Elementare Dinge
– 6 Dichter aus Sankt-Petersburg –

 

Die Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kriktik "die Horen" hat sich in der Ausgabe Nr. 214 die Petersburger Literatur, vor allem die Lyrik, zum Schwerpunkt gewählt. Sechs Dichter aus Sankt-Petersburg werden vorgestellt: Wiktor Sosnora, Arkadi Dragomoschtschenko, Wladimir Kutscherjawkin, Boris Konstriktor, Dimitri Woltschek und Dimitri Golynko.
Für das Format einer Horenausgabe eine ausschöpftend repräsentative Auswahl der Petersburger Dichterszene zu treffen – wäre eine illusorische Idee. Nach Durchsicht mehrerer Literaturmagazine, allen voran von „Mitin Shurnal“, haben sich die Herausgeber Gabriele Leupold und Georg Witte für diese Auswahl entschieden. Es wird versucht, einen Einblick in die dichterische Tradition von Sankt-Petersburg zu geben – eine umfangreiche Aufgabe, denn die Zeitspanne der literarischen Wirkung allein dieser 6 Autoren zusammen umfasst etwa 50 Jahre. Begleitet wird das Ganze von Fotographien und Collagen des Petersburger Künstlers Evgenij Jufit, dessen Werke an die dunkle "sumpfige" Seite von Sankt-Petersburg anknüpfen.

Ein gewisses Pathos oder ein Klassizismus, den man vielleicht erwarten würde, wenn man sich einen Überblick über die gesamte russische Dichterszene verschaffte, ist bei den Petersburger Dichtern von Wiktor Sosnora bis Dimitri Golynko ausgeblieben. Stattdessen findet man eine durch diverse Einflüsse gezeichnete Disparität, bei der die Frage offen bleibt, ob bei der getroffenen Auswahl ein gemeinsamer und für Sankt-Petersburg charakteristischer Stil erkennbar wird.
Die Übersetzer Gabriele Leutpold, Georg Witte, Jan Wagner und Sergej Gladkich haben bei der Arbeit sicherlich einiges geleistet, wie zum Beispiel bei den Gedichten des altehrwürdigen Wiktor Sosnora, dessen Gesamtwerk knapp 50 Jahre umfasst und in seiner letzten Schaffensperiode stellenweise mit wuchernden Wortkettenanhäufungen dem Leser Kopfzerbrechen bereitet.
Doch erscheint die zeitliche Spannweite, in der die vorgestellten Lyriker wirkten und wirken, letztlich sehr weit: zwischen dem bereits erwähnten Wiktor Sosnora, der noch zu den Zeiten der Chruschtschowschen Tauwetterperiode angefangen hat, bis Dimitri Golynko, dessen Gedichtzyklus „Elementare Dinge“ wahrscheinlich am auffallendsten innerhalb der ganzen Gedichtauswahl dieser Horenausgabe ist und der auch in der russischen Poesielandschaft neue Töne anschlägt, liegt ein weites, im Heft nur anskizziertes Feld. Die Idee der Verfasser war es offenbar, die Breite der Strömungen der Petersburger Szene in einzelnen, interessanten Vertretern aufscheinen zu lassen.
Die vertretenen Lyriker vereint immerhin, daß jeder auf seine Art ein recht radikales experimentelles Schreiben und eine entschlossene Auseinandersetzung mit dem russischen Modernismus versucht. Die Ansätze sind dabei sehr verschieden.

W iktor Sosnora versucht eine sehr eigene Anknüpfung an das Erbe des Futurismus, ihn zieht es zur Travestie, er schafft ein bizzares Konglomerat poetischer Bilder – "Flöte und Prosaismen" genannt. Als ältester und auch bekanntester von allen vorgestellten Dichtern gehört Sosnora zu denjenigen, die noch Teilnehmer der berühmten Lesungen waren, u.a. im Gorkij-Kulturhaus 1960, wo neben ihm Joseph Brodsky, Alexander Kuschner, Gleb Gorbowski und andere Stars damaliger Zeiten auftraten. 1962 wurde auch schon der erste Lyrikband von Sosnora publiziert.
Seine Dichtung verspricht keine leichte Lektüre, wobei dem Leser von seinen Interpreten die Pflicht auferlegt wird, sich durch die Dickicht seiner Polystilistik hart durcharbeiten zu müssen. Das freilich nur – soweit es die bizarre Textur seine Dichtung überhaupt noch zulässt. Die Pilotbezeichnung „Neoarchaik“ für seinen Stil, die man anfangs zur Charakterisierung benutzen möchte, wird man allerdings im Wust der phantasievollen und exotischen Konstrukte fallen lassen müssen.
Seine Poesie ist etwas für hartgesottene Dichtkunsthunter mit Hang zum Extremen. Dort, wo sich Sosnora ein wenig zurücknimmt, werden andere Elemente und Besonderheiten seiner Dichtung sichtbar, die auch verständlich machen, warum er über die Jahrzehnte hinweg immer wieder dankbare Leser findet:

