Schneeschreiben

Zwei lyrische Großversuche über die eingeschneite Welt

Aus der Tatsache, dass zum ersten Mal in der Menscheitsgeschichte heute die Zahl der Lebenden die Zahl der Toten übersteige, leitete Heiner Müller Mitte der neunziger Jahre die rasante Entwertung geschichtlichen Herleitungsbedürfnisses zugunsten eines Bricolagebewußtseins her, das Geschichte zunehmend als Spielbaukasten beliebiger Verfügbarkeit betrachtet. Bestätigt und verstärkt wird dieser Effekt durch die fernsehgerechte Zerlegung geschichtlicher Zusammenhänge in halb private Sagas. Insofern steht die dichterische Anmutung Durs Grünbeins, dichterische Tiefensonden ausgerechnet in die römische Kaiserzeit, die griechische Hochantike oder wie jetzt in die Vor-Schwellenzeit der Moderne zu schicken, quer zum Entsorgungsmainstream Sein Gewährsmann ist diesmal der Philosoph René Descartes, von dem der Rationalismus des modernen europäischen Denkens seinen Ausgang nahm. Grünbein umreisst in seinen 42 streng in jeweils 7 Strophen á 10 Versen komponierten Gesängen zwei grandiose Situationstableaus, die im Hauptteil (31 Cantos) den 23-Jährigen in einem Dorf bei Ulm im Winter 1619/20 und dann den sterbenden Philosophen am Schwedischen Hof 1650/51 zeigen. Grünbein schöpft das reiche Assoziationsangebot des Wortes „Schnee“ aus, um an diesem Leitwort entlang umfängliche Wahrnehmungs- und Entdeckungsgänge zu unternehmen. Schnee als weiße Fläche der tabula rasa, die weiße Kälte als Metonym für rationales, affektfreies Forschen, der Schneekristall als Beispiel für ästhetische Perfektion, Schnee als Korrespondenz zum Weißen im Auge, der Schnee als „abstraktes Weiß“: „Schnee abstrahiert. Nehmt an, er hat das Bett gemacht/ Für die Vernunft.“

Im Großen und Ganzen entfaltet sich das Poem an drei intentionalen Grundsträngen:
Ein erster ist anthropologisch zentriert: Auf Descartes lässt sich mit guten Gründen jene Ganzheitlichkeit menschlicher Vermögen projizieren, die dem heillos zerrissenen Zeitgenossen nur mehr als Traum, Sehnsucht oder Utopierest zu Gebote steht. Deshalb fasziniert Descartes` Versuch, Körper, Geist, Philosophie und Natur auf einen unbezweifelbaren Grund zurückzuführen. Grünbein zu den Gründen, den Denker des 17. Jahrhunderts als alter ego zu wählen: „Mich interessiert dieses Dreieck aus Philosophie, naturwissenschaftlichem Denken und Literaturpoesie. Und dafür ist Descartes sozusagen der geeignete Protagonist, um das alles wieder in einer Person zu bündeln.“

Eine zweite Intentionslinie ist ästhetisch-poetologisch grundiert, vom Schneeweißen des Papiers vor dem kreativen Schöpfungsakt her. In seinem erwähnten Essay nimmt Grünbein die üblichen Plapperfragen nach Lesungen („Warum schreiben Sie?“, „Kann man davon leben?“ etc.) zum Anlaß, um die inhärenten Kränkungen hochgemut mit einer erneuten Nobilitierung der Poesie zu beantworten. Seine konjunktivische Ausgangsbefürchtung ist dabei eher eine herabgedimmte Zustandsbeschreibung: „Nur eine Gesellschaft, die selbst an ihrer Bestimmung irre wird, die in allem, was jenseits bloßer ökonomischer Reproduktion liegt, appetitlos geworden wäre, könnte sich so sehr gehen lassen, die sogenannte schwierige Dichtung in Frage zu stellen.“ Dichtung befähige nicht nur, dem Terror der Gegenwart zu entkommen, sie allein sei in der Lage, das Gehirn als „unendlichen Zufluchtsraum“ mit seinen „vielen Geheimhöhlen und Kavernen“ auszuleuchten. „Sobald es um die inneren, traumhaften Zusammenhänge geht, sind alle anderen Kunstformen angewiesen auf eine Synthese durchs Wort. Der Traum, und das stellt sich erst schreibend heraus, ist das Wirkliche am Ich.“

