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Hendrik Jackson // zu „Golems Totems“, Jinn Pogy
(Langfassung; Rezension in gekürzter Fassung am 10.10.12 erschienen in der Tageszeitung Junge Welt)


Million-Dollar-Kirschen

Fratzen sickern aus Händen, Mythomanen manteln sich am Tor zu Prozessionen, wir finden Pyramidenschwestern, Würzwürfel, pomadiges Stochern, Bremsbahnen der Hirngespinste. etc.
Jinn Pogys erster Gedichtband, unter dem Titel „Golems Totems – Million-Dollar-Kirschen und verstimmte Vögel“ beim Verlagshaus J. Frank erschienen, birst vor Einfällen. Manche gefallen, zumal wenn sie gewitzt sind:„gestecknadelte Ahnen“. Daneben gibt es auch eingängige Zeilen wie „unterm Satellitenhimmel ein schwerer Mai“, „Rastest du an unseren räudigen Morgenden und dem Lächeln aus Licht“ oder gar etwas problematischer: „schnitzen wir Totenköpfe in die zagen Augenblicke“. Dann wieder findet man ron-winkler-like Zeilen wie „tageswürdiges Abseilen“ oder „ein Huf in die Magengrube“. Einige „soundarten“ klingen an, die man von kookbook-Autoren kennt. Wie bei diesen ist ihre Dichtung eine Synthese aus Abstraktem und Bildreichem, aus thematisch Konzentriertem und sprachtechnisch kunstvoll Abdriftendem. Mal befindet man sich einer „Scheichschleife“, nachdem zuvor surreal ein Hyänenkopf schräg auf der Erdkugel haftete. Dann ein plötzliches „Ficken“ am Anfang eines Gedichts, während das nächste, fast romantisch, beginnt mit „Die Nacht wächst heran“.
So oszilliert der Band zwischen in Demiurgenfeier zusammengeschlackten Sprachkreaturen („Golems“) und den Beobachtungen einer scheinbar seit jeher tumb dastehenden Welt, die aber mehr magische Kräfte besitzen soll, als ihr gemeinhin zugestanden wird („Totems“).

Man wird durchgeschüttelt in dieser Art von Poesie: in der Vielfalt der Themen ebenso wie der Intonationen, saloppen Einsprengsel und exzentrischer Brechungen. Pogy erlaubt sich Stimmwechsel, weil sie sich bei zu großer Engführung langweilt. Man hört in vielen Zeilen eine Rebellin durch, der die lyrische Wohltemperiertheit durcheinander bringen will und sich um manche Gepflogenheit folgerichtig nicht schert.
Einerseits geht es Pogy dabei um ‚mehr’ als Sprachreflexion. Die Referenzen auf Gesellschaftliches und Politisches sind explizit – und doch tummelt sie sich vor allem in Sprachspielen und zündelt wild herum mit Einfällen. Doch sind die Gedichte auf der einen Seite viel zu gewitzt und klug, um als unausgegoren oder überprätentiös zu erscheinen. Auf der anderen Seite ist ihre Intonation von meisterhafter Abgeklärtheit so himmelweit entfernt und überhaupt so anarchisch, dass man ihr bestimmt unrecht täte mit einer altbackenen Einordnung wie ‚meisterhaft’.

