Ich werde hin und wieder nach meiner eigenen Poetik gefragt. Aber die
verschiedenen klaren Reflexionsmöglichkeiten, die Dichtung
unbedingt braucht (G. Falkner) äußern sich bei mir eher
nach Anlass oder verlustieren sich in prinzipiellen Fragen (Liaisons von
Momenteinsichten und Wortaussichten). Mein eigenes Schreiben
überschreibe ich nicht, auch nicht nur theoretisch.
Wohlan, aber ich erhielt just eine Mail meines alten Freundes Sibelius
Stiefelhoff, in dem doch manche Dinge angesprochen werden, die mich in
letzter Zeit beschäftigten. Ich veröffentliche seinen kleinen
Ausbruch an meiner statt, enthalte dem Leser aber meine kurze Antwort
darauf nicht vor:
Lieber Hendrik, lange hatten wir uns nicht geschrieben und ich
bat dich, als Kenner, mir einige zeitgenössische Lyriker oder Lyrikerinnen
zu empfehlen. Du nanntest sofort Die ganze Zeit von einem
gewissen Oswald Egger (ein Österreicher?), außerdem Steffen
Popps 118 und Raoul Schrotts Erste Erde Epos.
Auch Verbannt von Ann Cotten sei sehr witzig gewesen. Über
allen Klee freutest du dich über den Erfolg Jan Wagners und als alter
Freund des Schnees machtest du mich noch auf den amüsanten Umstand
aufmerksam, dass Durs Grünbein und Michael Donhauser einmal denselben
Titel gewählt hatten für ihren Gedichtband. Gerhard Falkner
lobtest du in deiner Rundumschau neuer Dichtung als letzten maskulinen
Kempen der Empfindsamkeit. Ich habe mir all diese Bücher aus
der Bibliothek besorgt. Du hättest mal das Gesicht der Bibliothekarin
sehen sollen! Scheint ein kauziges Zeug zu sein, was du liest, dachte
ich bei mir. Und recherchierte auch im Netz.
Es mag übertrieben klingen, was ich nun schreibe, aber mir fiel dazu
auf Anhieb folgendes ein:
All die klugen akademischen Aufsätze, all die stürmende, drängende
französische Philosophie seit den sechziger Jahren, alle Dekonstruktion
und Appelle an das Denken, aufzubrechen, sind anscheinend hinfällig,
wenn es um die Gestalt des Autors geht: Weder von ihm selbst, dem ungebrochen
genial und als organische Ganzheit sich gebärenden poeta doctus,
noch vom selbstverliebten Bohèmien, von den Rezensenten und Lesern
oder gar den Akademien darf man in der Praxis irgendeine Infragestellung
der heiligen Autorinstanz und seiner rettungversprechenden Subjektivität
erwarten. Bei Prosaautoren, die ja meist aus dem Leben, das wir in Konzepten
und Biografien zu entwerfen pflegen, erzählen, mag das ok sein, schließlich
ist es schwer, mir nichts dir nichts den Selbstbezug und die Basis aller
Welterfahrung aufzubrechen. Aber dass die Lyriker ungehemmt das Kompakte,
das Geschlossene, das Wiedererkennbare, den eigenen Ton und das kanongerechte
Werk zu restaurieren versuchen, das ist Verrat an den philosophischen
Einsichten der letzten 200 Jahre und an sich selbst!
Selbst wenn diese Autoren so fantastisch sind, wie du schreibst (und deine
Begeisterung über sie gefällt mir am besten) dann sind doch
selbst an ihnen diese literaturhistorischen Atavismen aus menschlicher
Schwäche noch partiell zu begutachten. Ach, schmeichelnde Winde,
Butterblumen im Taifun!
