Das Wort »Reparatur«, dem Namen Hölderlin beigesellt,
ist, so denkt man zunächst, pure (Selbst-)Ironie, bringt man es doch
weniger mit erlesenen Gesängen denn mit Küchenmaschinen und
Automobilen in Verbindung. Ironie, Kontrafaktur, Brechung des kunstvoll
Hohen durch das Plurale, Massenmediale, Krasse war es denn auch, was Rezensenten
als Verfahren Falkners ausmachten: »Falkner konfrontiert die erhabene
Sphäre Hölderlins mit der Welt und der Sprache unserer Zeit.«1
Falkner selbst hat einer solchen Wahrnehmung vermutlich ungewollt
Vorschub geleistet, als er in den »Sätzen gegen die
Unruhe« formulierte: »Die Hölderlin Reparatur bebildert
mit ihren Gedichten die Idee des erhabenen Sprechens im Tumult der neuen,
fragmentierten und superkurzen Einsatz- und Bereitschaftssprachen.«
(HR 802) Sehen wir einmal davon ab, dass Sprachen nicht kurz oder lang
sein können (allenfalls die Lexeme oder die Zeitstrecke pro ausgesprochener
Silbe oder Sageeinheit), die Rede vom Bebildern ungriffig metaphorisch
ist, so bleibt vor allem unklar, wo die »Idee des erhabenen Sprechens«
eigentlich ist im »Tumult« als eine unter vielen Sprechweisen,
oder wird sie vom Tumult aus betrachtet als etwas außerhalb des
Tumult Existierendes? So ungenau das formuliert ist: Von Konfrontation,
Brechung, Depotenzierung als generellem Umgang mit der »Idee des
erhabenen Sprechens« steht in der Notiz nichts. Lediglich dürfte
dem erhabenen Sprechen ein Sonderstatus welcher Art auch immer zukommen,
sei es in-, sei es außerhalb des heutigen Multiversums der Rede-
und Denkweisen.
Zu klären wäre sodann, ob die Notiz unterstellt, »die
Idee des erhabenen Sprechens« meine bei Hölderlin eine Rede,
die alleine aus hochelaborierten, alltagsfernen Worten, Metaphern, Ideolekten,
edlen Pathosformeln, komplexen Perioden bestünde, um erhabene Gefühle
und Ideen über Geschichte und Mensch auszudrücken. Sollte derlei
mitgedacht werden, würde Falkner einem grundlegenden Irrtum bezüglich
des reifen (»pindarischen«) poetischen Konzeptes Hölderlins
aufsitzen sich dabei allerdings in größerer Gesellschaft
der Hölderlin-Rezeption bewegen; das Titelwort Reparatur
dürfte jedoch auch eine Abgrenzung zur mehrheitlichen Rezeption implizieren.
Ein Apercu ist nicht zu terminologischer Rechtschaffenheit verpflichtet.
Was »erhaben« in diesem Falknerschen Apercu genau bedeutet,
muss man nicht mühsam präzisieren wollen. Die Abkunft vom lateinischen
/sublimis/ her hoch, erhaben, emporstehend, emporragend3
spukt gewiss immer in dem Wort herum, zumal es in Deutschland seit dem
18. Jahrhundert auch und vor allem den (von der Antike her tradierten)
erhabenen Rede- und Schreib-Stil im Besonderen meinte4. Dass das Erhabene
unser kategoriales Fassungsvermögen übersteigt, dürften
viele hinzudenken, mögen sie dabei an Immanuel Kant denken oder nicht.
Was immer Falkner selbst darunter genau verstanden wissen will
er greift dabei gewiss nicht unvermittelt auf alte Traditionen des Sublimen
zurück, sondern vermittelt durch die Kunstdiskurse der 1980er (und
noch der 1990er) Jahre, die für ihn generell prägend waren:
In den Feuilleton- und Seminarschlachten rund um den den Poststrukturalismus
und den fröhlichen Eklektizismus und das »Anything goes«
der Postmodernisten erlebte auch das Erhabene eine Hochkonjunktur. Kulturwissenschaftler
würden vermutlich zuerst an Lyotard, einen Stichwortgeber der Dekade,
erinnern, der gegen ein konsumistisches Mixen eine Art postmodern Erhabenes
in Stellung brachte, weil dieses etwas sei, das sich dem bloßen
Geschmacksurteil wie auch dem Konsumismus widersetze und damit jeden Konsens
sprenge, letztlich gar nicht im konventionellen Sinne darstellbar5 oder
begrifflich zu fixieren sei6. (Lyotard paraphrasierte allerdings großteils
lediglich Redefiguren, mit denen man schon je das Avancierte der modernen
Kunst beschwor7.)
Kulturhistoriker mögen eines Tages zeigen, wie Gerhard Falkner durch
diese Diskurse, die sein prosaisches Hauptwerk Apollokalypse
durchtönen, Anregungen für eigene Konzeptionen des Erhabenen
gewann. Gut möglich, dass das Ausstellen des Trivialen, der Schlagerseligkeit,
des metaphorischen Pomps, das coole Surfen durch Erhabenes und Pop-Sounds
gleichermaßen, das Integrieren des Plattwitzes weniger auf Traditionen
der Neoavantgarden als auf Prägungen durch die 1980er Jahre zurückgeht,
oder gar auf das Berlinspezifische Klima, intoniert von Punk und Martin
Kippenberger, neuer Friedensbewegung, Merve-Verlags-Kultur und Hausbesetzerromantik.
Mag dem so sein. Wenn, dann hätte Falkner nicht nur das Mischen,
Trashen und Brechen, sondern vor allem auch das nahezu systematische Ausdifferenzieren
der verschiedenen Sprachen und Konzepte zum Programm erhoben: Er teilte
dann ein gutes Stück weit (ähnlich wie Lyotard?) das postmoderne
Zelebrieren von hierarchieloser Differenz und Verfügbarkeit des Heterogenen
und Pluralen, würde jedoch gleichzeitig darauf insistieren, das Hohe
und Kunstvoll-Mächtige von Einst sei nicht nur eine bloße Spielfigur
unter anderen, sondern eine Herausforderung sui generis, ein Auftrag,
vielleicht eine Wunde, die dazu zwingt, sich nicht mit einem bloßen
Vielerlei der Redeweisen zu begnügen, sondern etwas Absoluteres zu
suchen. Es geht Falkner letztlich vielleicht gar nicht um Idiomklitterung
und den Clash erhabener Redeweisen mit Technikjargons, Alltagsverständigungen,
Schlagerseligkeiten viel eher um Rettung von Momenten der Wahrheit
und Verbindlichkeit der Hohen Rede im Tumult (und vielleicht
umgekehrt auch der niederen Ausdrucks- und Verständigungssprachen).
Ein Grundgefühl jener Jahre dürfte Falkner noch immer teilen:
Die Avantgarden waren nicht ungültig, sondern historisch und relativ
geworden. Die normative Autorität der Avantgardisten war dahin, doch
in irgendeiner Weise gehörten die Erkenntnis- und Gestaltungsgewinne
der Avantgarden zum Horizont des Möglichen, von dem her man sich
zu bestimmen suchte. Heterogenes schroff zusammenzumontieren, dauerironisches
Mixen und Klischieren, wäre 2008, als der Reparatur-Gedichtband
erschien, selbst schon eine Historische Aufführungspraxis gewesen
und das vermutlich nicht ohne Peinlichkeit, remake-remake-remakes. Zu
dekonstruieren oder zu ironisieren war längst nicht mehr der Glaube
an Werthierarchien und verbindliche Gestaltungsweisen, sondern allenfalls
das Erheben des Zertrümmerns, Verspottens, Verhunzens eben solcher
Werthierarchien zum bedeutsamen Akt: Ironie konnte für die Generation
Falkners immer nur eine Zweiter oder Dritter Ordnung sein, denn dasselbe,
was für die (neo-)avantgardistischen Konzepte galt, galt in den Jahren
nach der Jahrtausendwende längst auch für das bloß postmoderne,
coole Mixen und die ironische Kontrafaktur, das Klittern und Brechen und
Durcheinanderwürfeln von Zitaten und Imitaten. Tatsächlich muss
das Hineinnehmen von Hölderlin in den Buchtitel bedeuten, noch einmal
und in provozierender Direktheit gegen die Behauptung, es habe sich jede
Werthierarchie in ein egalitäres Vielerlei von Diskursen aufgelöst,
auf einen Dichter zuzugreifen, der seit einem Jahrhundert als Verkörperung
des Hohen Sprechens galt, und damit eines Sprechens, das, aus welche Gründen
auch immer, zwar als Unwiederholbares, dem Alltagsverstand nur noch Belächelnswertes
gilt, jedoch die Möglichkeiten der Dichtung als Ganzer in vollendeter
Form verkörpere. Und damit als etwas, das zwar in irgendeiner Weise
vom Tumult der diversen, wechselnden Codes affiziert oder
verdeckt werde, jedoch diesen nicht einfach einzuordnen sei, vielmehr
einen Sonderstatus genießt. Dementsprechend sind »Hölderlin«
und »Reparatur« auf Vorsatz, Titelblatt und Umschlagfront
unverbunden durch einen Bindestrich, in gleicher Ausdehnung untereinandergesetzt.
(Nur auf dem Rücken sind sie, der Schmalheit wegen, nebeneinander
gedruckt.) Sie sind buchstäblich unverbunden nebeneinander gestellt.
Vielleicht wird gar nicht ein einziges Programm annonciert, sondern deren
zwei, und diese zwei getrennten Ziele und Interessen vereinigen sich streckenweise,
nicht mehr. Mal mag es eine Reparatur Hölderlins, mal eine der Dichtkunst
mit Blick auf Hölderlin sein.
Man glaubt somit, in Falkners Buchtitel zugleich mit der Ironisierung
die Huldigung herauszuhören: Er zeigt den Willen zum direkten Rückgriff
auf das Hohe Sprechen an und macht sich über eben diesen Willen lustig.
Wer so titelt, ist gewillt, die Spannungen zwischen unwiederholbarer,
alltagssprengender Höhe und pluralisierender Einebnung nicht zu lösen,
sondern produktiv auszuhalten.
Das Wort »Reparatur« kann auch gänzlich anders klingen:
Es kann darin die (ironisierte und dennoch nicht unernste) vollmundige
Ansage gehört werden, Hölderlin selbst zu »reparieren«,
das Zeitgebundene zu lösen und vielleicht sogar die Defekte aus seinem
Konzept von Dichtung zu reparieren und auf diese Weise den Anspruch auf
Erhabenheit zu erneuern, zu erweitern oder wieder funktionstüchtig
zu machen. Wenn dem so sein sollte, dann würde dasselbe Wort »Reparatur«
diesem hypertrophen Anspruch aber auch selbst ironisch widersprechen.
Friedrich Hölderlin dürfte tatsächlich, wie es das sentimentale
Klischee will, zu bemitleiden sein, nicht als Mensch, da hat er nicht
mehr und nicht weniger gelitten als Heerscharen von Artgenossen auch,
doch als Künstler: Sein Nachleben war selektiv bis zur Karikatur.
Und wer heute arglos vom »Hohen Ton« spricht, als meine es,
Geschmack an »hoch« klingenden Worten und sperrigen Wortstellungen
zu haben, weil man nur auf diese Weise hochfliegende Ideen und sublime
äußern könne, steht in dieser Tradition des Hölderlin-Karikierens.
