rand jedes Zeichenverhältnisses und damit der Zivilisation gelangen. Die Schrottsche Erläuterung ist überzeugend, und sie macht sein Fasziniertsein durch Wüsten und sonstige finis terrae verständlich.
Der zweite Text ist eine Maturantenbeschimpfung – oder Abiturientebeschimpfung, denn die Adressaten sind junge saarländische Schulabgänger. Diese Rede entwickelt einen eigenen Sog, mit Handkes Publikumsbeschimpfung durchaus vergleichbar, aber nicht auf Sprachformeln beschränkt, sondern konkret, inhaltsreich, auf eine ganz bestimmte Gruppe bezogen, nicht auf alle möglichen. Die Generation Golf im Faserland ist das eigentliche Ziel der Polemik, und Schrott positioniert sich damit auch im gegenwärtigen Literaturbetrieb, der sich oft genug darauf beschränkt, das Konsumbedürfnis der Kinder der Spaßkultur zu befriedigen. Was aber noch wichtiger ist: Schrott läßt in diesem Text das ihm sonst so liebe Maskenspiel hinter sich und verrät etwas von seiner wirklichen Biographie in einer Tiroler Kleinstadt. Das sagt hundertmal mehr über seine literarischen Motivationen als jene dadaistischen Autobiographien, die zu so vielen, nicht immer lustigen Mißverständnissen geführt haben. Schrott schildert eine Art Erweckungserlebnis, als er im Zug ein schönes Mädchen beim Lesen des Mythos des Sisyphos sah. Der Absurdismus im Sinne Camus‘ ist eine gute, weil bodenlose Basis für die literarische Hochstapelei, bei der Steine zum Gipfel gewälzt oder, dies die Schrottsche Spezialität, Seifenblasen zum Himmel geblasen werden.


Zwei


Franz Josef Czernins Texte und Bücher wirken auf mich nicht organisch, sondern mechanisch, wie Maschinen, die keinen Sinn und keinen Unsinn, keine Bilder und keine Wahrheiten produzieren, sondern bei aller Betriebsamkeit in Selbstbezüglichkeit verharren. Das grosse Projekt Czernins scheint darin zu bestehen, die Geschichte der Dichtkunst zu wiederholen. Diese Aufgabe teilt er sich offenbar nach Genres ein: die Fabel, das Sonett, der Aphorismus... Wozu das Ganze, diese Frage ist vielleicht falsch gestellt; jedenfalls erinnert das Unternehmen an den Geistestotalitarismus Georg Wilhelm Friedrich Hegels, der meinte, der Weltgeist und damit die Weltgeschichte könne in seiner, Hegels, Philosophie zu sich kommen und damit ein „Ende“ finden. Auf ähnliche Weise scheint bei Czernin die Dichtkunst zu sich und zum Ende finden zu wollen.
In einem Brief hat mir Czernin einmal geschrieben, ich hätte ihm mit einer Kritik „Schmerz zugefügt“. Die Formulierung schien mir damals merkwürdig; jetzt finde ich den Schmerz als eines der literarischen Motive in Czernins neuer Aphorismensammlung wieder und staune im nachhinein, dass die literarischen Versuchsanordnungen das Emfpinden des Dichters oder dessen umgangssprachlichen Ausdruck in solchem Mass bestimmen. Eine der Fragen, die in seiner Einführung in die Mechanik mehrmals auftauchen, bezieht sich darauf unter welchen Bedingungen ein geäusserter Satz wahr ist. Was „wahr“ in diesem Zusammenhang heisst, weiss ich nicht, wie ich überhaupt die Czerninschen Satze trotz allem Bemühen meistens nicht verstehe. Nach meiner, die Czerninschen Denkvoraussetzungen möglicherweise nicht teilenden Auffassung (die eher ein Empfinden ist), sind diese Aphorismen überhaupt nicht wahr oder falsch: sie sagen mir einfach nichts, während mir Aphorismen von Lichtenberg, Nietzsche oder Canetti häufig doch etwas sagen. Ein Mann aus dem akademischen Trupp der Czernin-Exegeten gesteht an einem bestimmten Punkt seiner Verstehensbemühungen, dass die Sätze Czernins Kopfweh – also Schmerz – bereiten. So empfinde ich die Lektüre auch: Sie führt mich auf ein Terrain, das immer unsicherer wird, bis ich merke, ich befinde mich in einer Sackgasse. Der Sinn rückt umso ferner, je weiter ich mich fortbewege, und ich suche vergeblich nach einem Ausweg. Genau das aber könnte die ultima ratio und das Ziel dieses ebenso rationalistischen wie formalistischen Schreibens sein: etwas, sei es auch sich selbst, das Subjekt, zu suchen, um es nicht zu finden. Um statt dessen was zu finden? Nichts ausser den dornigen, spitzigen Blumen – Rosen oder Disteln? – der poetischen Maschinerie.
Ein Labyrinth ist so etwas wie eine erweiterte, verwinkelte, komplex gewordene Sackgasse. „wenn man, wenn man sich dann verbirgt, wenn man sich entdeckt, dann irrt, wenn man sich sucht, um sich zu finden, dann irrt man sich dann nicht, wenn man sich findet, um sich zu suchen, wenn man sich dann entdeckt, wenn man sich verbirgt.“ Das ist einer der Aphorismen aus Czernins Mechanik. Sagt er etwas bestimmtes? Oder beschreibt er nicht eher ein Abdriften des Sinns in leblose Gefilde mit einer Höhenluft, die das Atmen unmöglich macht? Distel und Hochgebirge, das sind Bilder, die ich mir zurechtlege, um mein Nichtverstehen zu beschreiben. Czernins Schreiben ist bildlos, es erstickt die Einbildungskraft (jedenfalls meine), statt sie anzuregen. Nicht Czernin, sondern meinen unwilligen Reflexionen verdanke ich es, dass ich mich an einen Text von Alois Brandstätter erinnere, den ich als Halbwüchsiger las: es ging um den springenden Punkt im roten Faden: „Maria aber zeugte Jesus nicht.“ Was für eine wunderbare Setzung der Negation! Bei Czernin kann ich den roten Faden mit oder ohne besten Willen nicht finden; seine Aphorismen führen ins Nirgendwo. Der setzende Punkt – vielleicht der Autor – ist nach Czernins Selbstdefinition, wenn ich ihn richtig verstehe, ein zugleich springender und fliehender Punkt. Im Grunde verweigert er die Weltaneignung, um sich im Labyrinth einer verworrenen Sprache zu verschanzen.