Es muss natürlich "Die ganze Zeit", ein "Erste Erde
Epos" sein, es müssen "118" Gedichte der Periodentafel,
ganze Sonettenkränze sein, ein Lyrikkaddish monomaner Ausprägung
(du erwähntest auch Paulus Böhmer) oder mindestens eine Anlehnung
an eins der aus den großen Zusammenhängen der Welterforschung
geborgten Systeme. Und wenn das nicht, dann wird gleich grundsätzlich
"Vom Schnee" geredet oder man greift, selbst wenn man wörtlich
gesehen bei null anfängt, die ganz großen Themen der Zeit ab:
ground zero. Das kann natürlich kein Kriterium gegen
diese Werke sein, aber klar ist doch auch, dass ohne ein Blendwerk, sei
es Mega-Konzept, Labelkompatibilität, Wuchttitel oder hypertrophem
Anspruch Aufmerksamkeit in der Medien- und Stipendienlandschaft kaum zu
haben ist. Selbst die mir am wildesten anmutende unter ihnen, Ann Cotton,
dekretiert, wie ich gerade irgendwo im weltweiten Wust las, jeden Verdacht
auf Formlosigkeit als geschichts- und bewusstlosen Akt der Barbarei. Verbannt
auf die selige Insel der Formbewussten, reimt und dichtet es sich episch-epochal
nun in ihrem Holterdiepolterbuch, das du witzig findest, dass
es im tragenden Gebälk nur so kracht.
Steffen Popp kenne ich ja ein wenig von früher, als er noch mit mir
Chemie studierte, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich der
Lächerlichkeit dieses ganzes Popanzes nicht bewusst wäre. Ich
habe immer seine Ironie geschätzt. Seine Ausflüge in die lorbeerkränzenden
Gefilde sind sicherlich voll Absurditäten und Schabernack. Aber ich
fürchte, das ist den Jurys und der Kritik weitestgehend verborgen
geblieben.
Immer noch gilt der Öffentlichkeit als höchstes Lob der "eigene
Ton", die Wiedererkennbarkeit und, moderner gesprochen, der "authentische
sound".
Dabei sollte längst als Schandfleck seiner Zunft gelten, wer sein
Verfahren öfter als in zwei Büchern wiederholt. Die Reaktion
auf diese unablässigen Kontinuitäten und Verpackungsbedachtheiten
sollte doch mindestens Unbehagen sein! O Monochromie! O neuer und alter
Wille zum Blocksatz und Blockbuster. O Kleckern-war-gestern-Klotzblöcke
an Büchern!
Bewiesen wird damit was? Handwerkliche Meisterschaft? Aber ja nicht
einmal in allen Formen, sondern nur als Erscheinung einer einzigen, mühsam
abgespeckten Art, einer streberhaften Verkümmerung auf ein Alleinstellungsmerkmal.
Glückwunsch zur siebzehnten Verfeinerung des meisterhaften Ansatzes!
Dass dies natürlich immer männliche Konzepte sind (weshalb Ann
Cotten als einzige von dir genannte weibliche Dichterin (!) sie wohl nur
simuliert) brauch ich dir als hingebungsvollem Phallogozentrismuskritiker
nicht zu sagen. Aber nicht die herausragenwollenden Stringenzbesessenheiten
sind das Manko solcher Dichtung sondern dass diese Konzepte und
ihre Durchsetzung nichts neben sich dulden, dass sie nicht nur markttechnisch
auf Beherrschung aus sind, auf Verdrängung und Alleinanspruch. Neben
ihnen soll alles wie Stückwerk aussehen, wie halb gar, hingeschmiert
und kaum zu Ende gedacht. Und was mit Offenlassen und dem Versuch statt
Vollendung und eselig-einhertrottender Universalität? Allegorie statt
Symbol, Bruch statt Genetivmetaphern, aufstörende Syntax statt bewusstloser
Anhäufung von hundertfach eingeübten Sprechweisen? Ja, vielleicht
ist es nur Verpackung! Der Inzestbetrieb, von dem du mir ja oft berichtet
hast, spielt da vermutlich eine Rolle.
Trotzdem, Hendrik! Ich weiß natürlich, dass allein die Kritik
oder Zerstörungswille und Mutwill zum Fragment noch nichts garantieren.