Das ist die erste Sache, die es zu klären gilt, bevor man darüber
diskutieren kann, was Gerhard Falkner eigentlich rezipiert, wenn er Hölderlins
emphatische Gedichtrede schreibend rezipiert und mit anderen Redeweisen,
wie man sagt, konfrontiert. Wir werden das in zwei Schritten tun: Erstens
werden wir, bedauerlich oder auch fahrlässig flüchtig, Hölderlins
Modell des spezifisch poetischen Erkennens vor Augen führen
so wie es in der Reifezeit ab der Jahrhundertwende erscheint. Zwar hat
man wohl auch Früheres von Hölderlin auf den Lippen, wenn man
von ihm (pauschal) spricht, »Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen«,
oder das nicht weniger adoleszent schwärmende »Du schweigst
und duldest, und sie verstehn dich nicht,/ Du heilig Leben!« etwa.
(Auch Falkner dürfte daran denken, wenn er die »vollständige
Humorlosigkeit Hölderlins« als eine Strategie bezeichnet, die
nirgens explizierte, erotische Sehnsucht freizusetzen, vgl. HR 81).
Für diese Gedichte stellt sich die Frage, was eigentlich das »Erhabene«
der Rede ist, vermutlich nicht prinzipiell anders als für viele Hymnen
und Oden Klopstocks oder für manche Gedichte Friedrich Schillers.
Es hat viel zu tun mit der Frage, welche Art Emphase eigentlich unter
welchen Bedingungen in welcher Form dichterisch tragfähig sein kann.
Das ist eine Oberflächendimension, die auch mit allgemeinkulturellem
Wandel der Ausdrucksformen, Gefühlsökonomien und Moden zu tun
hat. Falkner will ganz sicher mehr, Grundlegenderes, und Fundamentales
und Neuartiges in Fragen dichterischer Erkenntnis werfen Hölderlins
Gedichte vor allem nach der Wende zum 19. Jahrhundert auf.
In einem zweiten Schritt werden wir an einem der (scheinbar) schlichtesten
und einprägsamsten Gedichte des reifen Hölderlin zu verstehen
suchen, was dieses Modell der spezifischen Erkenntnis vermittels eines
komplexen, höchst disparate Elemente und simultane Prozesse organisierenden
Periodenbaus in der Praxis bedeutet.
Dann müssen wir, bevor wir uns sinnvoll Falkners »Reparaturen«
im Einzelnen widmen können, in einem dritten Schritt ein weiteres,
durch Unkenntnis der Geschichte poetischen Denkens entstehendes Missverständnis
klären: Auch wenn »die Idee des erhabenen Sprechens«
und der »Tumult der neuen, fragmentarierten und superkurzen Einsatz-
und Bereitschaftssprachen« Sphären je eigener Systemlogik sind,
müssen sie in irgendeiner Weise in Wechselwirkung oder Konflikt kommen.
In irgendeiner Weise müssen sie sich mischen oder aufeinanderprallen
und diesen Aufeinanderprall als poetischen zu organisieren, ist
nichts weniger als Falkners eigene poetische Idee im Umgang mit Traditionen
Hohen Sprechens. Verfahren der Konfrontation, des Verschränkens,
Klischierens, um die alten ehemals unangefochten »hoch« geltenden
Sprechweisen mit dem Vielerlei gleichberechtigter Redeweisen der Moderne
zu konfrontieren, machen vielmehr den Mainstream aus, und das schon mindestens
seit den 1930ern Jahren mit deutlichen Vorläufern bei den
Romantikern. Wäre es nur das, was Falkner täte, wäre er
eben ein weiterer Exponent dieser Tradition der antiavantgardistischen
Mehrheitslyrik, und er würde das Herzstück des Hölderlinschen
Denkens, eine philosophisch hochgespannte Erkenntnislehre der in Periodenform
komplex organisierten heterogenen Faktoren des Fühlens, Denkens und
Weltaneignens ausblenden wie es alles seine Vorgänger taten, die
einzelne Manieren und Affektgesten und lyrische Formeln Hölderlins
imitierten. Ob er das tut, wird in einem vierten und letzten Schritt zu
klären sein.
I. Hölderlins »Hoher Ton«: Vergegenwärtigung des
Ganzen durch dialektische Organisation der Periode
So viele Aspekte Hölderlins epochale Leistung auch haben mag, die
Dichtung seiner Reifezeit (ziemlich genau ab der Jahrhundertwende) gründen
in einem poetischen Erkenntniskonzept, das ein artistisch hochgezüchtetes,
im Grunde klassizistisches (oder posst-klassizistisches) Modell der periodischen
Tektonik mit Motiven verband der damals avancierten spekulativen Philosophie
des Geistes verband, um auf poetischen Wege das zu vergegenwärtigen,
was die Philosophie selbst in Gestalt begrifflicher Operationen erfahrbar
machen wollte, das Ganze, die Totalität. Alle genuin poetische Sinnstiftungsmacht
hing für ihn an den verschiedenen (teils idiomatischen, teils begrifflichen,
und jedenfalls syntaktischen und morphologischen) Weisen, die Logik der
Periode zu organisieren. (Hölderlin verwendete die Metapher vom »Ton«
für jeden einzelnen Modus der Organisation, die teils historisch
oder archaisch konnotiert sein konnten, jedoch nicht mussten, immer aber
mit verschiedenen Typen, Geist, Sprache und Welt zueinander ins Verhältnis
zu setzen, zu tun hatten.) Alles, was sich gegenständlich auf der
Gedankenbühne eines Gedichtes ereignete, ob Sachverhaltsdarstellungen
oder theatralische Posen des Ansingens, Naturschwärmereien, Kündermissionen,
Liebesgluten, edle Epitheta war weitgehend entliehen und nur dann poetisch
zu machen, wenn es innerhalb besonderer, der Elaborierten Dichtung allein
möglichen Weisen, periodische Sprachlogik zu organisieren, eine eigene,
neuartige Funktion innerhalb eines komplexen Prozesses erhält. Und
in den meisten berühmten Gedichten dr Reifezeit, dürrt das Material
oft aus bis zur Schablonenhaftigkeit alle Kraft liegt nu in der
Fügungsart. Doch gerade dieses Herzstück seines Denkens, dem
er in dunklen Poetologieentwürfen nachdachte, spielte in der Rezeption
praktisch keine Rolle. Man rezipierte kein Konzept der spekulativ durchdachten
periodischen Erkenntnisform, sondern ließ sich, von einzelnen, auf
Prägnanz und leicht memorierbare (und oft durchaus noch rhetorisch
gedachte) Reizwirkung geschmiedeten Wendungen in Verzückung bringen
oder wahlweise von Dunkelheiten des Ausdrucks, der
Theatralik der Affektgesten, dem berauschenden Wohllaut. Und im Hintergrund
fühlte man das von der Menge verkannte Genie, das in seinem Leiden
an der niederen Welt in Wahn versank, oder, wie Intellektuelle zu phantasieren
liebte, sich und sein Übermaß an sublimen Ideen und verzückenden
Affekten in den Wahn rettete.
Von hier aus gesehen ist Hölderlin wohl wirklich der Bemitleidenswerteste
unter den Klassikern. Würde sein Zeitgenosse Beethoven im Gedächtnis
der Deutschen in derselben Weise wie Hölderlin fortleben, existierte
Beethoven in Gestalt von intuitiven Nachahmungen großer dramatischer
Wirkungen und Überwältigungsgesten, einzelner, auf Merkfähigkeit
hin konzipierten Formeln und rhetorischer Gesten, und im Hintergrund fühlte
man stets das tragische, ach so unkonventionelle Genie mit, das der Welt
Überirdisches von unausdeutbarer Tiefe schenkte, ein höheres
Menschsein verkörpere und daher mit der unmusischen Mehrheit in Konflikt
kommen musste. Dabei ging bei Hölderlin nicht weniger als bei Beethoven
alles sogenannt Tiefe, Hohe, Tragische, Überwältigende, aus
einzigartig komplexen Reflexionen darüber hervor, wie tektonische
Proportionen, Kontraste, Entwicklungen und Spannungen so herzustellen
seien, dass sie Überwältigungswirkungen zum Epiphänomen
der Perioden-Architektur machen würden und dadurch allererst
erhaben und künstlerisch. Das »Stuttgarter Foliobuch«
(um 1800) kann man als eine Art Werkstatt sehen, in der Hölderlin
dieses Konzept radikal heraustreibt, indem er die Oden der vorangegangenen
Jahre überarbeitete. Schon in berühmten Gedichten kurz vor Jahrhundertwende,
sagen wir, »Empedokles«, oder »Heidelberg«, wird
es deutlich angestrebt. Und je mehr er das tat, desto unwichtiger wurde
der unmittelbare Reizwert der »Hohen« Gesten, der edlen Partizipien,
desto dominanter und radikaler wurde das Kalkül der Abfolge der meist
polysyntaktisch verbundenen Einzelelemente, in denen Betrachtendes und
Betrachtetes, Grund und Folge ineinander umschlagen, je nach Ort im Prozess
und damit je nach Perspektive auf den Gesamtprozess.
Das Abblenden der philosophisch-spekulativ motivierten Konzeption der
periodischen Tektonik ist in Hölderlin Fall keine bloße Vernachlässigung
der »technischen« oder »handwerklichen Seite«
der Rede: Es bedeutet, das abzublenden, was in Hölderlins Konzeption
die Anrufungs- und Verzückungsgesten allererst erkenntniskritisch
rechtfertigte denn beansprucht hat Hölderlin natürlich
niemals, persönliche Zustände auszudrücken oder schöne
Verse zu machen, sondern nichts weniger als eine poetische Vergegenwärtigung
des Ganzen von Geist und Welt. Die Ausdrucksgesten und Pathosformeln waren
Teilmomente dieses Erkenntnisgeschäftes, nicht umgekehrt. Diese Gesten
isoliert für sich zu imitieren, heißt also gerade nicht, das
nachzuahmen, was Hölderlin ausmachte, sondern das nachzuahmen, was
er selbst bereits als historisch geworden, ja archaisch oder leer empfand
das, was man als Hohes Sprechen Hölderlins bezeichnet, war
letztlich im reifen Werk gerade keine Fortsetzung einer lebendigen Tradition
(insbesondere der »pindarischen«, durch Klopstock hindurch
führenden), sondern eine radikale Abkehr von der in den 1790er Jahren
vorherrschenden Lied-Ästhetik8 unter spekulativem Rückgriff
auf längst Abgelebtes einer versunkenen Ära, verwoben mit Gegenwärtigem.
(Um 1800 war Klopstock, der Dichtergott der vorhergegangenen Generation,
für die Mehrheit jüngerer Intellektueller ein Denkmal früherer
Epochen und nicht selten ein Ziel satirischer Anfeindungen, wenngleich
kleine Teile der Kulturelite ihn weiterhin hochschätzten9.) Und die
Legitimation, weshalb das Abgelebte, das der Vergangenheit entliehene
Pathos, die sperrige Syntax, vor allem aber die Topoi, Metaphern, An-
und Ausrufungen und typischen Vokabeln, die man mit dem Hohen Stil zusammenbringen
würde, in Hölderlins Neuem Konzept nach 1800 wieder poetisch
lebendig werden sollten, konnte selbstredend nicht im Pathos, den Anrufungsformeln
oder den Affektgesten und melodischen Wirkungen selbst liegen.
