Imitate und Tarnungen
Über Lyrik von Jetzt.
Bei manchen Neuigkeiten des literarischen Betriebes fragt man zunächst:
Wie bitte, was, wieso erst jetzt? So geht es mir mit der handlichen 400-Seiten-Anthologie
„Lyrik von Jetzt“, die nichts weniger denn eine Bestandsaufnahme
der deutschsprachigen Lyrik der unter Vierzigjährigen vorlegt. Wieso erst
jetzt, die „Lyrik von Jetzt“, wo ich schon beim ersten Blättern
über lauter alte Bekannte stolpere: Ein Gutteil der Autoren hat sich längst
einen Namen gemacht in der Lyrik-Community, nicht selten – wenn ich etwa
an Franzobel, Albert Ostermaier und Marcel Beyer denke – gar weit über
sie hinaus, und bei der Durchsicht stoße ich auf etliche Texte, die längst
ins kulturelle Gedächtnis der neunziger Jahre einzugehen sich anschicken.
Und doch relativiert sich schnell die Annahme, die bereits bekannten bis ein
wenig berühmten Poeten fungierten hier als Köder, um eine Reihe lyrischer
local heroes mit präsentieren zu können. Eine naheliegende Annahme,
wenn man die Literaturgeschichte zu Rate zieht, die unbarmherzig klarmacht,
dass selbst bei günstigen Generationslagerungen kaum mehr als ein Dutzend
Stimmen das Zeug hat, durch mittelfristige Kanonisierungskämpfe in eine
beständige Präsenz der Rezeptionsaufrufungen entlastet zu werden.
Das wird auch den Dichterinnen und Dichtern dieser Generation nicht erspart
bleiben, und doch: Die Leistung der beiden Herausgeber Björn Kuhligk und
Jan Wagner lässt dieses vorgreifende Einbedenken verblassen vor der Tatsache,
dass sie in ihrer Anthologie einen – soweit ich sehe – kompletten
Generationsauftritt zu präsentieren in der Lage sind. Dass dieser Eindruck
der bestimmende ist, liegt vor allem daran, dass sie auf eigene Wertungshierarchien
völlig verzichten: Jeder der 74 Stimmen wird ein gleich großer Raum
von jeweils vier Gedichten eingeräumt, wobei die Entscheidungshoheit darüber,
welche Texte Aufnahme fanden, ganz allein den Herausgebern oblag. Diese Entscheidung
ist als eine ebenso gewagte wie überlegte zu würdigen. Gewagt deswegen,
weil die längst eingesetzt habenden Aufmerksamkeitsdifferenzierungen seitens
des Literaturbetriebes komplett ignoriert werden, überlegt, weil sie damit
die Chance von Neubewertungen nicht nur einzelner Autoren, sondern eines Generationseinsatzes
eröffnen seitens Kritik und Wissenschaft.
Der gewählte Titel verbindet geschickt ein augenzwinkerndes Rekurrieren
auf eine ihnen geläufige, wenngleich in den im Kampf um kulturelle Deutungshoheit
betriebenen DDR-Vernichtungsorgien Anfang der neunziger Jahre abgestrafte Tradition
mit einer marktverbeugenden Aktualitätsbehauptung. „Jetzt“
nämlich war schon ein Manifesttext Anfang der achtziger Jahre überschrieben,
der zu den Gründungsdokumenten der „Prenzlauer-Berg-Connection“
zählt. Papenfuß, Döring, Faktor & Co. betrieben die ”Umwortung
anfälliger Werte”, die Kultivierung des Fehlers im ”Dichtergarten
des Grauens” (Jan Faktor), kurzum: eine spielerisch-hedonistische Aufladung
der Sprachmöglichkeiten jenseits der Machtsprachen, um für diese unkontrollierbar
zu werden. Die Betonung des „Jetzt“ richtete sich gegen die Abwertung
subjektiver Erfahrung im Lichte teleologischer Geschichtsentwürfe, die
in der DDR der achtziger Jahre von den jungen Dichtern als zukunftnichtender
Totemismus verhöhnt wurden. Vielleicht klammert das Wörtchen „Jetzt“
ja auch Anfang und Ausgang der in den letzten zwanzig Jahren kulturbeherrschenden
„Postmoderne“ zusammen, die Alexander Kluge bündig als „Angriff
der Gegenwart auf die übrige Zeit“ auf den Punkt brachte. Nur war
das rotzige „jetzt“ der frühen achtziger darauf gegründet,
dass die utopischen Gehalte verlöschender Ideologien rückhaltgebend
in Diskurstheorien (von Dilleuzes Rhizom“ bis Habermasens herrschaftsfreien
Diskurs“), die Ästhetik und gelebte Bohemekultur im Kaltekriegsschatten
scheinbar stillgestellter Geschichte abgewandert waren. Das marktkalkülbehauchte
„Jetzt“ der „Jungen“ 2003 fällt dagegen in eine
eher somnambul ermüdete Atmosphäre diffuser Ängste und Überdrussigkeiten.
