Jahrbuch der Lyrik 2005

Mit dem Jahrbuch der Lyrik 2005 hat der Beck-Verlag seiner Tradition gemäß auch dieses Jahr die ein wenig zu selbstbewußt aller Kritik und Leserschaft vorauseilenden Prognose abgegeben, was nächstes Jahr von der Lyrik beachtenswert bleiben soll. Dabei haben sich die Herausgeber Hans Christoph Buchwald und der dieses Jahr mitwaltende Michael Lentz besonders viel vorgenommen: Ein Generationenkaleidoskop soll aufschimmern. Ein Lautpoesieanhang zollt zudem Tribut an Lenz’ persönliche Vorlieben, während einige angehängte Manifestchen, u.a. von Raoul Schrott, das Spektrum um vokativ gestimmte Publikumsbeschwörungen erweitern, die der Lyrik den gesellschaftlichen Resonanzraum zurückerobern wollen.

Die abgedruckten Gedichte allerdings stimmen einen da weniger optimistisch.
Was – mit Ausnahme der Lautpoesien – Eingang in diese in den Vorjahren oft für repräsentativ erachtete Auswahl gefunden hat, sind vor allem Gedichte mit wesentlich narrativem Zugang, meist wenig rätselhaft, vermeintlich aus dem Leben gegriffen.
Diese Lebensnähe fordert denn auch die Polemik Politickys im Anhang, der allerdings gleich alles in Bausch und Bogen verdammt, was nicht an eiergeschwollene Spontisprüche mit Direktverwertbarkeit im Gefühlshaushalt heranreicht. Sein Urschrei nach Brunst und Griffbereitschaft tönt etwas zu laut. Politickys Vorliebe, wenn sie bei ihren Leisten bliebe, könnte man in Bezug auf die affektive Wucht, die er fordert, noch verstehen. Aber tatsächlich zu glauben, daß wo "Schwanz" und "breite Schultern" und "Kaffeekörner" draufstünde - wäre Wirklichkeit drin – ist schon ziemlich ulkig. Was die geforderte Authentizität angeht, wieder mal dackeltreu nach eingebildetem amerikanischem Vorbild (deren Dichter doch ganz anders schreiben) ins Deutsche transponiert – so mag sie zuweilen mutig sein, ja irgendwie aus dem Herzen als Stoßseufzer nach Bierschluß gut kommen – aber als Maßstab für deutschsprachige Gegenwartslyrik wird man das schwerlich setzen wollen.
Auch Schrotts diffizilere Verteidigung der Poesie zielt letzlich auf Lyrik als Gelegenheitsgedicht, inspiriert von einem Eindruck und einem Einfall, auf eine Gelegenheitskomposition, zumindest seiner Theorie nach.

Freilich wird man in einer Anthologie mit lediglich ein-zwei Gedichten pro Autor Beispiele für komplexere, in großen Zusammenhängen stattfindende Lyrik nicht vermissen dürfen.
Nicht um " Archipele" in "submarinen Zusammenhängen", die gute Literatur zum Beispiel charakerisieren könnten, wird es da gehen, sonden um das, was sich merken und herauspicken läßt. Aber dennoch hätten sich sicherlich andere Autoren finden lassen, als jene vorgestellten. Ob Sarah Kirschs Lyrik wirklich noch für das Jahr 2005 einstehen kann, lasse man dahingestellt sein. Aber auch unter den Jüngeren ist von denen, die die Diskussion in den letzten Monaten belebten, kaum einer dabei: Weder Raphael Urweider, noch Monika Rinck, Steffen Popp oder Daniel Falb. Man hat das direkt Verständliche vorgezogen. Damit steht das Jahrbuch 2005 vor einem ähnlichen Problem wie die bei Dumont kürzlich erschienene, hinsichtlich ihrer Gedichtauswahl kritisierte Anthologie junger Poesie „Lyrik von Jetzt“. Das Jahrbuch scheint sich aber dessen bewußt und versucht darüber hinaus jene dort gescholtene "Unterkomplexität" als alte Traditionslinie zu markieren (durch die Auswahl bestimmter älterer Dichter).

Dennoch läßt sich einiges an Fundstücken auflesen. Während der selbstgewisse Beobachtergestus gleichwie die coole (meist männliche) Sentenz manchmal recht lustige Dinge produzieren ("Clerasil für die Mischhaut des Golems" Tom Schulz), hat es Silke Scheuermann, hier auch vertreten, in der letzten Zeit geschafft, das Genre des melancholischen oder schmerzvollen (meist weiblichen) Liebesgedichts, das seit Bachmann fast verschwunden war, aus dem Sumpf der dichtenden Laien wieder aufs Plateau der Hochkultur zu ziehen – und zwar am eigenen Schopf. Ohne große Anleihen (außer bei Märchenstoffen) und nicht immer der Gefahr des Kitsches entrinnend, entwaffnet Scheuermann durch ihre Unmittelbarkeit, mit der sie ihre innere Situation stimmungsvoll artikuliert. Aber darf man der Erinnerung an große Gefühle so hemmungslos Platz machen? Ihr Pathos immerhin ist echt, wenn sie vom Geliebten spricht, von dem tag- und nachtlang eine Verheißung von Glück ausgegangen sei und ihre Unfähigkeit, sich zu lösen alles umher in ein "Einmachglas" verwandele, das "Erinnerung frischhält".
Doch die Umfangenheit in solchen traumatisch empfundenen Zuständen verspricht zwar Intensität, aber nicht unbedingt tieferen (literarischen?) Einblick. Doch mag sich, wer solches sucht, an Gedichte wie Stolterfohts bereits bekannte Fachsprachen oder Pastiors Sprachspiele halten, derer viele hier zu finden sind.

Das Jahrbuch 2005 versucht sich auch an einigen Entdeckungen. Das meiste davon bleibt eher blass. Immerhin liest man ein schönes Gedicht von Jürgen Nendza, bleibt bei Kuhligks Wetterbeschreibung stehen (überrascht von der Sachlichkeit), oder beobachtet auf der Kirmes die hervortretenden weißen Knöchel des tätowierten Aufpassers (Opitz). Gerade in so einer Ausrichtung der Anthologie wird dann eher das gesuchte, zu lyrische Bild zum Problem – und ermöglicht der angehängten Lautpoesie noch einmal im Lichte einer fast verwegen anmutenden Fortschrittlichkeit zu leuchten.

Hendrik Jackson