Kurz vor der Jahrhundertwende hat der junge Hölderlin sich (in Frankfurt)
Notizen gemacht, um sich über die Grundlagen seines Dichtens abstrahierend
Klarheit zu gewinnen. Es blieb bei kleinen Fragmenten. Klar schien ihm
als klassisch trainiertem Virtuosen, dass inversive Perioden (das Vorziehen
von Nebengliedern) eine Basis des ambitionierten Dichtens sein muss
nicht aus Stilgründen, sondern weil nur so das Ganze noch einmal
in all seinen Heterogenitäten und Gegensätzen erfahrbar gemacht
werden kann10: Was der (nach Hölderlin im Hauptsatz ausgedrückte)
»Grund« von allem, was im Gedicht geschieht, ist, dürfe
ebensowenig von vorneherein feststehen wie das, was das Ziel und was der
letztliche Zweck der Rede und des Gezeigten sei. Grund und Ziel der Rede
zeigen sich, könnte man unverantwortlich grob sagen, eher momentweise
in spannungsreichen Konstellationen, als dass sie dargestellt oder gar
erläutert würden. Alles, was man im gewohnten Sinne darstellt
(»bezeichnet«), kann schließlich nur ein isolierter
Sachverhalt in einer bestimmten Redeweise sein. Wir werden am konkreten
Beispiel, auch an dem von Falkner klischierten »Wie wenn am Feiertage«
sehen, dass Hölderlin seine reife Kompositionstechnik hier nachvollziehbar
beschreibt.
Der Frankfurter Hölderlin bezeichnete es auch als »Beruf und
Wonne des Dichters« eine »unendliche Stufenleiter« von
Affekten »auf- und abzusteigen«11 also gerade nicht
nur das erhabene, würdige, sublime Gefühl (und die eigenen Zustände
des Dichters ohnehin nicht). Vor allem war dem geschulten Dialektiker
selbstverständlich, zu einem bestimmten Phänomen immer zugleich
das widerläufige Phänomen hinzuzudenken, zum Poetischen das
Unpoetische, sogar zur Wahrheit den Irrtum: »Nur das ist die ganze
Wahrheit, in der auch der Irrtum, weils sie im ganzen ihress Systems,
in seine Zeit und seine Stelle sezt, zur Wahrheit wird.Sie ist das Licht,
das sich selber und auch die Nacht erleuchtet. Diß ist auch die
höchste Poesie, in der auch das unpoetische, weil es zu rechter Zeit
und am rechten Orte im Ganzen des Kunstwerks gesagt ist, poetisch wird.«12
Man kann also nicht Hölderlins Konzept des »erhabenen Sprechens«
ein Denken in Widersprüchen und Kontrasten entgegensetzen13. Früh
war Hölderlin davon überzeugt, dass der Dichter auch dort, wo
er dem Schein nach einen Modus dominieren lässt, das nur mit Blick
auf eine aktuelle Darstellungsaufgabe tut, er jedoch jederzeit weiß,
»daß es am rechten Orte poetischwahre Extreme und Gegensätze
der Personen, der Ereignisse, der Gedanken, der Leidenschaften, der Bilder,
der Empfindungen giebt«14. Hölderlin exemplifizierte das mit
dem »natürlichen«, von Extremen freien Modus der temperierten
Mitte, den Homer gewählt habe, um die Individualität von Charakteren
plastisch zu veranschaulichen hier würden sich befehdende
Gegensätze Individualitätsvergegenwärtigung verhindern.
(Welche Behauptung sicher nicht zwingend und normativ ist.) Die Basis
der verschiedenen Variationen von Gegensatzmodellen, die Hölderlin
in der Sprache der auf Totalität (oder auch, in zeitgenössischer
Terminologie, auf das »Unendliche« im »Endlichen«)
gehenden Spekulation durchspielte, war jedoch keine Weltanschauung und
kein subjektiver Zustand, sondern der Bau der Periode: Sogar für
Homers Gedicht (Epos) gilt nach Hölderlin, wie in guten Gedichten
generell, dass »eine Redeperiode das ganze Werk repräsentieren
kann«15. Wie, das versucht Hölderlin dann an einer einzigen
Homer-Periode vorzuführen.
Was das Verhältnis von Gefühl und Reflexion, vor allem bei der
Konstruktion des periodischen Prozesses, angeht, so hat Hölderlin
unzweideutig gesagt: dass der Affekt durch die notwendige, abstrahierende
Reflexion im poetischen Produktionsprozess kalt gestellt, das Herzensmäßige
bloß subjettiv Begehrende ausgelöscht wird. Erst in der durch
Reflexion hergestellte poetische Sprache konnte für ihn das eigentliche,
poetische Gefühl entstehen. Auch das war ganz dialektisch gedacht:
So wie überhaupt der Mensch allererst durch ein Überschreiten
des Unmittelbaren man könnte erläutern: des lebensweltlich-Kontingenten
und der bloß subjektiven Bedürfnisse , befähigt
wird, dass er »erst eigentlich das Leben antritt, und sein Wirken
und seine Bestimmung ahndet, auf jener Stuffe, wo er auch aus einerursprünglichen
Empfindung, durch entgegengesetzte Versuche, sich zum Ton [sic], zur höchsten
reinen Form derselben Empfindung emporgerungen hat und ganz in seinem
ganzen inneren und äußeren Leben mit jenem Tone sich begriffen
sieht, auf dieser Stuffe ahndet er seine Sprache, und mit ihr die eigentliche
Vollendung für die jezige und zugleich für alle Poesie.«16
Man weiß es: Hölderlins Poetik beschäftigt die Fachgelehrten
seit Generationen und vielleicht wird man nie eine befriedigende, unverkürzte
Explikation finden. Für unsere Frage danach, was man eigentlich rezipiert,
wenn man sich an Hölderlins eigener Idee des erhabenen Sprechens
abarbeitet, genügen jedoch grobe Orientierungen. Und diese lassen
Eines erkennen: Es ist schlicht falsch zu sagen, der gereifte Hölderlin
habe in irgendeiner Weise »hoch« im Sinne von emphatisch,
pathetisch, bloß dramatisch, bloß erhaben sprechen wollen
und sogar brutal verfehlt zu sagen, Hölderlin habe etwa subjektive
Zustände oder besondere persönliche Affekte, Ideen und Sehnsüchte
verbalisieren wollen. Im Gegenteil. Seine ganze dichterische Anstrengung,
sein ganzes philosophisch inspiriertes Konzept der Erkenntniskraft poetischer
Sprache war daraufhin entworfen, das bloß Persönliche restlos
auszulöschen und so allererst zu einer »Sprache«
zu finden im Laufe des Produktionsprozesses17! Nicht nur drückte
Hölderlin in seinen Gedichten nichts Gegebenes (Erfahrungen, Wahrnehmungen,
Vorstellungen, Gefühle) aus in einer bestimmten »Form«,
er besitzt nach eigenem Bekunden nicht einmal eine eigene, genuin poetische
»Sprache«, bevor er bestimmte Materialien das heißt
mit bestimmten, von lebensweltlichen Gefühlen besetzte Floskeln,
Idiomatiken, Topi, Redeweisen durcharbeitet, aus der gewohnten
sachlogischen Abfolge von Grund und Zweck durch Konstruktion inversiver
Perioden reißt und auf einer neuen Komplexitätsstufe gleichzeitig
das bloß Subjektive und damit das gewohnte Darstellen und Fühlen
übersteigen kann. Und zum bloß Subjektiven gehörte für
Hölderlin auch alles bloß Geschmacksbedingte, die Redekonventionen
einer Zeit usf. Elemente, die wir heute unwillkürlich als »hoch«
oder pathetisch-sublim wahrgenommen werden, werden in dieser Kunstsprache
ostentativ als antiquiert (oder archaische) oder befremdende Redemuster
eingesetzt und mit komplementären Mustern im- oder explizit ins Verhältnis
gesetzt. Das kann beispielsweise bedeuten, inn ein alltagsnahes Konversationsparlando
zu verfallen, oder in das volksliedartige Nennen elementarer Gegenstände
wobei die jeweilige Art der Konstellationen noch eine ganze Zeit
lang sehr von der Gattung des Textes abhingen. In den Oden sind die Kontraste
vermutlich ungleich milder und unauffäliger als in den freien Hymnen.
Daher sind die Brüche der Neuorientierung um 1800 in der Gattung
Ode vermutlich geringere als in anderen Gattungen. Sie dürften hier
zuallererst die Art der grammatischen Fügung betreffen. Auch das
ist ein vertracktes Problemfeld, auf dem sich nur der Fachgelehrte verantwortungsvoll
bewegen kann.
Nichts, was Hölderlin skizzierte, darf man als Handlungsanleitung
nehmen, wie zu dichten sei, so, als ob er eine Philosophie entwickelte,
die er dann bebilderte. Man darf diese kryptischen Skizzen ebensowenig
als bindende Deutung einer vorgängigen Praxis verstehen auch
der Dichter selbst ist als Interpret seines Tuns ein Kind seiner Zeit
und seiner Wünsche. Doch klar ist, wie eng philosophische Erkenntnisreflexion
und poetischer Periodenbau in Hölderlins Denken von Anfang an verzahnt
waren. Wie viel Täuschung und Ungewissheiten und Zeitbedingtheiten
auch in seinen poetologischen Reflexionen liegen mag, das eine ist vom
anderen nicht trennbar ein Lesen Hölderlinscher Verse als
Ausdruck von »erhabenem« Wollen in einem unbestimmt gefühlshaften
oder stilistischen Sinne muss diese Kunst per se verfehlen.
Wir werden im zentralen Teil der vorliegenden Abhandlung sehen, was dieses
Denken von der epistemischen Kraft komplexer periodischer Strukturen her
für kanonische Texte Hölderlins aus der Reifezeit nach 1800
bedeutet also nicht für die späten Gedichte, die, zumal
wenn sie bloß fragmentarisch oder in Entwurfsform überliefert
sind, allzu viele Deutungen zulassen, als dass man sie illustrierend heranziehen
sollte. Das Gedicht »Hälfte des Lebens« bietet sich dafür
an, nicht so sehr, weil es eines der wenigen war, die Hölderlin selbst
in Druck gab und daraufhin ein lebhaftes Echo erfuhr18, sondern weil es
seiner leichten Memorierbarkeit wegen in aller Leser Kopf und Herz weiterwirkt,
unzählige Male in herausgesprengten Einzelformeln zitiert und parodiert
wurde und als Inbegriff des kunstvoll geformten und bedeutungsvollen (»unausdeutbaren«)
Ausdrückens persönlicher Erfahrungen und angeblicher Überzeugungen
gefeiert wird. Weil dem noch immer so ist, sind die poetisch entscheidenden
Ideen, allesamt solche der periodischen und idiomatischen Prozesslogik,
praktisch unbekannt und ohne Nachfolge geblieben. Von hier aus gesehen
gibt es gute Gründe dafür anzunehmen, es habe gar keine eigentlich
sprachkünstlerische »Rezeption« des reifen Dichtungsbegriffs
Hölderlins gegeben und somit auch Gründe dafür,
Gerhard Falkners Titelwort »Reparatur« nicht zuletzt als Plädoyer
für eine Wiederherstellung des urprünglichen Kunstdenkens gegen
die allzu vielen Liebhaber verstehen, die seit Hölderlins Wiederentdeckung
vor einem guten Jahrhundert Nähebeziehungen zum armen Dichter-Seher
halluzinierte, der das Höchste zu singen wagte, mit Verachtung durch
die gemeine Menge gestraft, heroisch querständig zum Zeitgeist, ringend
mit dem Verstummen. Das wiederum ist bereits ein so (Hölderlinisch
gesprochen) »maßloser« Anspruch, dass er wohl tatsächlich
nur ironisch anzuzeigen ist, um mehr als schmunzelndes Kopfschütteln
zu erregen.
