Geduld der Unentschlossenheit
Thomas Kunsts lyrische Erkundungen in der Mitte des Lebens
„Was wäre ich am Fenster ohne Wale“ heißt der 2005 erschienene
jüngste Gedichtband des Leipziger Lyrikers und Erzählers Thomas Kunst.
So isoliert, wie er im Titel steht, ist der Satz großartig – ein
Wal ist ja doch immerhin ein unalltägliches, kulturell interessant codiertes
(Jonas, Ahab), zugleich aber nicht übermäßig gefälliges
Tier. Man stellt sich also sofort die Frage, worauf die Wal-Metapher hinausläuft,
beginnt im Kopf Szenarien zu entwickeln.
Das Gedicht, dem der Titel entnommen ist, löst den versprochenen poetischen
Bedeutungsüberschuss auf liebenswerte, wenngleich recht prosaische Weise
auf. Der Sprecher, ohne seine Frau nach Norwegen gereist, beobachtet vom Fenster
seiner Unterkunft aus tatsächlich Wale („du weißt, daß
ich für Sträucher und dicke, / überschaubare Tiere etwas übrig
habe“) und schreibt an „Meine liebste Gemahlin“ zu Haus: „du
schreibst, du seist dicker geworden, du / weißt doch, daß ich dieses
Blau schon immer geliebt / Habe, laß die fünf Kilo dort, wo sie sind,
denn / Wenn die fehlen, wirst auch du wieder weiter von mir / Entfernt sein,
gut, daß ich allein weiter gefahren bin, / Ich denk an dich, aber was
/ Wäre ich am Fenster ohne Wale.“
In formaler Hinsicht enthält das Buch drei ganz klar abgrenzbare Texttypen:
elf Sonette, die eindeutig und mit ziemlich weitem Abstand die besten Texte
des Buches sind; kurze, im Vergleich zu den gelegentlich etwas redundant dahinplätschernden
langen Texten bisweilen geradezu brutal, aber stets erfrischend lakonisch wirkende
knappe Vignetten; und die langen Parlando-Gedichte, in denen die Poetisierung
des Alltags oft in Form aus- bzw. von konkreten Alltagsgegenständen abschweifender
Assoziationsketten betrieben wird, in die sich Erinnerungsfragmente und Tagträume
einweben und die in den besten Fällen eine rhythmische Eigendynamik bekommen,
die den besten Langgedichten der Beat Generation zur Ehre gereicht hätte.
Die besten Fälle sind allerdings auf zwei beschränkt: „Ich gehe
immer am Stock wenn du mir von den Seehunden da“ und „Vielleicht
in Briefen aber wenigstens in Briefen“. Da das Buch ärgerlicherweise
nicht über ein Inhaltsverzeichnis verfügt, hier ein Servicehinweis:
sie finden sich auf den Seiten 40 bzw. 51. In der Mehrzahl der Fälle geraten
die langen Texte zu einem additiven Plätschern, das zu wenig Reibung bietet,
als dass der poetische Zündfunke überspringen könnte. Viele Bilder
sind zu sehen, aber kaum eines bringt einen zum Staunen. Allzu oft entsteht
der Eindruck, dass man eher eine additive Reihung privater Schnappschüsse
vor sich hat, der einen als Leser nirgends hinführt.
Kunsts im oben zitierten titelgebenden Gedicht gut sichtbarer Ansatz, die „mutwillige
Schönheit der Gedichte“ in einem Alltag freizusetzen, den der jahrhundertealte,
aber zählebige Antagonismus von Bürger und Bohemien eher auf der Seite
des Bürgerlichen verorten muss (und von dem sich das schreibende Ich in
diesen Texten selbst erst lösen muss), sein Bemühen, eine tiefe Liebe
in den unauffälligen Gesten von Zärtlichkeit im Alltag auszumachen,
verdient Sympathie, weil er mit den letzten Resten eines auratischen Dichterbildes
aufräumt, demzufolge der Dichter irgendwie jemand Besonderes sein müsse,
der nur für seine Kunst lebt.
Schade nur, dass Kunst gleich auf der ersten Seite des Buches etwas kraftmeierisch
praktisch behauptet, nur auf seine Weise könnten gute Gedichte entstehen,
„auch wenn sich all die anderen / Jungen, nachstoßenden Gedichte
schon wie / Glatte, ausgereifte Seminare gebärden, so / Starr, ideenlos
und ohne Leidenschaft.“ Wer sich gedrängt sieht, seine Position im
literarischen Feld dermaßen lauthals zu markieren, dem nimmt man die zur
Schau getragene Zufriedenheit mit einer relativen Außenseiterposition
– Leipzig, nicht Berlin! – dann vielleicht doch nicht ganz ab.
Wirklich schade, aber immerhin zeigt er später in dem von wohltuendem absurdem
Humor getränkten „Frankfurt war heute wieder weniger ich habe“
(Seite 81), einem der besten Texte des Buches, wie eine (Selbst-)Kritik des
Literaturbetriebs auf der Höhe ihrer künstlerischen Mittel aussehen
kann.
Durchweg auf der Höhe ihrer Mittel bewegen sich allerdings die Sonette.
Von den widerstreitenden Gefühlen, die sich in den Texten des Buches niedergeschlagen
haben, bewahren die Sonette vor allem Wut; die von der Sonettform bedingte Verknappung
zwingt eine gewisse, perfekt zum Inhalt passende Härte der Formulierungen
herbei, weil nur Platz ist für wenige übergangslos aneinander geschnittene
Bilder. Dadurch entstehen Metaphernräume, die emotional deutlich codiert
und trotzdem viel offener für die Assoziationen der Leserin sind als das
restliche Buch.
Wenn Kunst mit verhaltener Selbstironie sagt, „zu meiner Zeit kam die
Idee, zu stottern / In der Poesie und auch im Leben, noch von Herzen“,
so zieht er mit seinen Sonetten die Lehre aus dieser Erkenntnis und beweist,
dass ‚emotionale Tiefe’ in Gedichten eben keine Frage der ‚Authentizität’
ist, sondern ein Frage der formal stimmigen Verwendung solcher Details.
Angesichts seiner Souveränität in der Verwendung der Sonettform, die
sich hiermit wieder einmal als erstaunlich haltbares Format erweist, würde
man sich von Thomas Kunst in Zukunft mehr solcher „mutwillig“ zugespitzten
Texte wünschen. Mit das schönste und zugleich das versöhnlichste
Sonett sei hier in voller Länge zitiert:
IN DEINEN AUGEN TRIEBEN MAL DELPHINE
Von Weiß nach Grau, darüber lag die See.
Wenn sich die Flugzeuge in einer Linie
Am Horizont nicht weitertrauen, geh.
In deinen Augen blieben mal Delphine
Für einen umgedrehten Tag zurück.
Wenn sich die Haare wie auf einer Schiene
Bedrängt über dem Meer bewegen, drück
Mir deinen Zeigefinger an mein Kinn,
Damit die Zunge austritt und die Nässe
Britannien selbst bei Nebel an sich bindet.
Delphine wollen nie wer weiß wohin.
Sie brauchen trotzdem ständig neue Pässe.
Ich will auf Dauer, daß sie jemand findet.
Gerald Fiebig
Thomas Kunst: Was wäre ich am Fenster ohne Wale. Gedichte. Frankfurt:
Frankfurter Verlagsanstalt 2005