Und ja: ich kenne auch das Mittelmaß. Nur über die Guten lohnt
überhaupt Streit! Aber gerade du warst doch immer ein Verfechter
des permanenten Wandels und Anverwandelns, wechselnde Stile und Pastichen,
in liebender Annäherung bis zur Auflösung im Fremden!
Nun kommst du mir mit Großwerken und Kulturmainstream? Klar darf
Formvollendung in einem falschen Umkehrschluss nicht ausgeschlossen werden
im Gegenteil! Aber es kommt doch auf die Wahrhaftigkeit und die
Neugier des Autors (!) an, das Glücken!
Führen Fachsprache, Preise, luftdichte Versiegelung im Kanon zwangsläufig
zum Einrosten des Denkens ? wirst du mich fragen und hinzufügen,
es läge doch am Leser, das Beste aus den Büchern herauszuholen,
sie von ihrer Rezeption zu befreien. Aber darum geht es mir nicht, mag
sein, dass das alles im Kern lebendig ist aber ein
anderes Ziel stand uns doch einst vor Augen. Bruder! Dies schreibe ich
dir mit dem Keyboard Gideons! Auf auf, solange das Feuer heiß ist!
Lieber Sibelius, erst einmal vielen Dank für deine leidenschaftliche
Position. Ich denke aber, es ist offensichtlich, dass du dich hier an
anderen Autoren abarbeitest, um deine eigene Intention, die du zudem recht
umstandslos auf mich applizierst bzw. mir unterjubelst, zu extrapolieren.
Mich interessiert schon mehr als fremde Schreibweisen, nämlich Atmosphären,
untergründige Schichten, überhaupt das Unsichtbare und die Grenzen
der Ausdrückbarkeit.
Manches, was du schreibst, erscheint mir ungerecht, besonders die Erwähnung
der Fachsprachen. Aber vermutlich hast du das Wort ohne Hintersinn verwendet,
denn den Dichter, der ein Buch dieses Titels schrieb, hatte ich vergessen
zu erwähnen. Ich habe auch verpasst, dich auf ausländische Dichter
und vor allem Dichterinnen (die russischen!) hinzuweisen, die mir noch
lieber (und die liebsten) sind als die deutschen.
Wie auch immer, zu deiner kleinen Polemik: Mir selbst bringt ein solches
Abstoßen von anderen, um zu sich selbst zu gelangen, nichts mehr!
Solche zuletzt immer simplen Polemiken führen weg vom Eigentlichen.
Lass doch alles gelten! Ich finde es herrlich, bei aller philosophischen
Kritik daran, wenn es Kompendien, Großepen und enzyklopädiendicke
Bücher der Sonettkunst gibt. Diesen Autoren eignet doch ein unverwechselbarer
Tonfall, eine Einfallskraft und Ingeniösität, die sie heraushebt!
Ach Sibelius, und doch hat mich einiges an deiner Mail ergriffen. Ich
muss zugeben, dass ich dein trojanisches Pferdchen wohl unwillkürlich
in mein Herz gezogen habe ... Es sah auf den ersten Blick glänzend,
leidenschaftlich aus; wuchtig hattest du es vor meine verschlossenen Tore
gestoßen. Ich zog es also arglos herein, öffnete das kleine
knarrende Türchen an der Flanke, und schon schwärmten sie aus
... die huzeligen Dämonen des Zweifels, die einfallenden Scharen
der Schwärmerei und des Übermuts ... und nun bin ich plötzlich
wie trunken mich überkommt Erinnerung an unsere ersten Lektüren
und den feurigen Austausch mit dir, guter Sibelius. (...) Und da möchte
ich hinausstürmen aus meiner Bücherstube, um draußen die
Elemente zu feiern und verloren zu gehen im Brausen der Winde (...)
Nun denn, der Rest ist ungefilterte Sentimentalität, unerheblich
hier. An dieser Stelle soll das so weit genügen.
Hendrik Jackson
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