II. Die satztechnische Realität des Hölderlinschen Konzeptes:
»Hälfte des Lebens«
»Hälfte des Lebens« ist ein dankbares Illustrationsobjekt,
weil es in jedem gebildeten Leserhirn abrufbar bereit liegt und die geringe
Ausdehnung restlose Überschau und Fassbarkeit des Ganzen zulässt.
Es ist allerdings ein ungünstiges Veranschauungsobjekt insofern,
als die Gegensätze und Heterogenitäten und vor allem die Umbrüche
der sprachlogischen Ausrichtung hier so fugenlos eingearbeitet sind, dass
sie nicht sofort, wie in vielen anderen Gedichten auch jener Zeit, als
Brüche und schroffe Denaturierungen sofort erkennbar sind. Das dürfte
einen Teil der Beliebtheit des Gedichtes erklären: Es ist für
arglose Leser glatt zu rezitieren und ähnelt konventionellen Gedichten
was aber umgekehrt umso bessere Gelegenheit gibt, die eigentliche
Denkart Hölderlins dabei kennenzulernen. Und dazu gehört als
erstes, nicht in Kategorien des subjektiven Ausdrucks oder der weltanschaulichen
Überzeugungen, sondern in Kontrasten verschiedener Materialfelder
zu denken.
Brüche sind allerdings bei aller zwanglosen Rezitierbarkeit nicht
übersehbar, der Bruch mit allen Kontinuitäten im Verhältnis
beider Strophen zueinander ohnedies. Die vorgefundenen Materialkomplexen,
die hier zusammenmontiert wurden, stammen von niemand anderem als Hölderlin
selbst: Produktionsinitiierend wirkte nicht irgendeine Art von Wahrnehmung,
Ausdrucksverlangen oder auch nur Aussageverlangen sondern die Durchsicht
zufällig nebeneinander stehender Notate, deren Disparatheit Hölderlin
dazu animiert haben müssen, sie in einen einzigen, kurzen Text zu
zwingen.
Dieser Impuls muss entstanden sein, als Hölderlin in seinen Homburger
Notizheften blätterte und auf Seiten stieß, die Entwürfe
zu »Wie wenn am Feiertage« zierten, nachdem zunächst
die Ausdrücke »Die Rose«, »Die Schwäne«,
»Der Hirsch« als isolierte Wortköper räumlich auf
dem Blatt verteilt worden waren19. Sodann findet sich auf dem Blatt (vermutlich)
ein Briefentwurf an die Schwester vom Dezember 1800, welchselbiger ankündigt,
er, Friedrich, werde die Feiertage (also Weihnachtstage) bei ihr und ihrer
beider Mutter zu verbringen was natürlich mit jenen Ideen
zur Feiertags-Hymne verbunden ist. Dieser Brief spricht die Schwester
mit »holde Schwester« an Hölderlin hat also das
vermeintlich so poetische Attribut einfach kopiert und lautassoziativ
aus der »Schwester« die »Schwäne« gewonnen.
Sein Produktionsverfahren ist das des handstreichartigen, materialhaften,
von jeder aktuellen Sinneswahrnehmung unabhängigen Austauschens und
Überschreibens und dieses Überschreiben und Austauschen
spielen, wie wir sehen werden, im endgültigen Gedicht eine wesentliche,
magie-zeugende Rolle! (Es mag hinein gespielt haben, dass Hölderlin
von vertrauten Personen mitunter »Holder« genannt wurde.)
Neben »holde Schwester« notiert wurde »Edles Wild!«
der Ursprung des Rosen-Attributes /wild/. Eingetragen wurde sodann
ein wiederholtes »Weh mir!«, das Hölderlin später
zum Initialelement der zweiten Strophe machte, der er aus vollständig
anderen Notaten gewann. (Zudem finden sich Entwürfe zu »An
die Deutschen« (Zweite Fassung) Verse 13-24, auf dem Notizblatt.)
Man kann auf diesem Blatt die Herkunft fast aller wesentlicher Ideen aus
einem kalten Material-Rekombinationsspiel rekonstruieren
schon die Entstehungsgeschichte zeigt, dass, was immer man in einem solchen
Gedicht als »hohes« Sprechen verstehen will, es rein gar nichts
damit zu tun hat, dass hier sich etwa ein Dichter in hohe Gestimmtheit
singen will, oder vor Ausdrucksschmerz übergeht. Das Hohe, was immer
es sein soll, kann alleine das Ergebnis der besonderen Anordnung alltäglichster
und konventioneller Materialien sein. Und Hölderlin verfuhr in diesem
Gedicht so konsequent montierend in der Zweitverwertung, dass man den
Text eine Art Proto-Montage nennen könnte allerdings eingebunden
in klassizistische Periodik. Die weitere Bearbeitung des disparaten Primärmaterials
war gerade keine Vermehrung, sondern fast durchweg eine Ausmerzung aller
stofflichen Kontinuität. Satzverläufe und Beschreibungen, in
den Anfangsstadien noch weitgehend konventionell, wurden beinahe brutal
zerbrochen, fragmentiert, das lyrisch-Ausdruckshafte einerseits ausgemerzt
und die Materialien gleichsam eingefroren während in Gegenbewegung
dazu ausdruckshafte Floskeln und lyrische Klischees bis an die Grenze
der Parodie übertrieben und gleichsam ausgestellt wurden. Der Entwurf
eines Wintergedichtes auf jenem Blatt des Homburger Folioheftes lautete:
Die Rose.
holde Schwester
Wo nehm ich, wenn es Winter ist
Die Blumen, daß ich Kränze den Himmlischen winde?
Dann wird es seyn, als wüßt ich nimmer vom Göttlichen
Denn von mir sei gewichen des Lebens Geist; (!)
Wenn ich den Himmlischen die Liebeszeichen
Die Blumen im kahlen Felde such und dich nicht finde.20
Diese frühe Fassung macht trotz mancher grammatischen Querständigkeit
etwas, das man gemeinhin der Lyrik nachsagt zu tun, eine übergreifende,
insbesondere gefühlsbesetzte Botschaft in eine schöne oder rhetorische
kunstvolle Form zu bringen. Sie macht also im Wesentlichen das, was Hölderlin
in seinen poetologischen Notizen als erstes, vorpoetisches Stadium bezeichnet,
und zu einem solchen gehört auch die glatte, rhetorische Eingangsfrage.
Das rhetorische Fragen und Gefühlsausdrücken geschieht in dieser
Frühfassung teils ungeschickt und sogar, besonders in den letzten
beiden Zeilen des zitierten Torsos, rührend banal. Hölderlin
hat also, wie er selbst sagte, noch keine »Sprache«, wenn
er begann zu dichten, um irgendetwas vorab Gewusstes auszudrücken
wiewohl diese Frühfassung keine allererste, sondern nur eine
sehr unfertige ist. Der Arbeitsprozess war vielmehr ein stückweises
Entdecken einer »Sprache«, und diese hatte etwas mit spannungsvollen
Kostellationen zu tun, in denen »Grund« und Ziel nicht mehr,
wie im Alltag, voran festliegen.
In diesem frühen Stadium mag ein Snytagma wie »Dann wird es
seyn, als wüßt ich nimmer
« tatsächlich
noch eckig unbeholfen gewesen sein; in einem ausgearbeiteten Text würde
eine solche Phrase nur noch auftreten können, wenn es um eine ganz
bewusste, punktuelle Brechungen ginge oder/und um den Schein von Unbeholfenheit
und man beachte, eine wie komplizierte Konditionalform mit vertrackten
theologischen Motiven Hölderlin schon in dieser frühen Fassung
benutzt. Dass Gott bzw. Jesus bzw. der heilige das [wahre, eigentliche]
Leben sei, ist ein biblisches Motiv, doch Hölderlin macht daraus
ein dialektisches Paradox: Weil hier des Lebens Geist gewichen sei, sei
das Wissen vom Göttlichen verloren das klingt einerseits,
als wäre es eine Inversion des biblischen Motivs und diese vitalistischen
Inversionen waren Hölderlin (früh ein Leser des Vitalisten Heinse)
nicht fremd. (Tatsächlich scheinen mehrere Motive der nachfolgenden
Zeilen aus dieser Inversion abgeleitet zu werden.) Doch des Lebens
Geist könnte ja auch eine Metapher sein, eine Art stoffliche
Vitalkraft im Bios selbst meinend und nicht nur eine immaterielle,
beseelende intellektuelle Kraft.
Als Hölderlin von diesem Entwurf ausgehend zu seiner eigentlichen
dichteren Arbeit (»Reflexion«) schritt, zertrümmerte
er die organische Versgestalten, schlug rücksichtslos den Sinn des
Blumenfindens, das rituelle Kränzewinden, heraus, merzte die szenische
Anschaulichkeit und erzählende Stoffausbreitung aus, bis nur noch
ein dürres Gerippe der Handlungssequenz bzw. szenerie übrig
blieb. Die religiöse Anbetungssituation radierte er ebenfalls aus,
doch übertrug er sie auf die Schwäne der ersten Strophe: Das
Heilige verkroch sich gleichsam in die Komponente heilignüchternes.
Hölderlin strebte dabei in der Endfassung eine neue Ökonomie
an: Hier ist »heilignüchtern« das einzige Kompositaattribut,
partizipial und gewählt und damit als einziges Wort des Gedichtes
sofort nach Hohen Stil klingend. Als solches wirkt es wie ein Fremdkörper,
wenn nicht sogar wie ein Zitat aus einstiger, feierlicher Rede, denn die
Paarung /heilig/ und /nüchtern/ ist aus alter lateinischer Hymnik
bekannt21. (Die Verbindung mit dem Wasser hat im Deutschen einen eigentümlichen
Klang, denn »nüchtern« meint ja auch, nichts gegessen
oder getrunken zu haben, sowohl in profanen wie in religiösen Kontexten.)
Als ein solcher Fremdkörper jedoch hat es Anteil daran, die Anrede
an die Schwäne wie ein gleichsam gottloses Ritual erscheinen zu lassen.
Hölderlin forcierte später die in dieser frühen Fassung
eigentlich bereits mechanisch erzwungenen Alliterationen und Assonanzen
in »Wo nehm ich, wenn es Winter ist«, bis sie in pure Mechanik
umkippen durch die abgegriffene Floskel »Weh mir«,
eine eigentümlich Korrespondenz zur Erstarrung des Atmosphäre.
Durch die Zertrümmerung des Satzflusses, einem Grundmerkmal des Hohen
Stils in der Klopstock-Tradition, erreichte er etwas Entscheidendes und
das wiederum durch einen raffinierten Einsatz der ausgesparten Verbergänzung:
In der Endfassung wird das Suchen fundamental, weil hier die gesamte Orientierung
in Raum und Zeit verloren ist und Agenten zugleich Objekte, Objekte Erleidende
sind. In der Endfassung ist die dargestellte Welt so ausgedünnt,
dass man nicht nur ergänzen kann: »Weh mir, wo nehm ich
die Blumen her«, sondern ebenso »wo nehm ich die Blumen weg«,
wem raube ich die Blumen. Darüberhinaus gewinnt erst in der letzten
Fassung das »ist« einen eigentümlichen Klang: Die Desorientierung
ist so groß, dass es womöglich schon jetzt Winter ist
nur wäre das eben nicht (sicher) erkennbar. Das »ist«
fällt umso mehr auf, als die mechanistische Alliterationsbildung
fast automatisch »Weh mir, wo nehm ich, wenn es Winter (sein) wird«,
sagen lässt.
