Im Garten der Gegenwart
(Der poetische Kosmos Yves Bonnefoys)

In seinen Gedichten und Prosastücken hat der 1923 in Tours geborene Yves Bonnefoy über ein halbes Jahrhundert hinweg einen lyrischen Kosmos von beeindruckender Dichte reifen lassen. Die einzelnen Texte vollziehen umkreisende, annähernde Bewegungen, doch zielen sie nicht auf ein Unsagbares, sondern letztlich auf die „choses simples“, die einfachen Dinge, die uns die Verzettelungen des Alltags und das begriffliche Denken verstellen. Bonnefoy war nie ein grosser formaler Neuerer; trotzdem wirken seine Gedichte durchwegs fremdartig, überraschend, bisweilen auch verstörend vertraut. Den jambischen Alexandriner, oft mit baudelairescher Tönung, verwendet er auf das natürlichste. Das Befremdliche der Gedichte verdankt sich einer vom Surrealismus ererbten onirischen Darstellungsweise, einem traumhaften, erinnernd-tastenden oder eine Präsenz beschwörenden Schreiben, in dem bestimmte Bilder und Worte in veränderlichen Konstellationen und Bedeutungen wiederkehren.
Die sieben Gedichtbände, die Bonnefoy in Frankreich über die Jahre hinweg veröffentlichte, liegen nun alle auf deutsch vor. Ihr Verfasser hat öfters betont, dass er nicht Gedichte (im Plural) schreibt, sondern an einem einzigen Gedicht, ähnlich wie man es etwa für Georg Trakl geltend gemacht hat. In der hierbei entstandenen Welt von Erzählmustern und poetischen Verweisen wohnen schattenhafte Figuren, oft auch nur körperlose Stimmen, die bisweilen in dramatischen Szenen – Urszenen, Kindheitsszenen – zusammenfinden. Der poetische Raum Bonnefoys ist ein ontologischer insofern, als der Autor eine Seinsfülle sagen will, die sich doch immer wieder entzieht. Fliessende Konturen haben Figuren wie Douve, die zuweilen an die Nymphe Daphne erinnert, bald Mensch, bald Baum; und polyphon bleibt der Klang der Stimmen, die von sich sagen: „Ich bin der leere Altar und der Abgrund und die Bögen, / Ich bin du selbst vielleicht und auch der Zweifel...“ Alle Figuren und Allegorien Bonnefoys haben etwas von Gott Proteus: sie sind in dauerndem Wandel begriffen, und die Verwandlung selbst ist eines der Anliegen des Dichters.
Das Wort „ontologisch“ soll nicht unterstellen, dass Bonnefoy sich einer bestimmten Philosophie angeschlossen habe. Im Gegenteil, der poetische Impetus läuft in seinem Dichtungsverständnis begrifflicher Fixierung stets zuwider. Was sich entzieht, wird mimetisch dargestellt insofern, als die Darstellung selbst einen schwebenden Status gewinnt. Die Präsenz der einfachen Dinge kann zugleich gesagt und nicht gesagt werden. Allerdings bewirkt dieses mitschwingende, hamletische Misstrauen gegen die Macht der Sprache eine Gestik der Evokation, der Anrufung und sogar des Gebets. Dass die Szenerien in Bonnefoys Prosatexten weitläufiger ausgestaltet werden, liegt in der Natur des Genres. Im letzten Gedichtband, Die gebogenen Planken (2003), vereint Bonnefoy auf freie Weise liedhafte, oft geradezu fröhlich gestimmte Gedichte mit allegorisierenden Versepen und récits in Prosa. Sehr vereinfacht gesagt, kann man in Bonnefoys dichterischem Werk ein ständiges Ringen um Erhellung auf der Ebene des Wahrnehmens wie des sprachlichen Ausdrucks erkennen, eine Entwicklung von den düsteren, mitunter gequälten, quälenden Gedichten über die Schattenfigur der Douve und die gestern herrschende Wüste (Titel des zweiten Gedichtbands), zu einer Einfachheit und Gelassenheit, die sich sprachlich umsetzt, ohne das befremdliche Element zu löschen. „Comment faire pour que vieillir, ce soit renaître“: das Schöpferische erscheint als formgebender Kampf gegen die Entropie, gegen den Tod.