Wunderbar, könnte man meinen, waren nicht gerade die gespürten Erschöpfungszustände
gesellschaftlicher Verfasstheiten die Brache, in die stets noch die Unkrautsamen
wuchernder Empörungen gesät wurden? Epiphanien der Plötzlichkeit,
die selbst edelkonservative Beschwörer der ästhetischen Hoch-Moderne
wie Karl-Heinz Bohrer emphatisch herbeiwünschen?
Fehlanzeige. Der neueste Dichtergarten ist gar wohl bestellt, die Beete ordentlich
angelegt und die Wege geharkt. Und wenn denn doch einer zeigen möchte,
was eine Harke ist, klingt das so: „Ich lebe in Deutschland aber / Viele
sagen ich sehe jünger aus / Mit der Ruhe einer Vogelscheuche / Stehe ich
hier und seh meinem Leben / Von außen zu“ (Karsten Flenter, Ich
lebe in Deutschland). Dass sich zudem oft der Eindruck narzisstischer Kleinfixierung
auf naheliegende Erlebnisgegenstände bei hochreflektierter Affektsteuerung
aufdrängt, verfestigt den durch Ausnahmen wie stets zu bestätigenden
Anschein, es hier mit einer Generation der „Jungen Milden“ zu tun
zu haben. Sie beherrschen passabel das Vershandwerk und die geläufigen
Tricks der Branche, etwa aphorismusnahe Sequenzen zu generieren oder Gesten
ironischer understatements vorzuführen. Ich gestehe, dass mir die Semiprofessionalität,
mit der die „nomenklaturischen Updates“ (Bevorworter Gerhard Falkner)
auf die Geläufigkeiten der Moderne-Tradition betrieben werden, ein wenig
unheimlich anmutet, weil sie den Stempel der kalkulierten Umtriebigkeit im eh
schon sehr kleinen Lyrikbetrieb der Bundesrepublik Deutschland unübersehbar
auf der Stirne vorzeigen. Die Lyriker haben in der Regel Geisteswissenschaftliches
oder auf Brotberuf studiert, leben überwiegend in größeren Städten,
sind dank Internet vernetzt untereinander und lesen vorzugsweise vor einer wachsenden
Fangemeinde in Clubs. Man sieht es vielen Texten an, dass sie für die Augenblicksaufmerksamkeit
einer Zuhörergemeinde geschrieben worden sind. Während die Rap-inspirierten
Texte Bastian Böttchers in der schriftlichen Fixierung merkbar an Glanz
verlieren, versuchen viele gleichsam die Waage zu halten, und das hat seinen
Preis: Die für die Hörerschaft notwendige Eingängigkeit verblasst
auf dem Papier oft genug zur spannungsarmen Durchsichtigkeit, die sich vieler
Rafinesse-Möglichkeiten des Gedichtes entledigt hat. Doch immerhin erlauben
die Texte ziemlich interessante Einblicke in die generelle kulturelle Situation,
in der sich die jungen Dichterinnen und Dichter bewegen. Symptomatisch das Ende
eines „Beat-Gedichts“ von Rainer Stolz: „.../ Da sah ich die
Kunst: ein Turm aus Schrott. / Drumherum lungerten Warengruppen. / Ich sah wie
Kontrakte sich schlossen. / Ich ging gespenstisch um in vertrauten Ketten. /
Wieder trat die Utopie hart ein. / Happyendverbraucher sah ich / und ging rasch
zum Bäcker.“
Der Kurzschluss von Zitatresten ideologischer Provenienz mit Alltagsverweisen
und Wortneubildungen - „Happyendverbraucher“ – generiert eine
Lässigkeitsattitüde, die jedoch kaum über die Beschreibung eines
Dilemmas hinwegzutäuschen vermag: Noch jede rebellische Geste, noch jedes
Fünkchen Utopie wird in der fast vollständigen Umklammerung der Warengesellschaft
scheinbar in konsumierbaren Pop verwandelt. „daß die Zukunft uns
brauchen würde / war ein landesübergreifender Witz“, heißt