Ich lebe auf jenen Inseln, die münden in das Flüßchen „halt ein!“,
sie sind sumpfig, d.h. es gibt keinen Wein dort,
und Vielblinzelei der Vögel, ein Flugplatz dazu,
von dem niemand startet, weil er Morast ist.
Auf den flüssigen Bahnen versinken Flugzeuge und Strom-
Mast, das Rohr blüht,
das Haus sackt ein in diesem gewaltigen Schlamm,
und bald sind wir untergetaucht bis zum Scheitel.

(aus Flöte und Prosaismen, Nr. 5)

Andererseits trifft man eben auch auf Stellen wie folgende, bei denen mit dem Leser ein seltsam gekünstelt wirkender Dialog geführt wird:
genialer Schütze (wer greift denn an?), reinige ich die Waffe.
Sosnoras Poetik verbindet man allgemein mit derWladimir Majakowskis und noch mehr mit der Welemir Chlebnikows – einem der Urväter des russischen Futurismus: Befreiung von aller Alltäglichkeit, Unvorhersagbarkeit, Naivität und slawische Archaik rücken dabei in den Mittelpunkt.
Doch findet man bei Sosnora, trotz aller Unberechenbarkeit, auch vertraut, bekannt Erscheinendes:

O arme Welt des Tränenglücks,
von Häusern, die im Regen beben,
von Rosen, salzig, Träumen, grün,
zwei Händen, farblos an der Lampe.
(aus Flöte und Prosaismen, Nr. 8)

Wenn Majakowski für Sosnora durchaus ein Vorbild war, blieb er für Arkadi Dragomoschtschenko, Wladimir Kutscherjawkin und Boris Konstriktor, die von den offiziellen literarischen Institutionen nicht akzeptiert wurden, die Verkörperung des sowjetischen Konformismus.
So sucht z.B. Arkadi Dragomoschtschenko nicht den Dialog mit der Avantgarde, sondern geht den Weg ins Innere, ins Unbewusste. Wichtig für sein Werk ist die amerikanische language school (z.B. Palmer), jene Dichter, die die Sprache selbst in Zentrum ihrer Reflexionen stellten. Realität tritt dabei lediglich als ein linguistisches Subprodukt auf.
Dragomoschtschenkos Dichtung setzt einen gewissen Synkretismus der Wahrnehmung voraus, im Gegensatz zu der Tradition der Zerlegung, der Analyse und Einordnung in das Reich des Verstandenen und dadurch Unterworfenen und Beherrschten. All dem versucht sich seine Poesie zu entziehen. Sie ist auch weit entfernt von der Definition des Gedichts als etwas Vollendetem oder Autonomem. Die Poesie soll „reich“ sein, „an Überfluss grenzen“ – und soll ohne Denkpausen, in einem Zug gelesen werden. Die gemächliche Kristallisation der Bedeutung, Aufklärung, Belebung folgen der Lektüre...
Das ist Poesie des Risikos. Sie riskiert und verliert dabei nicht selten, aber dieses Riskieren ist ein untrennbarer Teil von ihr.
Nach M. Jampolski ist die Poesie von Dragomoschtschenko eine grundsätzlich „obdachlose Poesie“. Sie ist unvorstellbar in der Welt der abholbereiten Begriffe und Zitate. Sie wandert in der Welt der Unbestimmtheiten und ersetzt die Erkenntnis durch „caresse“ einer unmittelbaren und unbeabsichtigten Berührung.

Die Finger, sie träumen
Die Spalten des Gesangs, der von den Steinen her strömt,
Die in ihren Träumen
Der Sonne lasurene Salze sehen
..so
sind Berührungen Zunge an Zunge,
und auch von Speichel an ihr;
so sind auseinander geführt die Arme und Beine
von Mann und Frau..
(aus Papier Träume)

Wie beim Palimpsest, das wieder und wieder beschrieben wird und wo die Bedeutungen sich überlagern, verwischen, ist man gezwungen, sich dem Fluss des Gedichts hinzugeben.
Diese Poesie steht in Widerspruch zu der herrschenden europäischen kulturellen Tradition (Jampolski), für die die Erkenntnis und ihre Funktion immer als Beherrschung, Unterwerfung, Erfassen von Fremdem, nicht ganz Verständlichem begriffen wurde. Manchmal mischen sich in die postmoderne Distanz Bilder eines surrealistischen Petersburg

In diesem Herbst sind wir oft mitten im Wort verstummt.
Gespenstische Kette von Dingen, aus denen
Ein Ding zu werden keinem gelang,
sondern nur eine Höhlung des Sinns, den
es nie zu entwirren gilt in der Feuchte des Atems.
Man konnte hören, wie hinterm Fenster
Stumm die Esche tobt im himmlischen Engpaß des Risses.

