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Konstantin Ames im Gespräch mit Michael Gratz, Herausgeber des Blogs „Lyrikzeitung & Poetry News“

Nein, mit Institutionen zu kooperieren, das sei ihm durch seine Erfahrungen mit der Universitätsphilologie in DDR-Zeiten verleidet worden; auf den Einzelnen kann man bauen, auf Vertraute. Michael Gratz lächelt über idealistische Vorstellungen wie der Literaturbetrieb poesiefreundlicher gestaltet werden könnte. »Was vom Marsch durch die Institutionen übrig geblieben ist, dass kannste heute besichtigen.« Gratz’ Stimme klingt nicht gehässig oder verbittert, wenn er das sagt. Man hält ihn auf den ersten Blick, mit seinem langen Bart und seiner stets grüblerischen Miene, glatt für einen Altphilologen; was nicht ganz falsch ist. Michael Gratz hat Ende der Achtziger Jahre über Lyrikdebatten in der DDR promoviert. Seiner Arbeit wurde „wissenschaftlicher Objektivismus“ vorgeworfen; seine Stellung als Assistent am Institut für Philologie der altehrwürdigen Ernst-Moritz-Arndt-Universität hätte er vor dem Fall der Mauer beinahe dieser Studie wegen verloren. Zu gleicher Zeit wurden paradoxerweise in Literaturzeitschriften mit so unterschiedlichem Grad an Partei- und Schriftstellerverbandstreue wie Sinn und Form, neue deutsche literatur und Temperamente Gratz’ Literaturkritiken veröffentlicht. Undogmatisch wie sie sind, sind sie heute noch lesbar; präzise Analysen, die aber die Begeisterung für das Anliegen des jeweiligen Dichters nicht vermissen lassen.

Heute fehlt Michael Gratz für die stetige literaturkritische Publikation in Printmedien, er ist Privatdozent am Greifswalder Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie, schlicht die Zeit; von 2007 bis 2010 war er Mitglied der Jury des Peter-Huchel-Preises. Seit mittlerweile elf Jahren ist er der alleinige Herausgeber des Blogs Lyrikzeitung & Poetry News. Man findet dort sowohl Notizen aus den Feuilletons der großen Zeitungen, aber eben auch das Entlegene; dasjenige, was nach landläufigem Vorurteil nur „Lyrikfexe“ (Tilmann Krause anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises an Tomas Transströmer) zur Kenntnis nehmen. Das Blog ist seit den Anfängen im Jahr 2001 beides: Newsarchiv und Diskussionsforum. Im Oktober 2011 haben Michael Gratz und ich uns in einem Berliner Café über sein Ein-Mann-Unternehmen und die bundesdeutsche Lyrikszene unterhalten.

Konstantin Ames: Warum machst Du diese Herkulesarbeit alleine?

Michael Gratz: Naja, andernfalls müsste ich das Blog institutionalisieren. Bisher betreibe ich es in meiner Freizeit und so intensiv, wie es meine Zeit, meine Familie und mein Beruf erlauben. Ich will keine institutionalisierten Strukturen; daraus erwächst zwangsläufig das für Institutionen typische eitle Hickhack und das wäre dann das Ende der Veranstaltung.

KA: Das ist der Preis, den man für Stressersparnis zahlt. Dafür gibt es ja den Herausgeberstatus. Für Dich. Die anderen wären Redakteure.

MG: Jaja, aber wie ich anfangs gleich sagte: man müsste sich kümmern. Mit der knappen Ressource Zeit hab ich besseres vor.

KA: Aber in zwanzig Jahren bist Du vielleicht darauf angewiesen sein, den Staffelstab weiterzureichen …

MG: Was in zwanzig Jahren ist, das kann man nicht wissen. Für die nächsten zehn Jahre glaube ich, das so weitermachen zu können. Und wenn sich was ergibt, hätte ich nichts dagegen. Ich habe seit einiger Zeit Unterstützer meines Projekts. Über die Mitarbeit von Àxel Sanjosé beispielsweise bin ich sehr froh. Aus dieser Richtung kommen Informationen aus der Münchner Szene und dem spanischsprachigen Raum … Ich könnte mir vorstellen, ein Korrespondentennetz zu haben. Ich habe übrigens noch einen weiteren regelmäßigen Beiträger, aber der möchte anonym bleiben. Neulich hat sich jemand aus dem Badischen darüber beklagt, dass in der Lyrikzeitung so wenig über den Südwesten berichtet werde.

KA: Das ist ja unterverzeihlich; der Südwesten ist doch das Zentrum der Poesie …

MG: Das scheint so zu sein; in den letzten Jahren war ich mehrmals dort … Es ist aber schlicht auch so, dass ich in Berlin, Leipzig, München, Hamburg eben mehr Leute kenne, die mir zuverlässig und unparteilich Informationen schicken. Zu lokal möchte ich aber auch nicht bleiben. Ohne Mut zur Lücke muss man das erst gar nicht anfangen.