Der archaisierend theatralische Ausruf »Weh mir« bringt einen
radikalen Tpnwechsel gegenüber der ersten Strophe, deren Zeilen mit
einer Ausnahmen mit unauffälligsten Einsilbern einsetzen. Die beiden
harschen »Zeilen-Brüche« zwischen Vers 8 und 9 und 9
und 10 gehen mitten durch Phraseneinheiten hindurch; auch das kontrastiert
stark mit Strophe 1, in der Zeilenenden mit melodischen Zäsuren zusammenfallen.
Auch in den Anfangszeilen der zweiten Strophe wurde, eigentlich unübersehbar,
gleich im ersten Satz eine entscheidende Leerstelle einkomponiert: Es
fehlt die Verbergänzung zu »wo nehm ich«. Es lässt
sich ergänzen zu »nehm ich weg« oder »nehm mich
her« die Blumen, den Sonnenschein und den Schatten! Verwandelt
taucht der Gegensatz des Erdgebunden-Statischen (Land, See) und des nach
oben Ragenden, Beweglichen (Baum, Schwanenhälse) wieder auf als Gegensatz
der Erde und der stehenden Mauern zu den im Wind klirrenden Fahnen. Er
setzt sich versteckt im Verb »stehn« fort: /stehen/ im Zusammenhang
mit Mauern zu verwenden, ist höchst eigenartig und auffällig,
es gibt ja nur Sinn, wenn man unterstellt, die Mauern könnten auch
gehen (oder liegen) was wiederum ähnlich wie »stehn«
klänge und daher auch einen Binnenreim mit »nehm«
bilden würde! Unterschwellig wird gerade das Objekt, das prototypisch
für leblose Erstarrung steht, die Mauer, schon mit diesem Verb proto-personifiziert
und die Personifizierung wird dann noch ein Stück weit deutlicher,
wenn das Adjektiv »sprachlos« folgt: Wenn etwas »sprachlos«
genannt wird, muss die Frage vorher gestellt worden sein, ob es ein sprachfähiges
Objekt ist. Diese zweifache Proto-Personifizierung wird schon im nächsten
Augenblick wieder verwischt, denn »kalt« kann eine einfache,
fühlbare Objekteigenschaft sein, wenngleich man sie nur aussprechen
würde, wenn die Erwartung oder der Wunsch, dass sie warm seien, zumindest
unbewusst virulent gewesen ist. Die flüchtige Personifizierung der
Mauern erweht dennoch denn vom Ende her rückschauend glaubt
man, »Sprachlos und kalt« bezöge sich (primär) auf
die klirrenden Fahnen, während die Mauern scheinbar unverdächtig
tote Dinge seien und »stehen«, so wie ein Besen im Schrank
»steht«, oder vielleicht so, wie die Zeit »steht«!
Dabei geht der ganze Reiz der Stelle daraus hervor, dass »Sprachlos
und kalt« ein wanderndes, amphibisches Glied ist, die Eigenschaften
der Dinge sich gleichsam verselbständigt haben, selbst zu Gegenständen
geworden sein scheinen, und sich nur transitorisch mt den Dingen verbinden.
Diesem letzten Gedichtsatz zugrunde liegt natürlich eine weitere
Erscheinungsform des für das Gedicht grundlegenden Gegensatzes von
erdgebundener Statik und in die Höhe weisender Mobilität
und zwischen beiden Glieder vermittelt, sich an keines und doch an beide
vorübergehend bindende Glied »Sprachlos und kalt«.
Hölderlin bricht zwar mit dem ersten Enjambement der zweiten Strophe
eine Phrase brutal entzwei allerdings: Auch in freier Rede legen
wir mitunter einen Halt und einen besonderen Akzent auf das Wort /wenn/,
um die Möglichkeit vor Augen zu führen, dass die nachfolgend
genannte Bedingung durchaus auch nicht eintreten kann. Insofern konvergiert
die schroffe Denaturierung des Satzflusses mit einer Renaturierung im
Rhetorischen. Und die Bedingung, die als womöglich nicht gegebene
auf diese Weise herausgestellt wird, das ist »wenn/ Es Winter ist«:
Hölderlin verschiebt ,wie er es öfters tut, das unpersönliche
Fürwort an den Zeilenkopf, um es mit (schwebendem) Akzent zu versehen
und wie ein Gegenstandswort erscheinen zu lassen. Es entsteht (wie häufig
an Versköpfen Hölderlinscher Gedichte) ein schattenhaftes Objekt
»Das Es«, und wenn dieses Objekt, das kein wirkliches, nachweisbares
Objekt oder Phänomen ist, (wieder oder zum ersten Mal) Winter ist,
dann ist die Bedingung erfüllt.
In jeder Hinsicht ist der Text das Ergebnis virtuoser Ingenieurskunst,
kristallklar in den Funktionen und Strukturen und das dezidierte, manipulierende
Zweitverwerten von Retorten und Lyrik-Gemeinplätzen ist ein wesentliches
Teilmoment dieser ingenieurshaften Bearbeitung des Materials. Irgendwann
muss ihm beim Spinnen von Beziehungsnetzen aufgegangen sein, dass »hold«
wie eine Kombination aus »voll«, »gelb« und »wild«
wirkt das war eine der Entdeckungen, die das abgegriffene Kitschwort
der Allerweltspoesie wieder möglich machten, das heißt: Alle
banale lebensweltliche Gefühlsbesetzung abgestreift hatte und ganz
rein in untergründig verwobenenen, ganz abstrakten und kalt arrangierten
Gegenstandskonstellationen wiederkehrte. Ohne diese poetischen Strukturgedanken
könnte oder müsste man das Wort wohl flapsig kommentieren, wie
es ein »Reparatur« Gedicht Falkners es ver-arbeitet
schnoddernd und negierend Verse aus dem Beginn von »Brod und Wein«
tut: »Hoffnung geht gar nicht. Hold geht auch nicht./ Gütig
erst recht nicht. Edel? Völlig ausgeschlossen./ Edel sind Pralinen
oder Seidenstrümpfe.« (HR 45) Nicht nur, weil sie so schnoddrig
hingeschrieben sind, wollen diese Geht-Nicht-Dekrete wohl kaum wörtlich
verstanden werden und auch nicht nur, weil es vielleicht eine Pointe
der Fügungen ist, dass sie m selben Moment ja tun, was sie für
unmöglich erklären, z.B. das Wort »hold« im Gedicht
verwenden. Es ist ein biederer Gemeinplatz zu glauben, Dichtung heute
könne manche Ausdrucksformen, insbesondere solche der Gefühlsbekundung
oder Schönheitsbeteuerung, nicht mehr verwenden, ohne sich lächerlich
zu machen ein solcher Gemeinplatz unterscheidet nicht zwischen
der alltäglichen Gefühlsbesetzung eines verwendeten Wortes und
der Funktion innerhalb eines Textes Hölderlins Satz-Kunst
veranschaulicht exemplarisch die Differenz: Als Ausdruck gegebener Gefühle
fungierte »hold« lediglich in Hölderlins Privatäußerungen,
in »Hälfte des Lebens« kommt ihm kraft Komposition eine
gänzlich andere Funktion zu. Hölderlin holte den Ausdruck in
den Text, indem er einfach lautassoziierend die Briefanrede des Entwurfsblattes
»holde Schwester« neu, diesmal mit den Schwänen verknüpfte
und im Laufe der Komposition immer mehr Möglichkeiten entdeckt
haben muss, »hold« nicht nur im Sinne von anmutig oder gehuldigt
zu verwenden, sondern auch in der seinerseits zweifachen Bedeutung »geneigt
sein«. (Wir kennen diese Bedeutung noch von Worten wie /Halde/ und
/Huld/ her.) Und geneigt sind nicht nur Birnenäste und das Land,
sondern natürlich auch die Schwanenhälse, die Schwäne sich
gegenseitig und womöglich auch dem Redenden, wenn sie diesen denn
wahrnehmen würden.
Derlei für die poetische Idee des Gebildes entscheidenden, untergründigen
Korrespondenzen werden dem Leser, wenn überhaupt, dann spät
aufgehen. Anfangs wird sich der Leser an Offensichtlicheres halten, Strategien
der Materialverteilung insbesondere. Da wären zunächst die zentralen
Nomina, die, als wäre hier ein einfältiges Gemüt am Werk,
je ein Epitheton zugeordnet bekommen und damit etwas tun, was einem kunstbewussten
Dichter der Inbegriff von Einfallslosigkeit und schlechtem Lyrismus wäre:
gelben Birnen wilde Rosen holden Schwäne trunken
von Küssen heilignüchterne Wasser. Nach den ersten beiden
Elementarbausteine folgen wie in einem Volkslied die Minimalobjekte im
bestimmten Singular »das Land den See«. Die Grundstruktur
widerspricht allem, was man gemeinhin unter »Erhabenes Sprechen«
versteht, diametral. Man weiß zunächst nicht: ist es Unvermögen,
Phantasielosigkeit oder eine frappierend kalte Abstraktheit
des Materialverteilungskalküls, das hier solche Stereotypie erzeugt.
Dass hier raffiniertes Kalkül am Werk ist, wird dem Leser vielleicht
dämmern, wenn er auf das »heilignüchterne Wasser«
trifft, und es also mit dem vierten Gebilde zu tun hätte, das aus
einem zweisilbigen Adjektiv und einem zweisilbigen Nomen besteht, wenn
nicht »heilig« kurzerhand voran gesetzt worden wäre.
(Es wirkt, als hätte hier jemand /heilig/ und /nüchtern/ ausgetestet
und sich dann nicht entscheiden können, daher einfach beide zum einzigen
Kompositum des Textes verbunden.) Es dürfte schnell klar werden,
dass es sich um einen kalkulierten Bruch mit einer Reihe stereotyper Lyrik-Minimalien
handelt. Durch den Kontrast tritt das weite Schwingen des einzigen Kompositums
und weitaus längsten Wortes in der Mitte des Gedichte plastisch hervor
und umso schärfer wird der Kontrast empfunden, wenn die nachfolgende
Anfangszeile der Zweiten Strophe aus nichts als Einsilbern besteht
wie ja auch eine Zeile, die lediglich aus Einsilbern besteht, vorher geht.
(»Tunkt ihr das Haupt« korrespondiert klangrhythmisch
»das Land in den See«.)
Noch eigentümlicher wird es, wenn der Leser an den Gedichtschluss
gelangt, und hier mit »Klirren die Fahnen« einem Ausdruck
begegnet, der nahezu gleich wie »klirrende Fahnen« klingt,
als ob hier am Schluss das letzte Element dieser sterotypen Adj+NOM-Gruppen
noch manipuliert worden wäre. (Gleichzeitig ist er eine kontrastierende
Variante von »Schatten der Erde«, der Schlussphrase des erstens
von zwei Sätzen der zweiten Strophe.) Erst wenn man diesen Ausdruck
innerhalb der zweimal-zweisilbigen Adj+NOM-Gruppen liest, kann man die
wunderbare Wirkung dieser einen, wie eingeschoben wirkenden, zusätzlichen
Silbe »die« empfinden und zugleich erkennen, dass in
den klirrenden Fahnen zwei vertikal verteilte Nomina-Reihen zusammenfließen,
die das Gerüst des Textes bilden: Die Reihe der mit bestimmtem Artikel
genannten Singularnomen, und die Reihe der Pluralnomen, die eine eigene
Zwischenbetrachtung verdienen.