(Aus Alles kam zum Verfall)

Wenn der Autor mit jemandem spricht, dann am ehesten mit sich selbst bzw. in einer Art innerem Dialog rückt die Sprache selbst ins Zentrum, bleibt für den Leser (Zuschauer) meist aber dunkel . Insofern wirken die Zugriffe auf vermeintlich allgemein bekanntes Kulturgut wie Rembrandt störend, sie wirken künstlich, fremd:

Aber die Menschen stehen,
wie die Wache steht auf den Leinen von Rembrandt,
und der Morgen verhüllt langsam,
den Kreislauf den Strudel des Gemurmels


Man findet bei dem Autor neben sehr interessanten und ergreifenden Stellen auch solche, die man als Pionierlager-Metaphern beschreiben möchte und die einen bombastischen Unterton erklingen lassen: "Halm des Feuers", "Flocken der Finsternis", "Gekreisch der Lasur", "Dieser Satz ist ein Ergebnis dessen, was du noch nicht geschrieben hast“, etc.
Da ist man sich nicht immer sicher, ob der angestrebte Überfluß – nicht einfach zu Überflüssigem führt...

Wladimir Kutscherjawkin ist vielleicht der Zugänglichste unter den horen-Dichtern. Er steht in der Nachfolge der graphomanischen Tradition – Nikolai Olejnik z.B. – wenn man es vereinfacht betrachtet. Seine Dichtung wirkt stellenweise etwas naiv und zählt zum russischen Primitivismus und der späten Petersburger Dekadenz, den sogenannten Bitniki.
Die Tram und der Alkohol, dahinter die Kulisse der Stadt, gebührend vernebelt – das ist das vordergründige Inventar seiner Gedichte. Dahinter verbirgt sich allerdings ein ausgearbeitetes poetisches Können.
Es ist ein Spiel mit dem Alltag, den Mythen und Bildern der Stadt, der Stadt als Experimentierobjekt. Sie wird oft aus einer gebrochenen oder beweglichen Perspektive gesehen, in somnambulen oder trunkenen Zuständen.

Ich fahre zum Litejnyj
Da huschte, blind, ein Wagen über die Brücke,
Fiel fast in Schlaf als er fuhr.
Meine Straßenbahn flackert, eine andere flammt ihr entgegen.
Die Turmspitze kippte – schon hat sie die Hölle.
Doch die trunkenen Zeitungszeiten verachtend
Schiebt hoch auf die zuckende Braue den Hut
Ein Mann im Waggon – mit stolzem Gesicht wie die Elster
Und mit schrecklichem Blut, das schlug Wellen unter der Haut.


Immer wieder taucht die Straßenbahn bei Kutscherjawkin auf und nimmt manchmal sogar die Stelle des lyrischen Helds an oder wird zur existenziellen Metapher: O Herz, du schlägst in mir wie eine Tram
Generell spielt Straßenbahn ja eine gewisse Rolle in der Petersburger Dichtung – die Stadt besitzt übrigens das längste Straßenbahnnetz der Welt.

Konzeptualistischer geht Dimitri Golynko vor. Die Kombination aus täuschender Einfachheit und ausgestelltem poetischem Handwerk macht das Besondere der Poesie Dmitri Golynkos aus. Vorgestellt wird er mit dem Zyklus „Elementare Dinge“:

elementare dinge
nehmen nicht viel Platz ein
offenbar ist das eine formel des zeitgeists
nicht viel platz einnehmen…
darum ist das elementare ding so ein gimpel
als hätte man es das halbe leben im tollhaus gehalten

