Alles ist Parodie
(Lyrikkritische Beobachtungen an fünf neuen Gedichtbänden)
Matthias Polityckis Gedichtband Ratschlag zum Verzehr der Seidenraupe beginnt
mit einer Parodie eines berühmten Gedichts von Paul Celan. Der Titel Was
dürfen wir hoffen? Was sollen wir glauben? Was sollen wir tun? parodiert
das anscheinend immer noch nicht ausgerottete Heischen nach Lebenssinn. „Wir
fahren am Morgen / Wir fahren am Mittag / Wir fahren am Abend“: das sagen
Pendler, Geschäftsreisende oder Touristen, Allerweltsgestalten, die Politycki
gern aufs Korn seiner Satire nimmt. Freilich wird hier mit dem Bezug auf Celans
KZ-Gedicht eine Annäherung des trägen, kriegsfernen Alltagslebens
an das Grauen der Nazi-Zeit vorgenommen, die als Provokationsmodell nunmehr
seit Jahren geläufig und schon ein wenig abgelutscht ist.
Das Gedicht Im Innern, enthalten in Robert Schindels Gedichtband Nervös
der Meridian, der schon durch das im Titel enthaltene Weltvermessungswort an
Celan denken läßt, zieht eine Wiederholungsstruktur auf, die ebenfalls
einen Nachklang der Todesfuge anschlägt: „Trullen wir trollen und
trällern / ... / Trödeln wir trotteln und trauern“. An die Stelle
vom „Trinken und Trinken“ der schwarzen Milch ist nun, ein halbes
Jahrhundert nach Kriegsende, ein gemischtes, halblustiges Tun und Vertun getreten,
in dem immerhin das Trauern – über das bei Celan Evozierte? –
noch Platz hat. Schindel ist natürlich ein kluger Autor, der nicht nur
mit den reichen Schätzen der Lyriktradition hantiert, sondern das bisher
Geschaffene auf sehr bewußt gewählten Wegen weiter zu tragen versucht.
Wobei er um die Hindernisse, ja Unmöglichkeiten weiß, so daß
auch bei ihm die allgewaltige Ironie unserer Spätzeit am Eingang jedes
Gedichts steht und prüft, wer oder was herein darf, wer oder was nicht.
Wobei das Kriterium ein formales ist, die Frage also lautet: „Wie bist
du verkleidet?“, denn die herkömmlichen Themen – Liebe, Geschichte,
Politik, Ich und Du, Ich und Ich – sind bei Schindel grundsätzlich
zugelassen. Am besten, man trägt einen bunten Narrenrock (längst abgelegt
die Celansche Farbenlosigkeit), das lyrische Ich erweist sich als plurales,
meistens komisch, manchmal traurig: ein lustiger Gesell‘ mit einer listig
defekten Sprache, der sich im Spiegel bisweilen nicht wiedererkennt.
Raphael Urweider, dessen möglicherweise gar nicht so ernst gemeinten Gedichte
einen recht gemessenen Eindruck machen, bezweifelte in einem Interview, daß
überhaupt etwas ernst sei an dem manchmal noch ernsthaften Getue der Welt,
sprich: der Medien. Alles ist Parodie, manchmal in der Art von beflissenem,
streberhaftem Sezieren des Überlieferten, manchmal als übermütiges,
anarchisches Spiel wie bei Franzobel, ein Flickwerk von schrägen oder in
die Schräglage gebrachten Stücken aus dem Kraut- und Rübenhaufen
der hohen (Homer & Co.) wie der niederen (Polizeibericht) wie der schwer
zuordenbaren (Speisenkarte) Literatur. Der Bastler ist zuerst ein Jäger,
seine wichtigste Waffe das Sensorium für Skurriles, von dem die Literatur
ebenso wimmelt wie die restliche Welt. Gaudeamus igitur, oder: Amüsieren
wir uns zu Tode, weil wir sowieso sterben müssen. Die odysseischen Sirenen
sind in Wahrheit Müsliriegel, die die Speichelproduktion des beworbenen
Konsumenten zu erhöhen trachten. Historisches läßt sich schwupps
in jede Gegenwart transponieren. Die alten Helden sind... lauter so Burschen
wie ich.
„Pathosverhinderungsstil“ lautet die glückliche Formulierung,
die mit Bezug auf Polityckis Gedichte geschmiedet wurde, und Urweiders auf den
ersten Blick vielleicht „gehoben“ wirkende Texte sind durchsetzt
von „Ernüchterungsvokabeln“, die jede lyrische Berauschung
frühzeitig verhindert wollen. Sein Gedichtband Das Gegenteil von Fleisch
enthält einen kleinen Eurydike-Zyklus, der wie Franzobels Zyklus Spiegelkabinett:
Odysseus, wenngleich mit strengerem Blick und Zugriff, einen klassischen griechischen
Dauerbrenner dekonstruiert. Anders als in den meisten seiner Texte nähert
sich Urweider hier einer metrischen Lautgestaltung, die natürlich ab und
zu durchbrochen wird. Inmitten erhabener Ausdrucksweise tauchen unangemeldet
Wörter wie „Chance“ und „Ambition“ auf. Das ist
ein bißchen so, wie wenn das von Faust bezirzte Gretchen auf einer „zeitgenössischen“
Bühne Blue Jeans trägt und Zigaretten raucht. Wir verstehen: Goethes
Zeiten sind vorbei. Ob sich der Aufwand der Neuinterpretation des Alten lohnt,
kann man sich allerdings fragen. Orpheus, so Urweider, wollte Eurydike gar nicht
wiederhaben, er wollte sie nur noch einmal sehen, wurde also überhaupt
nicht von den Göttern bestraft. Dieses Szenario ist weniger lyrisch als
umständlich formuliert (mit der Umständlichkeit der Rapper, ja): „ich
war schon tot gleich tot wie alle toten / schickte mich wie andere namenlose
/ die keine möglichkeiten sich ersangen“ und so weiter. Klingt gut,
ist süffig, trotz Ernüchterung.
