lieber franz-josef czernin

ich möchte ein paar einwände bzw. eher ergänzungen und fragen formulieren zu deinen spekulationen im gespräch über den gedicht-palast. ganz zu beginn kommst du auf den begriff "poetische einbildungskraft" zu sprechen.
man könnte, sagst du, in so einem zustand erkennen, dass die dinge ganz anders liegen, als wir normalerweise annehmen.
du sprichst davon, dass man die wahrheitsbedingungen verändert in dieser poetischen erfahrung.
der begriff palast beinhaltet gewisse definitionsmöglichkeiten. wenn man diese zu weit dehnt, scheint mir aber, spricht man im strengen sinne nicht mehr von palast. ein palast zeichnet sich eben ja durch seine tatsächlichkeit als vorhandenes gebäude aus im gegensatz z.b. zum palastentwurf des architekten.

das, was du beschreibst als erfahrung des gedichts als palast scheint mir nurmehr eine simulation einer palastbegehung zu sein oder eben die poetische einbildungskraft, die sich vorstellt, das gedicht als palast zu begehen. rein logisch bleibt die wie-konstruktion immer bestehen, allein die einbildungskraft kann etwas verlebendigen, das dann vielleicht in einer wie-beschreibung zu abgeschwächt erschiene.
ich bin mir bewußt, dass simulation ein ziemliches modisches wort ist, hier aber scheint es mir am angebracht zu sein. simulation im sinne von: eine ähnlichkeit herstellen. noch besser: eine äquivalenz. simulation ist in dem sinne nichts schlechteres. sie entbehrt der sinnlich unmittelbaren präsenzfülle (wie du sie nachher beschreibst, worauf ich noch zurückkomme), kann aber durchaus entsprechendes eben simulieren, herstellen.

man kann in diesem sinne den satz: dieses gedicht ist ein palast sich auch vorstellen als einladung, nicht nur als wie-vergleich: betritt dieses gedicht in deiner einbildungskraft wie du einen palast betrittst. ich glaube gar nicht, dass es einer mystifizierenden lesart bedarf, um den möglichen reichtum der poesie zu begreifen.
doch sind wir damit weiter? was ist denn "sinnliche simulation"? im grunde ist mit diesem begriff, das sehe ich ein, nicht viel geklärt.

deine auffassung von sinnlichkeit scheint mir nahe an der hegelschen entfaltung des begriffs aus der sinnlichen wahrnehmung zu liegen. die sinnlichkeit erscheint bei dir als unbestimmte fülle, die zwar in und durch die sprache zu etwas anderem wird. zugleich bleibt dieser mythos der unmittelbaren sinnlichkeit bestehen. zwar kann nur über sie gesprochen werden, wenn sie schon zu etwas anderem geworden ist, aber man spricht mit der sprache über sie als etwas vorgelagertem, wirrem, chaotischen „vor-zustand“. das sinnliche ist sozusagen immer schon mythisch vorgelagert... so schreibst du: „Diese beim lesen realisierten bedeutungsbeziehungen könnten sozusagen ein anderer aggregatszustand des sinnlich wahrgenommenen gegenstandes sein. Obwohl alles anders ist, weil es mit sprache, sinn und vorstellungen zu tun hat, und nicht mit dem, was sinnlich wahrgenommen wird.“
mit scheint das hegel etwas zu vereinfachen beziehungsweise, einfacher gesprochen: der gegensatz zwischen sinnlichkeit und bedeutung wird mir zu stark gemacht.

sicherlich gibt es eine unmittelbar gegebene sinnliche erfahrung. aber schon der begriff der erfahrung lässt aufhorchen. es mag reine sinnlichkeit geben, wir erfahren sie aber nicht rein. jegliche erfahrung von sinnlichkeit ist uns nur in koinzidenz mit einem strom von bedeutungen gegeben. mehr noch: wir "lesen" permanent, selbst die "ursprünglichste" erfahrung enthält einen wust von unverdauten, aber durchaus schon zu beziehungen verknüpften emotionen, erinnerungen, hoffnungen, atmosphären, machtverhältnissen etc.
diese klärung scheint mir wichtig zu sein, denn wenn man deine „reontolgisierung“ eben nicht als simulation einer begehung verstünde, bliebe eine von der sinnlichen dimension ziemlich abgekoppelte fragestellung im zentrum (was vielleicht auf die trennung zwischen „sinn und sinnlichkeit“ zurückzuführen ist?)

mir scheint es bezeichnend zu sein, dass du nur von "palast" sprichst. einem architekten wäre das viel zu wenig, er würde fragen: welcher palast, wie sieht er genau aus, wann wurde er gebaut, aus welchem material etc? dein gedicht vermittelt in diesem sinne (anders als proust) viel zu wenig palast, eher nur die behauptung des palasts, als den palast selber. (ich denke, das ist vielleicht ein punkt, an den viele deiner kritiker knüpfen, die die philosophischen aspekte deiner gedichte vernachlässigen).
deshalb ist für mich die frage nach der sinnlichen wahrnehmung wichtig: wenn man einen palast begeht, vor allem wenn es ein starker eindruck ist, ist es meist so, dass das gehirn schneller dachte (während der begehung) als man selbst. so auch, wenn man andere dinge als "reich" erfährt (wie du es beschreibst).