Jedes auftretende Subjekt bei Golynko scheint nur zu Hälfte real, es existiert an der Grenze zum Realen. Anstelle des lyrischen Ichs stehen abstrakte Begriffe wie „Elementare Dinge“ oder „Respektable Kategorien“. Doch die Gefühle der innerhalb der lyrischen Inszenierung auftauchenden Darsteller können sich oft als wahr erweisen, authentisch. Jedes Gefühl wird auf seine Authentizität hin geprüft.
Einfluss auf sein Werk wird Sosnora zugeschrieben – daher vielleicht „die eigenartige Phonetik, die Intensivierung der Alliteration, Inversion, Neigung zur Bildung von riesigen Gedicht-Zyklen und die Anhäufungen der Reminiszenzen aus der russischen und fremdsprachlichen Literatur, getragen durch verschiedene Umwege.“ (I. Kukulin)
„Elementare Dinge“ funktioniert dabei wie eine „Fernsehserie“ – mit einem begrifflichen oder metaphorischen Hauptdarsteller, dem elementaren Ding. In den Mittelpunkt dieser Serie rückt ein bestimmtes Phänomen, das einen geschlossenen Kreis der Erlebnisse durchwandelt, Morphosen durchmacht bzw. in verschiedenen Phänomenen erkannt wird, die mit Erotik und der sozialen Existenz verbunden sind. „Elementares Ding“ ist z.B. eine einfältige junge Frau, obwohl auch nicht ohne Lebenserfahrung, die sich aber im Endeffekt nicht als Mensch präsentiert, sondern bald als ein „sexueller Roboter“ („Tage haben sie nicht“), bald als die „Möglichkeit eines Vergnügens“.

elementare dinge leben außerhalb des menschen
das außenstehen ist ihr steckenpferd und hobby
im menschen sitzt etwas vom elementaren ding
darin liegt seine bedeutung
aber der mensch ist um vieles größer als das elementare ding

Zuletzt ist der erwähnte weibliche „Roboter“ auch zu einer kurzen und ergebnislosen Reflexion fähig, die ihn/sie darin überzeugt, dass sie den anderen ähnlich ist und sich nur vergessen kann, wenn sie „mit gestutzter Pupille../ den Riss im Wandanschlag“ beobachtet. Immer wieder wird die Beschreibung des elemantaren Dings beschworen, zuletzt auch als Wunsch formuliert:
Wenn „das elementare Ding“ ein Mensch sein soll, dann ein besserer Mensch.“
Man ist auf weitere Übersetzungen von Dimitri Golynko gespannt, dessen Zyklus einen starken Eindruck hinterlassen hat.

Boris Wantalow/ Boris Konstriktor (der unter verschiedenen Pseudonymen auftritt) ist ein Vertreter der konkreten Poesie und steht, nach den Worten von S. Sawizki für die neoavantgardistische Linie, die sich vor allem an der futuristischen Zaum’-Dichtung und dem narrativen Irrationalismus der Oberiuten orientierte:

pra va klo by
es drehen sich die damen
es rascheln die maul würfe
es fällt das laub
wip – we
tor mein tsukunda
tsushima bein

In den 90er Jahren arbeitete er an der neuen experimentellen Zeitschrift Tschernowik mit, gab einen Prosaband und eine Gedichtsammlung heraus und publizierte eine Reihe von Comic-Serien.

Dimitri Woltschek war Mitbegründer von Mitin Shurnal – des Literaturmagazins, dessen Autoren die Verfasser von diesem Horenband unter anderem als Grundlage für ihre Auswahl benutzt haben. In den 1990er Jahren hat Woltschek zwei Gedichtbände und zwei Romane veröffentlicht. An die Stelle von neomodernistischer Ironie und Empfindsamkeit tritt in seiner Lyrik allmählich eine raffinert ästhetisierte Erotik und Brutalität. (S. Sawizki). Bekannt ist seine Vorliebe für literarische Experimente und schwarzen Humor

Das Herz hat aufgehört zu schlagen
Jedoch so groß ist hier das unglück nicht
Denk dabei nur an das metallstück
das fest im preßstock sitzt
dem schelm erfiert der frost ein auge
das eis es fließt es fließt es fließt
ein gieriger passant entweidet grausam
den armen fisch
der zappelt unter dem entzückten messer
wie das genie der schönheit pur
berühr ihn nur – schon reißt der muskel
vom glanz des schwefelsäuresuds

Interessant ist sein Prosastück „.. Codex des Untergangs“, dessen Ausschnitt im vorliegenden Horenband veröffentlicht wurde. Nach den Worten des Literaturkritikers Kirill Kobrin ist „Codex des Untergangs“ eines der interessantesten Beispiele des entflammten homosexuellen Ästhetizismus, das keine Rücksicht auf Moral und Anstand nimmt und das weder Geschichte noch gesunden Verstand verschont. „Codex des Untergangs“ könnte man als den Versuch eines Anti-Evangeliums bezeichnen.
Zu den Vorfahren des Autors wird man Louis-Ferdinand Céline, Jean Genet und William S. Burroughs zählen können.

Abschließend: Man wünscht sich sehr eine Fortsetzung der ermöglichten Bekanntschaft mit der russischen Poesie, eine Fortsetzung, die dann vielleicht noch mehr der jüngeren Dichter aus der Petersburger und Moskauer Szene beleuchten würde.


Alexander Filyuta


die horen - Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 214 (2/2004): Nach danach - Neue Poesie aus Sankt Petersburg, 9,50 Euro