Der Rückgriff auf ältere Dichtungstraditionen, etwa die des Barock, ist dabei nicht nur bei Grünbein mit einer dezidierten Aufwertung des hohen Tons verbunden. Mit dem weiteren Rückgang an öffentlicher Beachtung tritt seit Mitte der neunziger Jahre ein bedeutender Teil der Gegenwartslyrik gleichsam die Flucht nach vorn an. Man denke etwa an Thomas Klings Definition des Verses als „Pathosbeschleuniger“ oder an Raoul Schrotts Rehabilitation des „Erhabenen“ als ästhetischer Kategorie.
Die dritte Leitlinie im Großgedicht ist der Spannungsbogen zwischen Zeitgeschichte - Descartes Wirkungszeit fällt in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges - und seiner Entschlossenheit, in größter Wirrnis ringsum einen Neubeginn der Philosophie zu wagen. Dieses Moment der Selbst-Setzung unter heillosen Umgebungsbedingungen ist es, der Grünbein fasziniert und in dem er nicht ohne Grund Parallelen zur heutigen Situation des Künstlers, des Intellektuellen, des Philosophen erblickt.

Dass Grünbein so vehement auf die Urgründe modernen Philosophierens insistiert, hat allerdings seine Bewandtnis auch darin, dass er sich, einer Traditionslinie von Berkeley bis zum radikalen Konstruktivismus folgend, immer schon schwer getan hat, Gesellschaft strukturell und historisch zu fassen; sein Denkfixpunkt seit den Essays im Umkreis von „Schädelbasislektion“ war immer die von der Einzelmonade aus gedachte Vorstellung von Gesellschaft als des Zusammentreffens (und mehr noch Aneinandervorbeiexistierens) von Einzelkosmen. Das Ausmalen aller Nuancen der Wahrnehmung von Schnee und die abstrahierende Projektion als des verschlingenden Nichts im neuen Epos umspielt die Auffassung von Wirklichkeit als einer sprachlich vorstrukturierten Konstruktion des Bewußtseins. Was für die Behauptung des - zumal dichterischen - Einzelwillens einleuchtend erscheint, erweist sich in Hinsicht auf das reflektierende Erspüren von komplexen Gesellschaftszusammenhängen als zu kurz gegriffen: Was als Basis für Gruppenverhalten noch Erklärungsimpulse liefert, muss zu vieles außer acht lassen, wenn Schichteninteressen, konkrete Machtverhältnisse und Handlungsgeschehen ins Blickfeld geraten. Zugunsten wirklicher und angenommener anthropologischer Gegebenheiten verdampfen geschichtliche Differenzen ins Akzidentielle. Auf beeindruckende Weise fangen Grünbeins Großgedichte andererseits das umfassende „Unbehagen in der Kultur“ (Freud) von Unbehaglern aller Coleur auf - ohne allerdings wirklich schmerzhaft zu sein. Denn besänftigt wird die durch verstörende Einzelbilder möglicherweise aufgewühlte Seele durch eine stoische Verve zur Form, die wie in jeder Klassik auch Redundanz und Langeweile zeitigt, wenn die commune Geste aus Zählungsgründen theatralisch in Kothurnklicken entschärft wird. Wenn ich dennoch ob der Einzelschönheit vieler Bildfindungen für universale Kälte die Lektüre respektvoll und durchaus erwärmt beendet habe, so vielleicht auch mit der Hoffnung, dem Ausnahmedichter Grünbein mögen nach dieser Kraftanstrengung der Kristallisation wieder die Dschungelpfade zur nächsten Brennerei leichtfüßig zuhanden sein. Brennerei? Gedichte sind nämlich, wie Grünbein in seinem Vortrag „Warum schriftlos leben?“ definiert, nicht zuletzt „für den, der das Hochprozentige schätzt, destilliertes Erleben, Abbreviaturen der Existenz, Erschütterungen und Verlautbarungen in Tropfenform.“