es lapidar in einem Gedicht von Björn Kuhligk. Um so schwieriger erscheint
dann die Sache mit der Ich-Bildung, denn: „in den dunklen boutiquen der
ichbildung / finden wir kinder, gefahren und penisse vor / sag vorhang, sag
dingdong, sag deutung“, entfährt es Monica Rinck beim „shopping
mit melanie klein“, bei Björn Kuhligk gar ist „die Ich-Funktion
... einkaufen gegangen“.. Weiter findet sich viel Verschwitztes in den
zahlreichen Selbstfindungstexten - „Ich stehe am Fenster und schwitze
mein Ich aus“ (Mathias Göritz) -, wie auch diverse Selbstkasteiungen
alles andere als umwälzende Erkenntnisse bergen: „und das geschöpf,
das ich ist / und nicht ich, wälzt sich und rennt gegen die festung“
(Daniela Seel) Die Kehrseiten von Ich-Diffusion und Handlungsohnmacht, auch
das wenig überraschend, zeigen sich in papierenen Gewaltphantasien: „Ein
neues Leben mit Wochenend-/ Ticketts zu den Ceranfeldern / Auf denen die Augenpaare
schmoren“ (Tom Schulz); bei Gerhard Fiebrig schlägt „der untermieter
(...) an die schädeldecke. / ich ziehe sie mir über die ohren.“.
Wenn dann doch die Fühler nach Welt ausgestreckt werden, erweist sich diese
fast durchweg als Mediensimulation und als Geschehen, in dem Realität und
Täuschung ununterscheidbar erscheinen: „ein paar tage lang hieß
die animateurin tina, dann / blieb sie plötzlich weg und alle ahnten etwas.
im hotelzimmer / gab es kabelfernsehen, wir sahen die tagesschau, die terroristen
waren wirklich gut gemacht.“ (Daniel Falb). Kein Wunder, dass Medien-und
Körperbezüge oft ineinander fallen: „der Körper, pumpend
und träumend, / bewegt sich nach Fernbedienung / wir gehen auf Sendung,
die Glieder / berühren sich“. Fast schon ein Fazit der Anthologie:
„Imitate und Tarnungen, halber Aufenthalt / wie auf fotokopiertem Schnee“
(Marion Poschmann). Die notwendig ableitbare Verunsicherung, sich mit „Welt“
außerhalb der Sehweite des sprechenden Ich ins Vernehmen zu setzen, ist
überdeutlich. Wo es ausnahmsweise versucht wir, so bei Tom Schulz, Ron
Winkler, Sabine Scho oder Thilo Schmid, stoßen sich die Gedichte an mainstream-kompatiblen
Geschichtsbildern und machen neugierig. Besänftigt werde ich auch durch
die Gedichte unübersehbarer Talente, die den Mut haben zu Bilderwucht und
einem „Schadenzauber“ (Jörg Schieke), der das Magische taktil
hält und den Leser anfasst: Thomas Kunst, Christian Lehnert, Kersten Flenter,
Uwe Tellkamp, Monika Rinck sind hier hervorzuheben, gleichfalls die kunstvoll-giftigen
Gedichte von Johannes Jansen, auch wenn sie schon fünfzehn Jahre auf dem
Buckel haben und eigentlich nicht in eine „Jetzt“-Anthologie gehören.
Die Auswahlprinzipien von Kuhligk / Wagner lassen interessanterweise offenbar
werden, dass die vermeintlichen Vorschusslorbeeren einiger „gestandener“
Lyriker ziemlich welk geworden sind. Der ehemals in Brechts Lederjacke den bayerischen
Aufruhr übende Ostermaier ist mit linkisch-eitlem „ratschlag für
einen jungen dichter“ vertreten, Franzobels Sprachstrick-Jacke hat einen
Aufnäher aus der Wiener Sprach-Manufaktur, die Latex-Leibchen Dirk von
Petersdorffs oder Steffen Jacobs´ verhüllen kaum mehr als anschmeisserische
Blenderei.
Peter Geist
74 Stimmen mit einem Vorwort von Gerhard Falkner. Herausgegeben von Björn Kuhligk und Jan Wagner. DuMont Köln 2003, 422 Seiten, 14,90 €