Es scheint ein arithmetischer Verteilungsplan dem Gedicht zugrunde zu
liegen, um von diesem ausgehend eine ungemeine, plastische Vielfalt der
Formen zu gewinnen: Den beiden zweisilbigen Adj+NOM-Gruppen gelben Birnen
wilden Rosen kontrastieren die beiden einsilbigen Das Land, Der
See. Aus dieser Beobachtung mag dem ersten, schweifenden Blick auch beispielsweise
der Einsatz des Gegensatzes von Singular und Plural auffallen, der hier
mit exponiert wurde: Das Land, Der See (bzw. Wasser), Das Haupt, Der Sonnenschein
einerseits, Birnen, Rosen, Küsse, Schwäne, Blumen, Fahnen dagegen
im Plural. Letztere gehören alle in den Bereich des Kleinteiligen,
Beweglichen, eher Vertikalen, nach oben Weisenden, während der See
und das Land schwere, abgeschlossene, nach unten ziehende (bzw. drückende)
Massen sind, der Sonnenschein dagegen flüchtig aber stabil ist, unteilbar
(er kann nur verdeckt werden) und von oben nach unten weist. Insofern
verknüpft er vershciedenen Typen von Gegenständen. Das Haupt
allerdings, so lehrt eine solche erste, willkürlich selektive Beobachtung,
nimmt eine Sonderstellung ein: Schon dem Wort nach weist es nach oben,
begrenzt den Körper zur Höhe hin, und in sich ist es gegliedert,
der Hals der Schwäne ist ohnedies beweglich und die Körper der
Schwäne sind partiell vom Wasser verdeckt. (Darin gleichen sie dem
Land.) Sie sind also die Gegenstände, die verschiedene, ansonsten
auf getrennte Körper aufgeteilte Eigenschaften in sich vereinen und
die Schwäne sind auch in anderer Hinsicht von paradoxer Gleichzeitigkeit:
Die Schwäne sind mehrere (es steht nirgends, dass es zwei sind, es
sind jedoch in jedem Falle mehrere), doch sie tunken das Haupt im Singular
ins Wasser, als ob sie ein einziges Haupt gemeinsam besäßen.
Sie sind mehrere Körper und doch eins, zumindest im Haupt, das auch
das Haupt im Sinne des Hauptsächlichen und des Sich-Orientierens
ist. Es ist, als wäre dieses Haupt ein körperlich Vielfaches
und im Unkörperlichen eins.
So mag sich eine erste Ahnung einstellen, dass Hölderlin ingenieursmäßig
auf mehreren Ebenen durchorganisiert und dabei an sich ganz gewöhnliche
und oft sogar triviale Mittel auf einer neuen Komplexitätsstufe des
Denkens geradezu noch einmal schöpft. Etwa den Singular dazu zu verwenden,
um damit gleichzeitig den Inbegriff von etwa und das sinnliche Gegebensein
zu benennen, einem Kniff aus dem Repertoire des ambitionierten Laiendichters.
Die Rhetorik des singularisch Nennens im Zusammenhang mit Elementargegenständen
zu verwenden, ist ein Mittel der Volkskunst: Solche Fügungen erzeugen
automatisch eine Aura der Reinheit, Unschuld des bloßen Benennens
von Selbstverständlichkeiten, wie sie dem Klischee nach im Volkslied
oder auch in Eichendorffs Liedern wirkt. Daher wirkt die erste Strophe
von Hölderlins Hälfte des Lebens-Gedicht, als zeige jemand einfach
auf jenes Stückchen Land dort drüben, das an einem
See liegt so wie der Anfang der zweiten Strophe wirkt, als schreie
hier ein Dichterherz direkt auf. (Das Da-Zeigen auf die Außenwelt
kontrastiert mit dem vermeintlichen Ausdrücken innerer Zustände
in der zweiten Strophe.) Und gleichzeitig empfindet man, dass es ein jedes
Land, ein See, Schwäne wo und wann auch immer sein könnten,
oder gar die Idee (oder das anschauliche Symbol) von Land und See schlechthin.
Diese Doppelempfindung im Gewand der Reinheit ist es, deretwegen solche
elementaren Singulare in der klassischen Dichtung Goethes eine große
Bedeutung einnahmen und die jungen Romantiker sie mit Blick auf die populären
Lieder so gerne verwendeten. Auch in dieser Hinsicht konstruiert Hölderlin
einen artistischen Gegensatz, denn diese Reinheit und Elementarität
des Benennens kombiniert er mit einer überaus raffinierten, dem Hohen
Sprechen entlehnten periodischen Konstruktion in den Anfangszeilen des
Gedichtes, wie wir sehen werden. Man kann größere Gegensätze
nicht in dichterer, reicherer und dabei klassizistisch eleganter Weise
konstruieren als es Hölderlin in dieser Anfangsstrophe tut.
Auffallen wenn nicht sogar verwirren mag den Leser, der bloßen Wohllaut
der lyrischen Empfinden und hohe Gefühle erwartet, dass
hier lyrische Klischees mehrfach nackt ausgestellt und lyrische Mittel
gleichzeitig seltsam verquer, andernorts ebenso seltsam in karikaturhafter
Überfüllung verwendet werden: »und trunken von Küssen/
Tunkt ihr das Haupt« klingt, für sich betrachtet, wie eine
scherzhafte oder unfreiwillig komische Assonanzübung oder Abzählreim
und nicht viel anders steht es mit »Weh mir, wo nehm ich,
wenn es Winter ist«. Und Hölderlin hat (auch das wird unten
noch zu zeigen sein) in beiden Fällen laue Vorfassungen, die bereits
prekär kunstgewerblich klangen, gerade nicht veredelt und entmechanisiert
(wie in vielen anderen Fällen), vielmehr die mechanische Assonantik
radikal verstärkt und bis zur Karikatur hin übertrieben. Er
erzeugte so einen der Rede-Modi unter mehreren disparaten, die allererst
in ihrem Gegeneinander Dichtung im emphatischen Sinn des Wortes werden
können dann, wenn, wie der oben zitierte Frankfurter Aphorismus
formulierte, jedes seinen Ort im Ganzen gefunden hat.
Das Entscheidende bei der Realisierung der komplexen Gedankenführung
jedoch ist in einem solchen artistischen Gebilde in vielerlei Hinsicht
so offen gelegt, dass es immer übersehen wird. Die poetische Magie
wird ganz wesentlich durch verdeckte Leerstellen (bzw. Variablen) in der
Satz- und Gedankenführung erzeugt: Wir projizieren in die ersten
Verse von hinten her gesehen das Land als Subjekt des Satzes und als Trägersubstanz
der Birnen hinzu diese Rückprojektion geschieht unwillkürlich
und ist vom Dichter natürlich intendiert. Diese spontane Rückprojektion
nämlich verbirgt das Entscheidende, Magie-erzeugende und das wiederum
hat mit Hölderlins besonderer Weise zu tun, die oben erwähnte
Periodenführung Klopstocks von einer spekulativen Ganzheitsphilosophie
her neu zu denken und über den traditionellen Rahmen der Rhetorik
hinauszutragen inspiriert von der Philosophie eines sich dialektisch
realisierenden Ganzen, des »Geistes« (der Vereinigung des
Endlichen mit dem unendlichen etc.). In den ersten beiden Zeilen wird
nicht gesagt, was denn mit Birnen voll hänget falls es nicht
nach unten hänget. Dass es beginnend mit Vers 3 das Land sein soll,
was mit Birnen voll hängt, ist durchaus überraschend, wird jedoch
so selbstverständlich vorgetragen, dass es den Leser gar nicht überrascht
und keinem Interpreten ging auf, dass das, was wir der Idiomatik
und Sachverknüpfung wegen zwingend als Subjekt und Träger erwarten,
bewusst ausgespart wurde, nämlich der Ast oder/und der Baum. Dieses
Nicht-Aussprechen hinwiederum ist eine zentrale poetische Idee des Gedichtes,
denn nur, weil der Ast/Baum unausgeprochen mit gedacht wird, kann der
Leser dann eigentümliche magische Korrespondenz verspüren: So
wie der Ast mit Birnen voll hängt, so ist das (sic) Haupt der Schwäne
erfüllt von Küssen und es wird nicht gesagt, vom Küssen,
also von einem Tun, sondern von den Küssen, als wären diese
Küsse in sich abgeschlossene Gegenstände wie die Birnen. Während
der Leser zum Vers 3 übergeht, überträgt er ganz buchstäblich
das Hängen als Eigenschaften der Birnbäume auf das Land
er realisiert Leseschritt für Leseschritt die Metapher! Metapher
bedeutet hier nicht, etwas uneigentlich zu prädizieren, sondern unbewusst
im Lesen etwas zu etwas anderem zu tragen und diese Prozessualität
hat sehr viel mit dem Gefühl von Durchlässigwerden der Objekt-
und Sprachgrenzen und dem Korrespondieren aller Dinge und Worte mit allen
anderen zu tun.
Wenn man von objektartigen Dingen namens »Küsse« trunken
wird, handeln nicht mehr zwei willentlich geleitete Wesen, es scheint
eher, als würden diese Küsse wie von außen her diese Wesen
lenken. Und tatsächlich ist es Schwänen ja eigentlich unmöglich
zu küssen, denn das Entscheidende Organ, die Lippen sind nicht vorhanden
sie schnäbeln daher auch eher. Vom Küssen zu reden, ist
hier auch eine von außen herangetragene Beschreibung (ähnlich
wie die Küsse von außen hereinbrechende Dinge zu sein scheinen).
Sie gleitet eigentlich ebenfalls unmerklich von Beschreibung zur Halluzination,
ähnlich wie das Hängen der Birnen(äste) in den See scheint
es eher eine Verlängerung der Absichten oder Strebekräfte in
ein Wunschbild, eine Traumvision oder in die Zukunft zu sein. Im Falle
der Schwäne scheint es zudem, als würde man sich gleichsam in
die Binnenperspektive der Tiere begeben und deren Wunsch nach weicher
Lippenzärtlichkeit Realität werden zu lassen eines Wunsches,
der, wie sich versteht, unerfüllt bleiben muss, solange die hartschnäbeligen
Schwäne nicht ihr körperlichen Sein verwandeln.
Während die Tätigkeit des Küssens nur von den Wesen selbst
stammen kann (allenfalls psychisch wie von außen gelenkt wirkt),
können objekthafte Küsse von außen eintreten und
damit auch die Küsse anderer sein, also etwa von uns (und unseren
Gedanken) selbst. Diese unterschwellige Aufspaltung von Objekt- und Bewusstseinsgrenzen
gehört sehr wesentlich zur magischen Wirkung des Gedichtes: Hölderlin
hat durch diese virtuose satztechnische Maßnahme alles ins Implizite
und Ungesagte geholt, was die früheren Fassungen noch explizit an
religiösen Kulthandlungen einem angebeteten Wesen gegenüber
formuliert hatten!