Die ersten drei Gedichtbände erscheinen nun bei Hanser in zweisprachiger Ausgabe. Friedhelm Kemp hat, seinem Credo zufolge, dass die Verluste gegenüber dem Reichtum des Originals bei Versübertragungen zu gross seien, Bonnefoys Gedichte in Prosa übersetzt. Er folgt dem Credo allerdings nur halbherzig: da und dort liess er sich doch zu versuchsweisen Assonanzen und Rhythmisierungen verleiten. Und in manchen Fällen, besonders dann, wenn der Autor bewusst auf Mehrdeutigkeit setzt, scheint mir auch die „Sinntreue“ des Übersetzers fraglich. Das Kempsche Credo läuft auf ein diskursives Analysieren hinaus. Unter diesen Umständen erübrigt sich die kritische Prüfung der übersetzerischen Leistung. Eine Strophe aus dem ersten Gedicht des Bandes Die gebogenen Planken lautet in seiner Fassung: „Ergriffen sie oder nicht, unsere Hände, / der gleiche Überfluss. / Offen oder geschlossen unsere Augen, / das gleiche Licht.“ Die Szene ist hier ein Sommerabend mit Laubfröschen, Wasserbecken, Himmelsrot, leeren Gläsern. Ich habe mir eine spontane Versübersetzung derselben Strophe in mein Exemplar notiert: „Auch wenn die Hände ruhten, / Derselbe Überfluss, / Und bei geschlossnen Augen, / Ein und dasselbe Licht.“ Ich will nicht sagen, dass diese Variante besser ist als die erste. Allerdings scheint mir hier ein übersetzerischer Formwille erkennbar zu sein, bei Kemp aber nicht. Darüber hinaus glaube ich aber, dass die (kommentarlose) Prosaisierung von Poesie deren Sinngehalt oft mehr verdunkelt als erhellt.
Die Zweisprachigkeit solcher Gedichtbände, von Lyrik-Insidern immer wieder gefordert, kann zum Alibi werden für die nicht geleistete Arbeit des poetischen Übersetzens. Es fragt sich, wem damit gedient ist. Die Lektüre der Prosaübersetzungen kann einen Leser, der des Französischen nicht mächtig ist, vom Werk Bonnefoys nur abschrecken. Und einer, der französisch liest, kann sich die leicht erhältlichen einsprachigen Ausgaben besorgen, zum Beispiel jene der Collection Poésie bei Gallimard. Bonnefoy, ein ausdauernder Shakespeare-Übersetzer (bislang 15 Dramen und 24 Sonette), hat Gründe für das poetische Übersetzen formuliert. Es gelte, sagte er noch kürzlich in einem Interview, zunächst einen Rhythmus zu finden, „jenen fundamentalen Rhythmus, der den Vers trägt und den Blick verändert, der daraufhin die Logik des Textes wie auch der Existenz gewahrt.“ Die Frage „Poesie oder Prosa“ ist demnach keine Ermessensfrage, und auch keine „rein formale“. Sollte man die von Bonnefoy praktizierte übersetzerische Sorgfalt und Geduld nicht auch seinen Gedichten angedeihen lassen? Leopold Federmair

Yves Bonnefoy: Beschriebener Stein und andere Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp. Carl Hanser Verlag (Edition Akzente), München 2004. 357 Seiten.

Yves Bonnefoy: Die gebogenen Planken. Ins Deutsche übertragen und mit einem Nachwort von Friedhelm Kemp. Klett-Cotta, Stuttgart 2004. 231 Seiten.