Drei


Was haben Schrott und Czernin gemeinsam? Vieles trennt sie, zum Beispiel zielt der eine auf das, was die klassizistische Poetik als „natürlichen Stil“ bezeichnete, also eine dem mündlichen Ausdruck angenäherte Sprache, während der andere sich einer höchst elaborierten Methode befleissigt, die zu preziösen, überladenen Texten führt. Schrott liebäugelt auch dann, wenn er den poeta doctus hervorkehrt, mit der Einfachheit der Aussage und der ungehinderten Kommunikation, während Czernins Suche nach dem Elementaren tatsächlich eine Komplexität hervorbringt, die selbst den spezialisierten Exegeten Kopfzerbrechen bereitet. Schrott hat das Zeug zum Volksschriftsteller – wobei das „Volk“ heute durch die Medien konditioniert ist, aber nach wie vor, wie der Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts, seinen banalen Alltag durch ein wenig Poesie und tiefe Gedanken zu verschönern bestrebt ist. Czernin ist ein Dichter für Fachleute, fürs germanistische Seminar, der die verdrehtesten Verse und Aphorismen zu Papier bringt und den Exegeten im selben Atemzug eine Literaturtheorie liefert, um die Interpretationen zu steuern (auch wenn er behauptet, jeder seiner Texte verstehe sich gleichsam von selbst).
Beide Dichter verbindet aber auch etwas: die ausgreifende historistische Geste, der hybride, bei Schrott zumeist fröhliche und manchmal ironisierte, bei Czernin bitter ernste Gestus, die gesamte Menschheitsgeschichte noch einmal einzuholen. In diesem beserkerhaften, der Vergeblichkeit geweihten Willen treffen sich der pedantische Lyrikdirektor und der überfliegende Hochstapler. Nicht, um eine gemeinsame Sache anzufangen: für einen Zweiten haben sie in ihrem monadischen Weltreich keinen Platz. Allenfalls nicken sie einander durch die zwei blinden Fenster zu.


Leopold Federmair


Raoul Schrott: Handbuch der Wolkenputzerei. Gesammelte Essays. München, Hanser 2004
Franz Josef Czernin: das labyrinth erst erfindet den roten faden. einführung in die organik. München, Hanser 2004