Die unterschwellig spürbaren Korrespondenzen und Entgrenzungen aller
Worte, Gedanken und Phänomene hat, wie sich versteht, viel mit Hölderlins
Utopie des in der Dichtung erfahrbaren Ganzen zu tun und ebenso die Invertierbarkeit
von Agenten (bzw. Ursache) und Wirkung oder Erleidendem. Im Falle der
schnäbelnd-küssenden Schwäne ist die unterschwellige Korrespondenz
verknüpft mit einer außerordentlich hellhörigen Transformation
alltäglicher Metaphorik: In der Umgangssprache ist »Schnäbeln«
eine Art liebevoll umspielendes Kosewort des Küssens (mit Mündern).
Insofern kann das eine für das andere, das andere für das eine
stehen.
Die im Untergrund spürbare Korrespondenz von Birnenästen und
Schwanenhälsen wird durch die Zweiwertigkeit der unterbrochenen idiomatischen
Fügung verstärkt, schließlich heißt, dass das unausgesprochene
»x« voll mit gelben Birnen hängt, zweierlei: Am Ast/Baum
hängen viele Birnen und die Früchte selbst hängen dabei
natürlich auch, der Schwerkraft gehorchend, nach unten. Es heißt
zugleich, dass der mit Birnen vollhängende Ast in etwas anderes hängt
(oder zu hängen scheint). Nur weil dem so ist, kann das Mit-Birnen-Hängen
ja unbewusst auf das Land übertragen werden: Das Land hängt
jetzt ebenso wie der Ast in den See.
Im ersten Fall würde unsere Idiomatik die Verbergänzung /voll/
erfordern diese erscheint im Gedicht auch, jedoch nicht den Birnen
zugeordnet, sondern den Rosen, also nicht mehr dem Baum, sondern dem Land.
Das ist die nächste Ebene des unbewusst wirkenden Wanderns von Attributen
und Worten im Gedicht. Und es ist das nächste, zerbröselte Lyrik-Kitsch-Klischee:
Dass etwas »voller Rosen« ist, davon singen vermutlich noch
heute die Schlagerstars. Aber: Hölderlins Kunst der periodischen
Prozessgestaltungen bewirkt, dass dieses sozusagen an falscher
Stelle auftauchende /voll/ auch auf die Birnen rückübertragen
wird. Das Aktivieren des Unbewussten macht sich bemerkbar durch die Zerstörung
des Redeflusses: »Mit gelben Birnen hänget und« wäre
noch relativ auffällig; es könnte eine Aufzählung folgen.
Doch just im Wort »voll« ist der Redefluss zerstört,
das Sageziel verliert sich: das »und« könnte Teil einer
Aufzählung sein »mit gelben Birnen hänget und frohlocket
das Gezweig«. Das »voll« hingegen nicht mehr. Hier klingt
es, als würde jemand zerstreut sich mitten in einem begonnenen Satz
selbst unterbrechen und hastig etwas nachtragen, hätte jedoch den
Redegegenstand verloren. Wie ausversehen muss sich hier der eigentliche
Gegenstand, der Birnbaum, im Unbewussten des Redenden vertauscht haben!
»Mit gelben Birnen hänget und voll« ist ein Unsatz, man
hätte Mühe, überhaupt noch eine korrekte Fortsetzung hinzuzuerfinden,
sagen wir »Mit gelben Birnen hänget und voll der Farben raget«.
Diese Brüche im Manifesten sind charakteristische Strategien des
Hohen Stils (sic!) insbesondere Klopstocks, um die alltäglichen Objektdarstellungsweisen
zu transzendieren und mehrere Ebenen gleichzeitig fühlbar zu machen.
Wenn wir in der Fügung »voll« zur ersten Phrase »mit
gelben Birnen hänget« hinzudenken (also »Hänget
mit gelben Birnen voll«), kann das Syntagma kaum noch ein In-Etwas-anderes-hängen
meinen; das manifest da stehende Verb selbst ist eine Art Wort-Körper,
der lebendig wird, indem der Leser die Verbergänzung hinzudenkt
was implizit wohl immer der Fall ist , oder sich diese automatische
Vervollständigung gerade verbittet.
Dass das Land in den See »hängt«, ist seinerseits ein
Paradox, und auch dieses Paradox ist ein Faktor, der unterschwellige Korrespondenzen
stiftet und subkutane Figuren des Gedichtes variiert: Den See gibt es
ja nur, weil sich das Land dem Wasser entgegenstellt also statisch
und massiv bleibt wie später im Gedicht die stehenden Mauern. Gleichzeitig
ist das Land natürlich auch voll mit Wasser im Sinne von gefüllt
(bzw. angefüllt). In anderer Weise gefüllt sind die Birnen,
erfüllt mit Fruchtbarkeit, so sehr, dass der Ast in etwas anderes
hängt (oder zu hängen scheint). Erfülltsein mit Fruchtbarkeit
ist auch bei den Schwänen die Ursache dafür, dass sie ihre langen
Hälse vereinen, und wie Äste herniederbeugen und in etwas anderen
reichen (trunken von Küssen, als wollten durch das Niederbeugen ins
Wasser neue Vereinigungslust ainsaugen). Ihr Haupt müsste von diesem
lusttrunkenen Herniederbeugen halb oder ganz vom Wasser verdeckt werden
sonst würde sie nicht das Haupt, vielmehr nur die Schnäbel
ins Wasser tunken. Das ist eine analoge Konfiguration zum Land, das vom
See partiell verdeckt verschluckt) wird, und auf diesem Land hinwiederum
stehen (in unserem geläufigen Objektschema) die Birnbäume, welche
dann (vielleicht) wieder ins Wasser zu reichen scheinen.
Um solche Phänomene des lebendig bewegten, weil unterschwellig verknüpften
Scheins, der sich im Rede-Prozess aufbaut, geht es offenbar, das macht
schon die Objektzuordnung evident: Selbst wenn man sich hier Frühbirnen
als Früchte in der Landschaftsszenerie denkt, fiele die Reifezeit
nicht in die Zeit sich paarender Schwäne, nur in Zeit blühender
Buschrosen. Ob man die Verknüpfung von Rosen und Birnen als Folge
eines Gedankens an »Rosenbirnen« sehen will, bleibe jedem
selbst überlassen, ebenso die eigentümliche Farbchoreographie,
vom Gelb über das Rote der Rosen (das allerdings auch ein Weiß
oder sogar Schwarz sein kann) hinab ins Dunkle des Sees, das konterkariert
wird vom Weiß (?) der Schwäne, das wiederum am Schnabel mit
orangenen Flecken besetzt ist.
Würde man nach diesen ohnehin nur andeutenden Bemerkungen zur ersten
Strophe die zweite Strophe und hernach das Gesamtgebilde anschauen, würde
die Komplexität sprunghaft steigen vor allem auch die Komplexität
unseres Bildes davon, auf wie vielen Ebenen Hölderlin kalt und hart
montierend vorging. Er ließ absichtlich den Eindruck bestehen, die
zweite Strophe entstammte einem anderen Gedicht von anderer Bauart und
Rhetorik was der Materialherkunft nach ja tatsächlich der
Fall ist.
B. Karikaturen, Klischees des Lyrischen, Poetik der Brüche
Zusammengefasst: Hölderlins reife (um die Jahrhundertwende sich
herausbildende) Schreibart geht vor allem darauf, heterogene Materialien
zu verschränken, den Redefluss zu zertrümmern, um mehrdimensionale
Verläufe und unterschwellige Verknüpfungen zu schaffen, an der
Oberfläche jedoch auch und gerade, lyrische Klischees aufzurufen
und zu zerbrechen oder diese Klischees umgekehrt gleichsam zu überschminken,
karikierend zu übertreiben und auszustellen. Schon der Übergang
zur zweiten Zeile »Und voll mit wilden Rosen« holpert wie
verwirrt, als sei ein Sageziel verloren gegangen was es ja tatsächlich
auch ist, denn hier ist man unterwegs in der Übertragung von Birnbaum
zum Land. Die Doppelung des »mit« wirkt geradezu ungeschickt,
ist idiomatisch querständig und hängt sozusagen einen Moment
lang in der Luft, da man sie zunächst auf den unausgesprochen mitgedachten
Birnbaum beziehen will, was prosodisch und sachlich unmöglich ist.
Alle wesentlichen Attribute sind für sich genommen von frappierender
Banalität und lyrischer Stereotypie: Natürlich sind die Birnen
gelb, die Rosen »wild«, natürlich küssen sich die
Schwäne und tauchen ihre Köpfe ins Wasser. In der zweiten Strophe
ändert sich die Versbauart wie auch die hinzudenkbaren Szenerien,
doch die Retortenhaftigkeit der Materialien bleibt: Natürlich wird
einem Weh zumute, weil im Winter keine Blume mehr blüht, natürlich
klirrt es in der Kälte etc. Das alles findet man dem Material und
den naiven Gefühlen nach auch in populärer Lyrik also
jene Textgattung, gegen die er radikal seinen eigenen Begriff der periodisch
und dialektisch zu organisierenden poetischen Erkenntnis stellte.
Hölderlin stereotypisiert nicht nur die Rede- und Bausteine, ein
Teil des Produktionsprozesses war die Suche nach Weisen, gegenständliche
Attribute ostentativ zu stereotypisieren um dann das Inkommensurable
in anderer Hinsicht umso fühlbarer zu machen. Von Küssen trunken
zu sein, war schon damals ein Klischee von Lyrismus. (Laut Grimmschem
Wörterbuch war es seit Mitte des 18. Jahrhunderts geläufig,
»von da an gehört das wort in dieser bedeutung der gehobenen,
besonders der poetischen sprache, anderseits aber auch der verwaltungssprache
an,«). Das Schnäbeln oder Balzen von Vögeln als Küssen
zu bezeichnen, war ein denkbar ausgeleiertes, sentimentales Klischee
ebenso wie das Verwenden der schnäbelnden/küssenden Vögel
als Gleichnis menschlicher Zärtlichkeiten. Trunken von Küssen
zu sein, wirkt heute mindestens so wie vor 200 Jahren als Allerweltsfloskel
des populären Dichtens22 wiewohl die rechtens »Gemeinplatz«
zu nennende Vorstellung eine edle Vorgeschichte ihr eigenen nennen darf,
die bis mindestens in die griechische Antike zurückreicht. Beim seinerzeit
populären Hölty finden sich mehrere Varianten des Gemeinplatzes,
darunter auch die Form »rauschen von küssen« am Ende
eines Kurzverses23. Und bekannt war es auch und gerade dem Laien, denn
das Hohe Lied der Bibel setzt mit diesem Topos ein24. In einer populären
Aufklärungsschrift des mittleren 18. Jahrhunderts wird denn auch
handfest gedichtet: »Nein, der Jugend zu genißen,/ Untersagt
der Himmel nicht;/ Mein Beruf ist trunken küssen, / Und die Freude
meine Pflicht./«25
Gemeinplätze, wohin man schaut solange man den Text aus Reihe
von Aussagen über Gegennstände betrachtet. Das Schnäbeln
der Vögel als Gleichnis körperlicher Zärtlichkeiten und
die Trunkenheit der küssenden kommen in der populären Lyrik
auch kombiniert vor (beispielsweise in Gottfried August Bürgers »Die
Umarmung«), und, wie man sich denken kann, kommen auch bei kleineren
Sängern (bzw. Sängerinnen) diese lyrischen Allerweltsbausteine
gepaart mit dem Attribut »hold« vor26. /hold/ selbst war ein
hundsgewöhnliches, wenn nicht sogar reichlich abgegriffenes Attribut
als Allerweltsgefühlsverstärker hat Hölderlin das
Wort ja im Brief(entwurf) an seine Schwester gebraucht. (Wobei es in Bezug
auf junge Frauen einen besonderen Klang besaß.) Von hier aus hat
er beim Durchblättern seiner Entwürfe das Attribut auf die Schwäne
»übertragen«. Es ist keinerlei Gefühlszustand, kein
Ausdruckswollen, kein Darstellen von Weltanschauungen, Erfahrungen, kein
Aussein auf »Höhe« des Ausdrucks, nicht einmal Inspiration,
was Hölderlins Dichten (hier) motiviert vielmehr treibt er
das Nichtssagende der Bausteine, die Banalität vieler
lyrischer Mittel radikal heraus, verschränkt sie mit komplexesten
Techniken der Satz- und Gedankenführung des einstigen (sic) Hohen
Stils, stereotypisiert, um dann in anderen Dimensionen des Ton-Satzes
das magisch Untergründige zu erzeugen innerhalb eines Mikrokosmos
der totalen Korrespondenzen.
