„denke ich bei jedem Gedicht, es könnte das letzte sein“
– zu dem Briefwechsel zwischen Johannes Bobrowski und Michael Hamburger –

Am 9.9. diesen Jahres jährte sich der Todestag Johannes Bobrowskis zum 40. Mal. Das Gedenken an diesen Dichter hielt sich mehr als in Grenzen. Schade. Umso schöner, daß im letzten Jahr bereits die Korrespondenz zwischen Bobrowski (der damals in Berlin-Friedrichshagen lebte) und Michael Hamburger, dem in England lebenden deutschstämmigen Lyriker und Übersetzer, in der Marbacher Bibliothek in einem schönen kleinen Band erschienen ist.
Der schwerfällige Lauf der Zeit, der aus zeitlicher Distanz banale und doch beschwerlich erscheinende Alltag bringt in Briefwechseln oft einen anderen Aspekt von Dichtung zum Vorschein, einen Aspekt, der in dem vorliegenden Bändchen zumal den ersten, schwermütig stimmenden Eindruck der Lektüre bestimmt: Welch vertraute Sorgen bestimmte das Denken, Nachdenken dieser Dichter... eine Publikation hier, eine andere dort wird besprochen und das markiert (scheinbar) schon die Hoffnungen, die ein, bei aller Publizität doch eher unauffälliges Leben (Hamburger selbst konstatiert angesichts eines ihm verliehenen Preises – in der damaligen Tagesschau erwähnt – eine „drei-tägige Berühmtheit“) sanft und kurz beflügeln. Wie die Spaziergänge, die Ufer, die kleinen Einleitungen, die Erwähnung bekannter Namen, unbekannter Zeitschriften – all das schon fragmentarisch, dem Vergessen schon halb anheimgegeben – noch einmal diesem entrissen wird und in der Imagination gegen trübes Herbstlicht gehalten wird (das Licht jener Tage, an denen auch wir noch Briefe schrieben, computerlos) – das stimmt in der Folge wehmütig. Die Lakonie des Alltags kontrastieren dabei immer wieder die den Briefen beigelegten Gedichte. Und doch entsprechen sich dieserAlltag und seine Gedichte: Zuletzt ist die sich ausbreitende Herbststimmung wohl auch den beiden Lyrikern und großen Melancholikern Bobrowski und Hamburger geschuldet, ihrer (sicher auch zeitgeschichtlich bedingten) Schwere, ihres Ernstes.

Ein Faden von leichtem Schmerz, Abschiedsgefühl durchzieht diesen Briefwechsel. In Sätzen wie „Schon ein halbes Jahr lang habe ich keine Gedichte geschrieben (...)“, „Hier haben wir eine außerordentlich harten Winter, der viel Schaden anrichtet“, „Seit langem denke ich bei jedem Gedicht, es könnte das letzte sein“ manifestiert sich dies. Selbst Sätze wie „Man versteht sich auch trotz der Worte“ erzählen in solch in dem Kontext der Briefe weniger von einer Übereinstimmung als vom einem gemeinsamen Schweigen, das Abgründiges birgt, so scheint es. Sicherlich: Wer kennt es nicht: sprachloses Verstehen. Doch so wie Michael Hamburger an jenen letzten Satz dabei eine Erinnerung an einen kretischen Bauern knüpft, mit dem er sich „sprachlos“ verstand – klingt es, als wäre er erleichtert, die Sprache einmal los zu sein. Aber Michael Hamburgers Dichtung hat ja das Schweigen immer wieder umkreist, die Dichtung eines Bobrowski steht selbst immerzu kurz vor dem Verstummen. Gerade ihr fügt solch eine durch die Korresspondenz aufleuchtende Rückbindung an den Alltag etwas für den Leser durchaus Wertvolles hinzu. Die Gedichte, die auch alltägliche Beobachtungen ins Metaphorische transkribieren, werden so von den Sorgen und zeitgeschichtlichem Hintergrund gerahmt und leuchten zwischen den „Belanglosigkeiten“ der Zeitläufte um so deutlicher:
„(...) geh auf der Spur der Stimmen,/ im Finstern geh,/ leg aus den Fang am Morgen./(...)“

Die Melancholie des Buches wird noch verstärkt durch die Tatsache, daß dieser zwei Jahre währende gedankliche Austausch durch den Tod Bobrowskis ein Ende fand, der am 9. Sepember 1965 an den Folgen eines Blinddarmdurchbruchs starb, wie seine Frau Michael Hamburger dann knapp mitteilte.
Und es sind große Zeilen in den in die Briefe eingefügten Gedichten, die einen Johannes Bobrowski, so man ihn vergaß, wiederentdecken lassen: „Im schönen Laub/ die Stille/ unverschmerzt“. Heißt das nicht eigentlich: die Stille schmerzt noch? Unverschmerzt deutet hier nicht nur auf das Unverarbeitete eines stillen Anderssein im Gegenüber (der Natur, etc), eines Unvereinnahmten, es deutet auch auf die Irrelevanz des eigenen subjektiven Sentiments (denn eigentlich müßte es: schmerzhaft heißen, das aber wäre zu stark, zu subjektiv), das dennoch nicht ausgeblendet werden kann und „darf“. Zugleich der Schmerz im Unerreichbaren und der Glanz „zeitloser“ Unnahbarkeit, einer Aura.
In solchen Momenten der Lektüre wird dies Buch zu einem kleinen, wertvollen Trostbüchlein.


Hendrik Jackson

"Jedes Gedicht ist das letzte" – Briefwechsel zwischen Johannes Bobrowski und Michael Hamburger, Marbacher Bibliothek, Marbach 2004