KA: Mut zur Lücke hat offenbar auch Die Zeit, die sich seit Anfang 2011 die Reihe „Politik von Lyrik“ leistet, in der jede Woche mehr oder weniger inspirierte Gedichte eines Panthéons zu lesen sind. Bei einigen Lyrikkennern, z.B. bei Michael Braun kommt wenig Begeisterung dafür auf. Du hingegen hast Dich beim Start der Reihe optimistischer geäußert. Wie bewertest Du diese Reihe „Politik und Lyrik“, nachdem sie nun eine Weile läuft?

MG: Ach, ich finde das positiv – unabhängig davon, dass Die Zeit das selbstverständlich auch macht, um ihr publizistisches Image aufzuwerten. Warum auch nicht?

KA: Ich sehe darin auch kein Problem; die Frage ist bloß: was kann sonst noch dadurch bewirkt werden?

MG: Im Feuilleton dieser Zeitung ist die Lyrik meiner Meinung nach überhaupt nicht gut platziert. Iris Radisch, die seit etlichen Jahren dieses Ressort leitet, kokettiert, den Eindruck habe ich jedenfalls, ein bisschen mit ihrer Ahnungslosigkeit in Sachen Gegenwartslyrik. Wenn dort mal Lyriker gelobt werden, dann sind das doch willkürlich ausgesuchte Liebhabereien von Kritikern … Diese Reihe ist nun im Politikteil angesiedelt. Die Gefahr, dass das nicht zur Kenntnis genommen wird ist geringer. Das allein ist schon eine gute Sache. Lyrik wird zur Kenntnis genommen und fristet kein Dasein in der Nische.

KA: In der Lyrikzeitung wird ja via Kommentarfunktion, zum Teil erbittert, z.B. über Preisvergaben, Jurywahnsinn und ästhetische Standards gestritten. Hast Du – wegen reiner Frustkommentare – schon mal überlegt, die Kommentarfunktion völlig abzuschalten?

MG: Nein. Natürlich sind anonyme Beschimpfungen ärgerlich.

KA: Warum lässt Du die zu?

MG: Es ist ja nicht so, dass ich sie generell zulasse. Jeder, der zum ersten Mal einen Kommentar postet, muss von mir freigeschaltet werden. Ich kann den Beitrag hinterher löschen, aber die haben nach der ersten Freischaltung direkten Zugang. Es gab einen Fall, da hat jemand unter dem Namen „Ron Winkler“ gepostet – und es war nicht Ron Winkler. Das ist dann irgendwelches Betriebsgezänk. Ich hab es nicht sofort gemerkt. Das waren bösartige Kommentare; so was lösche ich dann. Ansonsten: Wer sich hinter einem Namen verbirgt, das kann ich nicht wissen und will ich nicht überprüfen – da kann ich nur eingreifen, wenn es eine Grenze überschreitet. In diesem Jahr ist, in meiner Wahrnehmung, die Zahl der substanziellen Diskussionen gestiegen.

KA: Ich beobachte eine zunehmende Dominanz bestimmter Gruppen und Labels und einen vermehrten Willen des Feuilletons, an der Herausarbeitung einer Hierarchie der Gegenwartsdichtung mitzuwirken. Der Mitbegründer des Kreuzberger Literaturhauses Lettrétage, Tom Bresemann, selbst auch Dichter, mahnt angesichts solcher Entwicklungen, nicht nur Talentselbstverwaltung und Corpsgeist zu pflegen. In der Lettrétage treten Leute aus unterschiedlichen Gruppierungen mit gemeinsamen Performances vor jungem und jung gebliebenem Publikum auf. Der Berliner Dichter Norbert Lange regt Neuübersetzungen von Charles Olsons Maximus-Zyklus an; Norbert Wehr druckt diese Übersetzungen in seiner renommierten Zeitschrift ab. Das, was Lange da gemacht hat, bezog ja Leute aus den unterschiedlichsten poetischen Lagern ein. Was ist sonst noch so gegen geschlossene Gesellschaften und elitäre Zirkel zu tun?

MG: Was kann man dagegen tun? Du bringst doch selber das Gegenargument. Es gibt doch das Projekt von Norbert Wehr. Seit Jahrzehnten gelingt es dem, eine Zeitschrift für Weltliteratur von Zeitgenossen im deutschsprachigen Bereich zu verkaufen!

KA: Das ist jetzt nicht unbedingt ein Gegenargument! Gruppen- und Cliquenbildung findet doch trotzdem, trotz Schreibheft, statt.

