Rezensionen

2012 |  2011 |  2010 |  2009 |  2008 |  2007 |  2006 |  2005 |  2004 ||  Autoren
Startseite

Dirk Uwe Hansen // Zu Bertram Reineckes Band „Sleutel voor de hoogduitsche Spraakkunst“:

Es ist immer wieder ein Anlass zu vorfreudiger Erwartung, wenn ein neuer Band der roughbooks-Reihe im Verlag Urs Engeler erscheint. Dieser Erwartung wird auch Roughbooks 19 wieder gerecht. So weit, so einfach. Doch gerade dieser Band weckt noch andere Erwartungen und – so erging es wenigstens mir – Befürchtungen, und die Art, wie die Gedichte des Bandes diese Erwartungen und Befürchtungen dann während der Lektüre unterlaufen, trägt ein gerüttelt Maß zur Freude an dem Buch bei.

„Sleutel voor de hoogduitsche Spraakkunst“, ein Schlüssel zur hochdeutschen Sprachkunst, so übersetzt man sich den Titel schnell, nur um dann bei dem Versuch, diesen Titel auszusprechen, kläglich zu scheitern. Und allsogleich im ersten Gedicht klagt dann auch noch der „Tychter“ über „Schand und Wuerrniss der Zeyten“; reines Hochdeutsch ist das nicht.

Die Verwuerrniss des Lesers wird wohl noch größer, blättert er weiter zum nächsten Gedicht. „Die Einheit“ heißt es, und weil ich den Finger noch in den Anmerkungen liegen habe, lasse ich mich darüber informieren, dass der Text „vollständig aus fremden Zeilen zusammengesetzt“ ist. Ein Cento also, wie die meisten Gedichte des Bandes, die Einheit ist nicht vollendet der brodelnden Dichterseele entsprungen, sie ist montiert.

Es mag daran liegen, dass ich Altphilologe bin, aber ein Cento, ein Gedicht also, das aus den Zeilen eines oder mehrere anderer bereits vorliegender Werke zusammengesetzt ist, weckt zunächst Befürchtungen. Ein solches Werk kann dazu dienen, einem als kanonisch empfundenen Autor zu huldigen – wie etwa die antiken Vergil- und Homercentos – oder aber dazu, „durch geschickte Kombinatorik...Witz zu erzeugen.“ (81) Dass es Reinecke darum nicht zu tun ist, auch wenn ihm Witz und Komik durchaus gelingen (Dada; aus Psalter (84) ist ein Beispiel dafür), wird schnell klar:


Der Abend naht. - Die klare Zone
Schlank wie ein Panther, atemlos
Des Lichtes Gänge, Treppen, Throne,
Von Pinien von Schulter und vom Schoß
(13)


Rilke, natürlich. Aber nicht als Reservoir bequem abrufbarer Verse. Das Gedicht und der Kommentar dazu weisen auf ein Wahrnehmungsproblem, das wir mit unseren Klassikern der Moderne haben, die Verse sonnen sich nicht im Licht dieser Klassikers, erhellen vielmehr unsere Lesehaltung. Noch stärker fast gelingt dies mit „Blaue Hydangea“ (33), einer ´Rückübersetzung´Rilkes aus dem Englischen.
Auch meine zweiten Befürchtung wird unterlaufen: Als Bertram Reinecke vor wenigen Monaten den Schlusszyklus des Bandes „Weg über die Fußgängerbrücke bei Nacht“ in Greifswald vortrug, ertappte ich mich dabei, wie ich bei dem Vers „Auf steigt der Strahl und fallend gießt“ in die Runde schaute und befürchtete, unseren C.F. Meyer milde abgenickt werden zu sehen. Denn wie das Cento die Gefahr mit sich bringt, den Dichter zum cleveren Kombinierer zu degradieren, so kann es auch den Zuhörer/Leser zum besserwisserischen Bildungsbürger machen, der seine Klassiker gediegen gebunden auf den Regalen in seinem holzgetäfelten Schädel zur Verfügung stehen hat. Dass ich durch das Lesen von Centos in ein solches Monster verwandelt werden könnte, war meine größte Angst, und all denen, die diese Angst teilen, sei die Lektüre des Sleutels ganz besonders empfohlen. Nirgendwo findet hier ein Abnicken von Klassikern statt; zu vielfältig sind die Quellen, zu groß Reineckes Konsequenz im Vermeiden von Kunststückchen. Man betrachte nur „Es hört auf hell zu sein“ (12) oder „Die Liebenden sind blaß und zart wie Schaum“/„Des Wassers Klarheit wird ihnen entstreben“ (30/31) und die dazugehörigen Anmerkungen. Ein normales Bildungsbürgerrepertoire reicht hier nicht aus, um die Montage der Gedichte nachzuvollziehen, und so verweist Reinecke den Leser nicht nur auf die eigene Bibliothek (das auch (81): er „lese Luther nach!“), sondern gleich auf digitalisierte Quellen (79). Manches Mal mag die Quelle sich auch dem Zugriff entziehen. „Weiter nichts als eine schnarrende Murki (Fragment)“ (18) ist ein solcher Fall, in dem der Leser lieber die eigene Vorstellung bemüht, als die einzelnen Quellen zu recherchieren. Dass es sich bei diesen Quellen um „verschiedene Listen“ handelt, erfährt man aus den Anmerkungen (79), und der Zusammenstoß der Textsorten Fragment und Liste hat Witz, ohne witzig zu sein.
Sieht man dem Fragment von der schnarrenden Murki schnell an, dass es aus verschiedenen Komponenten zusammengesetzt ist, wirken andere Gedichte mehr „wie aus einem Guss“, so die Zusammenstellung aus Formulierungen der Paulusbriefe (20), die eine geschlossene Oberfläche vorgaukelt und daraus ihre Wirkung zieht, oder die Sonette aus Danteversen. „Für Archäologen“ (28) ist ein Gedicht, das schon in Reineckes Band „Engel oder Pixel“ (Schock Edition, Berlin 2012) zu lesen war, dort aber ohne Angaben zur Montagetechnik. Im Sleutel erweist es sich dann als Montage aus Sätzen aus S. Trojans „Um uns arm zu machen“. In beiden Fällen funktioniert es gut.

Am Ende erkennt der Leser dann, dass „Sleutel“ durchaus kein Singular sein muss. Es lohnt sich, Reineckes Montagetechniken nachzuspüren und verschiedene Schlüssel für seine Sprachkunst auszuprobieren.


Bertram Reinecke, Sleutel voor de hoogduitsche Spraakkunst // via roughbooks

critiquetriebe: Gedicht & Diskussion

Miron Białoszewski: Wir Seesterne

Max Czollek: Druckkammern

Ann Cotten: Das Pferd

Jinn Pogy: Golems Totems

Angelika Janz: tEXt bILd