es handelt sich dabei keineswegs um eine rein "sinnliche" fülle, die auf zauberhafte weise durch sprache auch, aber irgendwie anders hergestellt werden kann. sondern überall ist diese fülle mit bedeutungen verknüpft, sprache hat nur den vorzug, diese bedeutungen manifest (und wieder flüssig) machen zu können (bzw. den impuls, dem wirkungen, affekte enstprangen, wieder in erinnerung rufen zu können; sprache kann in bevorzugter weise wiederholung simulieren, aufrufen: evozieren, wie du schreibst).
poesie kann in diesem sinne also noch mehr, als zu affizieren - sie kann, wie du es ja schön beschreibst, erfahrungen offenlegen: das, was sozusagen als virtuelle und anwesende fülle zugleich affizierte, auslegen: vor augen führen.

nun ist es aber so, dass uns diese proustsche "weissdornhecken"-fülle keineswegs, wie du beobachtest, einem tatsächlich begegnet sein muss. literatur kann etwas simulieren, das nie stattgefunden hat (und an dieser stelle wird der begriff simulation tatsächlich besser wieder rückgeführt in den alten der einbildungskraft). deshalb schiebt sich poesie nicht zwischen den gegenstand und seine betrachtung (im besten fall, schlechte sprache tut dies schon eher)
aber alles kann sich zwischen den gegenstand und die wahrnehmung schieben: auch eine atmosphäre, ein typ, ein schlechtes gewissen, eine stimmung etc. es ist nicht nur so, dass die sprache (wirklichkeit) verarmt, auch die wirklichkeit verarmt (sprache) immerzu, lenkt ab oder verengt sich.
das, was das unbewusste an "nicht-propositionaler erkenntnis" ebenso wie an plötzlicher öffnung, an unmittelbarer evidenz leisten kann, kann sie überall leisten, und sprache ist nur ein besonders manifester, strukturierender ort (aber genauso den schönheiten, wiederholungen oder ermüdungen unterworfen)
"nicht-propositional" wäre das, was einbildungskraft und geschichte (kontexte) zu einem konglomerat verarbeiten, schneller als man es selbst begreift (das, was man früher das unbewusste nannte), und das wirksam wird in (intuitiver, kluger, poetischer – vielleicht auch in hysterischer, leidender, zweifelnder ect?) praxis, in morphosen.

all diese wirklichkeit-sprache-prozesse sind reziprok zu denken. deshalb ist es schwer zu sagen, wo poesie anfängt und wo sinnliche wahrnehmung war. was hatte proust gelesen, bevor er diese weissdornhecke beschrieb? und was, bevor er sie erlebte? genaueres ergäben wohl nur genaue analysen der betreffenden literaturpassagen.fazit:
entweder erweitert man den begriff "palast", definiert ihn neu – dann sehe ich allerdings keinen "ontolgischen stachel", wie du schreibst, denn der neuen definition gemäß ist ja an dieser palastauffassung nichts, das dem menschenverstand "spotten" würde. (da sie ja, wie du schreibst, rational wäre)
oder man geht auf das, was du die "erfahrung" des gedichts (erfahrung wäre vielleicht doch hier auch per fußmöglich: begehung?) nennst: dann scheint mir doch so etwas wie simulation hineinzuspielen (sonst müßte man meines erachtens den begriff palast fallen lassen – außer hinsichtlich der philosophischen frage. wäre sonst das gedicht nicht unter umständen eine irreführende form für die zielgebung, zu verstehen zu geben, etwas sei zugleich palast und kein palast? (das wäre eine frage nach der aufgabe der lyrik)
sicherlich würrde dem begriff der "simulation" der "ontologische stachel" fehlen. für mich stellt sich nur die frage, ob dieser "stachel" hier sinnvoll ins spiel gebracht werden kann oder nicht nurmehr rhetorisches geschütz zu werden droht, flankiert von der leicht genialisch anmutenden geste "gegen-den-gesunden-menschenverstand". aber das kann (und muss man wohl) offen stehen lassen, denke ich...

letztlich scheint mir – und das gefällt mir wiederum und leuchtet mir ein – dein versuch einiges mit einer don-quichotterie gemein zu haben. könnte der edle don nicht ebenso von einer reontologisierung der windmühlen (nämlich als ritter) sprechen? allerdings kommt bei dir ja noch eine gewisse literarizität ins spiel, ein buchstäblich-nehmen.
das erinnert mich an den großartigen passus bei foucault, die stelle ist in "ordnung der dinge" (S.78-82): "don quichotte liest die welt, um die bücher zu beweisen. sein ganzer weg ist die suche nach ähnlichkeiten; die geringsten analogien werden als eingeschläferte zeichen herangezogen, die man aufwecken muss, dass sie erneut zu sprechen beginnen" usw.
nun werden bei dir nicht die realen windmühlen mit denen des textes eins (oder nach ihren ähnlichkeiten mit dem text bemessen), der text selbst wird zur windmühle, zum palast... radikalisiert in diesem sinne dein ansatz don quichotte, der bereits alles für „bare münze“ nahm und betreibst du eine art "verdonquichottisierung" des lesens und des textes? texte als windmühlen, als mühlen und mühen der sprache, gegen die wir ankämpfen...

 

Hendrik Jackson