Es ist kalkulierter Kollateralschaden, dass Pogy eine Menge Fragen evoziert, die auch an grundsätzliche Reflexionen zur Form von Literatur rühren (‚Poetik’). Was am ‚Experimentellen’ in der Literatur stets gestört hat, liegt bereits in seinem Begriff begründet: Das Experiment, wie wir es aus der Wissenschaft kennen, schafft eng begrenzte Rahmenbedingungen, innerhalb derer bestimmte Phänomene einer Untersuchung unterzogen werden sollen, von der man sich Aufschluss über Gesetze erhofft, die anhand der Beobachtungen entwickelt werden könnten. Es ist klar, dass, so wie die Messergebnisse in der Wissenschaft nur Ausgang für eine zu bildende Theorie sind, das Experiment in der Literatur nur Übung sein kann für Schreibweisen, in denen das Erproben einzelner Sprachmittel innerhalb abgesteckter Grenzen sich als Einschränkung erweisen würde. Andererseits ist große Literatur ohne ein quasi-experimentelles Vorrücken auf ungewohntes Terrain wohl gar nicht denkbar. Das könnte man weiterführen: wohnt nicht jeder guten Literatur Ambivalenz inne? Die Unsicherheit, die sie hervorruft, kommt von dem Ungewohnten her, den unerschlossenen Räumen, die sie betritt und daher, dass sie die Konsequenzen ihres Tuns selbst kaum übersehen kann. Wie aber dann das Wachsende einer tastenden, reflektierten Literatur unterscheiden von dem Wildwuchs, dem Zu-Kurz-Greifen oder Übers-Ziel-Hinausschießen des Unausgegorenen? Ab wann nervt Komplexität mit zu verschnörkelten Ornamenten, ab wann Schlichtheit mit Redundanz? usw. Grenzziehungen sind unmöglich und schlussendlich wohl kaum wünschenswert. Dass man Pogys poetisches Verfahren, vor allem aber ihre Intonation, also nicht recht einzuschätzen weiß, kann man durchaus als positives Charakteristikum anerkennen.

Am stärksten ist Pogy dennoch zu Beginn des Bandes mit kleineren Miniaturen, gerade wo sie um ein eindeutiges Thema kreisen, wie z.B. in „slot-machine“, das rhythmisch schwungvoll Glücks-spielautomatenpomp poetisch entfacht, sich „Million-Dollar-Kischen“ herauspflückt und entzückt verdrückt.
Später geht es dann mitunter sehr punkig zu; man ist ein bisschen „lost in Postpoetry“. Geht es nun um Beobachtungen („Dieser Köter ist angeleint an einen Sonnenstrahl“), Empfindung oder Zitat („I wanna be plastic seit Tagen“), um Sprachspiel („Giddyup Giddyup// brrrrrrrr// Giddyup Giddyup// shhh“), um „Weltunterbrechung“ oder eher Skurril-Poetisches wie Likörgläser „mit Obskuranten“? Geht es um hypertrophe Wirklichkeiten, wenn – wie in „hätten nicht die Gesichter ein Ich in der Mitte“ – Menschen- und Diskursansammlungen Knäuel bilden, oder eher um rhythmische Bildergenerierung für Ästheten: „schwindeliges Drehen und Drehen und nicht mehr zum Stehen kommen“ bis zum Ver-„Knotenā€œ – „und die Not im Gesicht schwoll um Töne“ ... Geht es um Analyse, Schaumschlägerei, Spiel oder Kritik, normalen Wahnsinn oder exaltierte Norm, die Autorin ruft „Alakazam!“ und lässt uns stehen im Rätsel. Zur Exzentrik und leichten Desorientierung tragen auch wild sich gebärende Verben bei, zum Beispiel falsche Konjunktive oder ungebräuchliche Vergangenheitsformen („schrockst“, „frugst“).
Seltsamerweise suggerieren der stark auftretende Tonfall und die sinnlichen Bilder aber gerade, als wüsste die Autorin selbst genau, wo sie hin will. Dadurch entgeht sie dem Verdacht der Beliebigkeit oder des Plundersammelns und tritt eher als plündernde Piratin auf, mit sehr spezifischer Vorliebe für magische Momente, Beschwörungsrituale und bröckelnde Tonriesen.
Es wundert nicht, wenn wir am Ende des Bands auf zwei Listen „des Wilden und des Domestizierten“ – seit jeher Doppelgesicht der Freibeuterei – treffen, als bezeichnete die Autorin damit die Eckpfeiler ihrer Poetik.

// Hendrik Jackson

Jinn Pogy, Golems Totems – Million-Dollar-Kirschen und verstimmte Vögel, Quartheft 32, 120 Seiten, Verlagshaus J. Frank

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