Um die Flüchtigkeit der Naturerscheinungen und ihrer Wahrnehmung im Verhältnis zu den „ewigen“ Fragen der Existenz kreisen auch Hans Magnus Enzensbergers neue Gedichte, die wie immer im „Fliegenden Robert“-Sound der ironischen Uneigentlichkeit auf den Leser kommen. Ihre oft didaktisch forcierte Botschaft insistiert auf Entschleunigung, Kontemplation, Aufmerksamkeit für das Beiläufige.
Vor über 25 Jahren hatte Enzensberger mit dem Poem „Der Untergang der Titanic“ ein Großgedicht vorgelegt, das Eis, Ich und Es in großen Bögen zusammensah. Nun sind es die kleinen Bögen zwischen Himmel und Erde, schwarz und schneeweiß, an denen sich das Aufmerken entzündet, und das liest sich dann, wie im Gedicht „Schwäne“, so: „Daß sie weiß sind, das weiß doch jeder. / Schneeweiß wie die Flügelhauben der Nonnen, / das Ei, der Eisberg, schneeweiß, / mit einem Wort, wie der Schnee. / Bisher ist es noch jedesmal gut gegangen / mit den vier Jahreszeiten. Immer dasselbe: / Es schneit. Schlimmstenfalls eine Lawine. [...]“ Die Pointe des Gedichtes, man ahnt es schon, besteht darin, dass das sprechende Ich entgegen bisheriger Erfahrung Hunderte von Schwänen vorbeiziehen sieht, und: „Jeder von ihnen war schwarz.“ In diesem Schwarz-Weiss-Gegriesel dienen technisch-naturwissenschaftliche Symbolworte instrumenteller Vernunft, enervierende Alltagsverrichtungen und noch die in Kriegen „verwüsteten Dörfer“ als Folien transzendenter Aufschwünge in kleine Mysterien. So weit, so vertraut seit Baudelaire. Durchsichtig versucht Enzensberger diese simple Konstruktion zum Verfahren zu kultivieren, und die durchgehende Gleich-Gültigkeit, mit der die Prosa aufgenommener Welt differenzarm zum bloßen Poetisierungs-Material degradiert wird, beginnt, gelinde gesagt, rasch zu ermüden.

Vieles von dem, was er hellsichtig 1989 in seinen „Meldungen vom lyrischen Betrieb“ der deutschen Gegenwartslyrik ins Stammbuch schrieb, kehrt sich nun gegen ihn: die Geschwätzigkeit, die Beliebigkeit, das näselnde Parlando. Von Konzentration – eine der Grundbedingungen von Dichtung -, Durchdringungsanspruch oder Versraffinesse übrig geblieben ist – matschiges Räsonieren: „(...) die waren doch auch einmal entflammt, / früher, irgendwann, selbstvergessen, / außer sich, strahlend / vor Übermut, oder nicht? / Wie kam es? Seit wann? Und warum? / Draußen der Schnee ist auch schon wieder // zu Matsch geworden.“ Verräterisch ist eine Akkumulationsmanie, die in jedem zweiten Gedicht Raum greift und nur einen Effekt zeitigt: den der Austauschbarkeit. Ebenso die Pose, den Gedichtgang mit der Sprachgeste pointieren zu wollen, das Gegenteil des Erwägten als ebenso stringent anzusehen : „Das Energiefeld der Toten // [...] hilft, vielleicht bis ans Ende der Welt, / vielleicht auch nicht“; „Wenn ihr könnt, verzeiht mir. // Oder laßt es bleiben.“ usw. usf. . Und auch die Verächtlichkeit, mit der Enzensberger alle „Zu-kurz-Gekommenen“ bedenkt ( „Unterlassen habe ich es, / dem Penner die Bruderhand zu küssen, / und beizeiten zu gießen / die fleißigen Lieschen des Nachbarn“), wird durch keinerlei ästhetische Verrücktheit aufgewogen, wie man es aus der Geschichte der modernen Kunst kennt. Die Überschaubarkeit der handwerklichen Mittel ließ mich denn auch bei der Lektüre eher die Bräsigkeiten oder Victory-Gesten unserer politsch-wirtschaftlichen Elite-Lichtgestalten assoziieren. Insofern ist der Gedichtband als Beruhigungsdroge für gestresste Manager durchaus zu empfehlen.
Natürlich ist Enzensbergers „Die Geschichte der Wolken“ in den großen Feuilletons, in den Kultursendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ausnahmslos wohlwollend bis euphorisch besprochen worden. Mit Bordieu ließe sich auf das beachtliche symbolische Kapital der Marke HME hinweisen und die damit verbundenen bedingten Reflexe der Kritiker oder schlicht auf den Goutierungs-Filz im Kulturbetrieb. Wem Enzensberger verlässlicher Reflexionsbegleiter durch die Lebensgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. jahrhunderts war, den müsste die seit einigen Gedichtbänden bereits angedeutete Selbstdemontage dieses Lyrikers mit Gram erfüllen.

Peter Geist

Durs Grünbein, Vom Schnee, Suhrkamp Verlag Frankfurt a.M. 2003; Hans Magnus Enzensberger, Die Geschichte der Wolken, 99 Meditationen, Suhrkamp Verlag Frankfurt a.M. 2003.