MG: Ja, natürlich, man könnte ja mal fragen, welcher junge Lyriker liest denn regelmäßig das Schreibheft? Ich weiß es nicht, ob es nun über die in den jeweiligen Ausgaben publizierten Autoren hinaus eine sehr große Verbreitung findet … Ich las in einer Rezension von Michael Braun, dass die beste Informationsquelle zur europäischen Moderne Norbert Wehrs Zeitschrift sei: Wenn ich das meinen Studenten oder jüngeren Autoren sage, dann lächeln die nur müde … „Da kommen die Alten wieder mit ihrer klassischen Moderne!“ Als ob sie das nichts anginge …Ich hatte als Schüler die neue deutsche literatur zur Verfügung, die hab ich in der nahe gelegenen Stadt am Kiosk gesehen und mir irgendwann regelmäßig gekauft: Da war viel Mist drin. Und wenn man keine Ahnung hat, dann quält man sich erstmal durch den ganzen Mist durch. Mit der Zeit besteht die Chance, dass man Maßstäbe entwickelt und zu unterscheiden lernt.

KA: Ich hab noch ganz andere Vorstellungen davon, wie man der Poesie hierzulande öffentlichkeitswirksam zu größerer Aufmerksamkeit verhelfen könnte. Es sollten Straßen und Plätze nach Dichterinnen und Dichtern benennen – und zwar nach zeitgenössischen und möglichst nach lebenden … Einen Elke-Erb-Platz muss es z.B. geben, wo bereits zu ihren Lebzeiten – ungewöhnlich und erfreulich genug – in Leipzig eine Elke-Erb-Gesellschaft gegründet wurde. Das ist der eine Vorschlag. Außerdem müssten die Öffentlich- Rechtlichen nach tagesschau oder heute einer Dichterin oder einem Dichter das Wort erteilen und ein Gedicht lesen lassen. Und nicht nur das Pantheon der Vielbepreisten hypen … Im günstigsten Fall würde jeden Tag eine andere Person ein Gedicht vorlesen …

MG: Das könnte man machen; dazu bräuchte es aber Menschen mit Einfluss, die die Stirn und das Kreuz haben, das durchzusetzen.

KA: Wenn aber noch nicht einmal jemand den Vorschlag macht … Entscheidungsträger und Meinungsführer können es dann ja entscheiden, ob tatsächlich mal etwas für die Poesie tun wollen – oder ob sie nur dann von der Relevanz von Lyrik für die Gesellschaft sprechen wollen, wenn lyrikline zehn Jahre alt wird …

MG: Wer soll das machen? Das machen Enthusiasten. Und die sitzen nicht in den entsprechenden Entscheidungsgremien.

KA: Du hast selbst früher mal Gedichte geschrieben, hast Du mir mal verraten; Du hast es aber aufgegeben.

MG: Ja.

KA: Aus welchem Grund?

MG: Ich hab irgendwann einmal gemerkt, dass meine Gedichte daher kamen und nur daher kamen, dass ich andere Gedichte gelesen habe und sie imitiert hab. Ich wäre ein Epigone geblieben.

KA: Von wem, wenn ich fragen darf?

MG: Von durchaus guten Leuten, glaube ich! Vielleicht hat mir meine Jugendlyrik geholfen, meine Lesefähigkeit zu schulen; aber für die Literatur ist das, was ich hätte schreiben können nicht notwendig. Das ist schon okay; darüber brauchen wir auch nicht weiter …Ich möchte lieber etwas ausführen, das ich an anderer Stelle vergessen hab. Der Lyrikenthusiast Theo Breuer, hat mal in einem Gespräch einem Kritiker die Frage gestellt, von welcher Zahl an Lyrikneuerscheinung dieser Kritiker aufs Jahr gesehen, ausgeht. Da wurde eine Zahl von 15 bis 20 Neuerscheinungen genannt. Darauf sagte Theo Breuer: wahrscheinlich sind es eher 2000! Wie viele davon die Lektüre lohnen …

KA: … unausgesprochen spielte der Kritiker wohl genau darauf an.

MG: Ja, natürlich spielte er darauf an! Aber ist das einfache Ignorieren nicht arrogant!? Es findet immer größere Verbreitung, dass Literaturkritiker ausblenden und totschweigen. Und genau gegen diese Tendenz ist mein Newsarchiv gerichtet. Gemeinsam mit Theo Breuer stelle ich gerade eine Bibliografie aller im Jahre 2011 erschienenen Gedichtbände zusammen. Soviel kann ich schon sagen: Es sind weit mehr als 15 oder 20 Neuerscheinungen … wir werden wohl mehr als 300 zusammenkriegen.


Die Bibliografie von Theo Breuer und Michael Gratz ist immer noch nicht abgeschlossen. Die Nutzer des Blogs tragen beständig zur Vervollständigung bei. Michael Gratz geht von einer dreistelligen Zahl regelmäßiger Leser und Nutzer der Lyrikzeitung aus. Seit 2001 sind gut 15.000 Nachrichten rund um die Lyrik im deutschsprachigen Raum und im Ausland gepostet worden. Reinschauen (unterwww.lyrikzeitung.com) muss sich für Sie nicht unmittelbar auszahlen; es lohnt sich aber in jedem Fall!



Anmerkung: Gespräch aus Herbst 2011

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