Ein Kritiker stellte sich die Frage, was denn bei Texten wie denen Urweiders
den Unterschied zwischen Lyrik und Prosa ausmache. Tatsächlich scheint
mir, daß es sich meistens um eine versifizierte Prosa handelt, insofern
der Zeilenbruch weniger sprachlich oder klanglich bedingt ist als graphisch,
designerisch. In herkömmlicher Lyrik – natürlich kann man einwenden,
dies sei eben unherkömmliche Lyrik – ist es kaum denkbar, immer wieder
Hilfszeitwörter, Artikel oder Partikel ans Zeilenende zu setzen. Das Arrangement
ist willkürlich, hat nicht die alte, über lange Zeit hinweg entwickelte
poetische Organizität oder komplexe Regelhaftigkeit. Überhaupt kann
man sich fragen, warum so viele Dichter seit dem weithin akzeptierten Ende der
Avantgarde, diesem nicht ganz abrupten Mauerfall der Literatur,l immer wieder
auf traditionelle Formen zurückgreifen, die sie dann entweder schlecht
beherrschen oder nur nachlässig anwenden oder so oft durchbrechen, daß
der Unterschied zwischen Regel und Regelbruch verwischt wird.
Avantgarde und „subjektive Authentizität“ wurden in etwa gleichzeitig
eskamotiert. Das lyrische Ich, bei Schindel ins Harlekinskleid geschlüpft,
ist sonst kaum noch salonfähig. Konsequenterweise beansprucht Urweider
für sich ein erzählendes Dichten, in dem diverse Haltungen und Rollen
durchgespielt werden können. Trotzdem scheint auch bei Urweider etwas durch,
steht „etwas dahinter“: ein Eifer, Wahrnehmungsmaterial zu zerlegen,
in allen Aspekten zu durchleuchten und manchmal neu zusammenzusetzen; eine Beflissenheit,
welche den erwähnten Umschreibungsstil bewirkt. Das lange Gedicht Fleisch
erweist sich dem Leser, der durch die Textwand durchgestiegen ist, als das Gebilde
eines Wahrnehmungsagenten, der etwas – offenbar im Museum – Vorgefundenes
bis auf die Knochen abnagt: die „liebe Mumie“. Die sich daraus ergebenden
anatomischen Erkenntnisse sind allerdings dürftig, zugleich durch eine
Art nüchternes Pathos aufgebauscht: „das fleisch birgt blut ist von
ihm durchzogen / adern lagern im fleisch venen laufen oberhalb...“ Auch
wenn die quasi mineralogische Beschreibung von Fleisch hier einen interessanten
Effekt ergibt und zwei Themen des Gedichtbands – Stein und Fleisch –
unerwartet verklammert.
Gewiß, das ist virtuos. So virtuos, wie Franzobel in seiner Sprachlust
bis hin zur Fehlerhaftigkeit und Schlamperei anarchisch ist. Doch bei aller
Witzigkeit und Betulichkeit, bei all dem fleißigen Materialberarbeiten
und Sprachhandwerken fragt man sich mitunter, ob es wirklich keine sprachliche
Unmittelbarkeit, keine überwältigende Ausdruckskraft, keinen lyrischen
Elan, keine Erkenntniserweiterung jenseits der Wissenschaften mehr geben soll
und kann. Hans Aschenwald, 1959 in Tirol geboren und dort lebend, scheint sagen
zu wollen: Doch, hier ist es. Die Naivität, mit der er große Worte
und Gefühle an- und ausspricht, hat etwas Pubertäres. Angesichts eines
Betriebs, wo die Gewitzten einander überbieten, wirken solche spätpubertären
Aufschwünge sympathisch. Am Ende aber scheint Aschenwalds Wurzelfieber
doch zu bestätigen, daß es mit den Unmittelbarkeiten und direkten
Vermittlungen, Verlautbarungen vorbei ist. Seine großen Worte sind meist
Gemeinplätze; der Wille zum Außenseitertum verpufft seine Energie
in einer den Individualismus preisenden Gesellschaft. Sollte das Große
noch Ambition und Chance haben, dann wohl im ernsten Geschäft des Parodierens.
Leopold Federmair
Hans Aschenwald: Wurzelfieber. Berlin, Wagenbach 2003
Franzobel: Lunapark. Vergnügungsgedichte. Wien, Zsolnay 2003
Matthias Politycki: Ratschlag zum Verzehr der Seidenraupe. Hamburg,
Hoffmann und Campe 2003
Robert Schindel: Nervös der Meridian. Frankfurt/Main, Suhrkamp
2003
Raphael Urweider: Das Gegenteil von Fleisch. Köln, DuMont 2003