Von solchen Beobachtungen her kommt man zu folgendem Bild: Es sind alleine
die Funktionen im mehrdimensional, heterogene Sprechweisen und Farben
und Bauweisen und Materialien, im Ingenieursgeist rekombiniert, die das
dichterisch »Hohe« solcher Gedichte erzeugen und der
Zugriff auf die lyrischen Module und ihre Gefühlsbesetzung ist die
einer ostentativen, montierenden Wiederverwertung, nicht die des lyrischen
Aussingens oder gar Schwärmens, und ebensowenig die des Formens von
Wahrgenommenem oder von Überzeugungen. Die mikromechanische Präzision,
mit der Hölderlin die Huld, das Geneigtsein in mehrerlei Sinne ins
mehrdimensionale Gewebe montiert, ist ein Musterfall dieses Denkens
und nicht der Wille zum Affekt oder zum Hohen, viel eher die kalte Rekombination
affekt- und bedeutungsentleerter Retorten. Es gehört zur Kunst des
Lesens solcher Gebilde, die abgegriffenen Ausdrucks- und Bedeutungsmaterialien
wiederzufinden als fragmentierte und ummontierte. Unbedingt gehört
zum kunstgerechten Lesen das Entdecken solcher Grundstrukturen wie der
Reihe stereotyper, ideenloser Doppelzweisilber Adj+Nomen,
um deren Variation im Wort »heilignüchtern« als entscheidenden
Einfall bezüglich des Spannungsverhältnisses von Symmetrie und
Asymmetrie zu erkennen. Man muss, um die Kunst des Bauens mit Worten genießen
zu können, das »Wandern« von Attributen nachvollziehen,
das gleichsam während des Rede-Aktes im Unausgesprochenen zu geschehen
scheint und das mit den eher konventionellen Mutationsvorgängen zusammenbringen,
die etwa »holden« wie eine Kreuzung oder Mutation von gelb-voll-wild
erscheinen lässt. Etc.
Erst dann kann der Leser die Kunst an der Kunst nachvollziehen, die zwar
aufs Ganze und also Hohe geht, jedoch gerade nicht deshalb, weil er verzückte
Epitheta prägte, »unverbrauchte Bilder« fände, Visionen
bebilderte, brennende Sehnsüchte artikuliertte, nein, umgekehrt:
Weil er das Gebräuchliche als Verbrauchtes adaptiert und ummontiert,
um mehrere Prozessebenen des Fühlens und Denkens gleichzeitig zu
gestalten. Die Überzeichnung lyrischer Mittel bis zur Selbstparodie
findet man erinnere die oben zitierten poetologischen Bemerkungen
Hölderlins ebenso seinen Ort im Ganzen wie die kunstvolle
Aufspaltung mehrerer geistiger Aktivitätsebenen, das simulierte Ungeschick
wie der arithmetische Bauplan, das volksliednahe Nennen wie der brutale
syntaktische Bruch, die hehre Ikonographie wie die Volksliednaivität,
das unbewusste Mit-Empfinden wie die abstrakt schlussfolgernd wahrzunehmende
Bedeutung. Und weil hier in mehreren Tonlagen und geistigen Aktivitätsmodi
simultan gearbeitet wird, kann man einen solchen Text zumindest hypothetisch
mit dem Anspruch auf poetische Vergegenwärtigung des Ganzen in Verbindung
bringen.
III. Gerhard Falkner und der Mainstream: Die Tradition der Kontrafaktur
des »Hohen Sprechens« und der modernen Alltagscodes seit den
1930er Jahren
Noch einmal: Hölderlin setzte mitnichten eine »Tradition des
Hohen Sprechens« fort und er blieb in seiner erkenntnistheoretischen
Durchdringung der Mittel ohne jede Nachfolge. Er schuf eine gleichermaßen
archaisierende wie hochspekulative und futuristische und bewusst befremdlicher
artifizielle neue »Sprache«, die sich schon damals antiquiert
wirkender Gesten des »Hohen« als Teilmoment in einem dialektischen
Gegeneinander heterogenster Teilmomente bedienen konnte. Was arglose Leser
als »Höhe« des Gesamttones empfinden, sind einerseits
zweitverwertete rhetorische oder sentimentale Muster, andererseits ein
radikal denaturierter und atomisierender Satzbau, dessen Motivation letztlich
erkenntniskritischer, nicht wirkästhetischer Natur ist. Man kann
also diese »Idee des erhabenen Sprechens« nicht mit fremden
Ideolekten und niederen Codes und Materialien konfrontieren oder brechen,
aus solchen Verschränkungen geht dieses Sprechen ja gerade hervor.
Man würde eher das Disparate und spannungsreich Gegensätzliche,
das bei Hölderlin durch die virtuose Organisation der Periode eingebettet
in einen kunstvoll klassizistischen Periodenbau wirkte, nach außen
legen. Diese Veräußerlichung wird in der Regel bedeuten, das
philosophisch hochgespannte periodische Erkenntniskonzept durch eine Ästhetik
des ostentativen Addierens und Gegeneinandersetzens von offensichtlich
entfernten Soziolekten, Stilistiken, Affekt-Codes, Fachsprachen etc. zu
ersetzen. Formelhaft zugespitzt gesagt: Aus dem Fundieren in einem Erkenntniskonzept
machte man eine Ästhetik aggregierter Reizwirkungen isolierter Elemente.
Gäbe es eine Geschichte des poetischen Denkens (und nicht nur eine
der paraphrasierten angeblicher »Formen« und Aussagegehalte),
würde man dieses Paradigma vermutlich auf Brentano und einige Romantiker
zurückführen. (Wobei es kein Zufall ist, dass Brentano zu den
Bewunderern Hölderlins gehörte wie übrigens auch
Eichendorff. Brentano dürfte die Radikalität des Verkünstlichens,
die Artistik des Verschränkens heterogener Elemente, archaischer,
hypermoderner, sentimentaler, beeindruckt haben.)
Wo immer dieses Paradigma des Klitterns und Bildens von Ipsefakten und
Kontaminationen im Umgang mit dem Hohen Sprechen verstanden als
edel geschmücktes, mit seltenen Metaphern und pathetischen Gesten
gespicktes, hypotaktisches Sprechen herrühren mag: Konzepte
des Verschneidens widerläufiger Sprechweisen, des Klitterns von erhabener
Metaphorik und schnödem Alltagswort war gegen kunsthistorische Gemeinplätze
keine Errungengenschaft der Nach- oder Postmoderne, sondern ein integraler
Bestandteil der kanonischen, mit den Romantikern erstmals ausbrechenden
ästhetischen Moderne. (Wiederum mit Brentano als Ahnherr der Surfen
durch die heterogenen Idiome, des Einebnens von Simulation und Aussage,
von Archaismus und Authentizität.) Vor allem war es die im
Lager der antiavantgardistischen, gemäßigten Modernisten
wohl häufigste Manier im Umgang mit einer als monumental und unwiederholbar
empfundenen Tradition des Hohen Singens und weihevollen Kündens,
für die Hölderlins im 20. Jahrhundert einstand wie niemand sonst.
(Schon, weil niemand mehr Hölderlins Lehrmeister Klopstock kannte
und dieser sich für Verkitschungsversuchen in Sachen verkanntes Genie
nicht eignete.)
Im mittleren 20. Jahrhundert wurde diese Haltung zum Mainstream in der
Mehrheitslyrik, das heißt im großen Feld derer, die pure Restauration
ablehnten, doch sich auch zu keinem entschlossen avancierten Vorgehen
durchringen konnten. Sofern Gerhard Falkner nur das praktizieren würde,
was die Literaturkritik ihm heute offenbar bescheinigt und er selbst in
den »Sätzen gegen die Unruhe« zu insinuieren scheint,
gehörte er einfach in den Mainstream des Umgehens mit Elaborierten
Sprechweisen seit dem mittleren 20. Jahrhundert allerdings auf
einer reflektierter Stufe und ungleich geweiteten Horizontes, der mit
der Freiheit des postmodernen, vielsprachigen Ironikers durchwandert wird.
Dem prinzipiellen Konzept nach ist die Hölderlin-»Reparatur«
jedoch gerade das nicht, was Kritiker behaupten: seine eigene
Poetik.
In den 1930er Jahren, die Avantgardisten waren großteils vertrieben,
die Neue Sachlichkeit demodiert, erlebte die deutsche Dichtung eine Hochkonjunktur
der steilen Affektation in der Dichtung, der hölderlinisierenden
Brunft, der Posen des Sehers in schicksalsträchtigen Zeiten. Man
lechzte nach einem neuen, hymnischen »Weihestil«27
wobei sich Hölderlin-Popularisierungen, Rilke-Emphase und Elemente
des (aus dem Symbolismus abgeleiteten) surrealistischen Weihestils mischten.
(Walter Muschg verfluchte seinerzeit die Schar der selbsternannten Rilke-
und Hölderlin-Eleven mit ihren »dilettantischen pseudoreligiösen
Bedürfnisse[n]«.28) Dieses Phänomen wird in manchen Literaturgeschichten
noch erwähnt (weil es sich so gut in ideologiegeschichtliche Muster
einordnen lässt). Gänzlich unbekannt ist dagegen, dass die heute
meist namenlos gewordenen Sänger schon von aufmerksamen Zeitgenossen
als eher unglückliche Gestalten wahrgenommen wurden, die im vagen
Gefühl, das Hohe Pathos des Sängers sei in der alten Form nicht
mehr wiederholbar, dieses mit einzelnen Materialien der Gegenwart verschnitten,
und dabei, mal eher unfreiwillig, teils jedoch durchaus bewusst die glatte
Inbrunst konterkarierten, klischierten, um sie in Brechungen zu retten.
Gerade diese erste, neuerliche Hochkunjunktur des post-hölderlinischen
Weihe-Singens war durch und durch idiommixend!
Die 1950er Jahren waren im Mehrheitsfeld der deutschsprachigen Lyrik noch
ganz geprägt von diesen eklektizistischen Restaurationsversuchen
des weihevollen Singens. Ingeborg Bachmanns Versuche, theatralische Verzückung,
Untergangs- und Mahngesten, neosurrealistische Metaphernmanieren und Alltagsparlando
zusammenzubringen, setzten diese Tradition der Tonverschneidung bruchlos
(!) fort gezeichnet von Ratlosigkeit, wie denn die Sehnsucht nach
Erneuerung des rauschhaft Großen, der monumentalen metaphorischen
Geste und des lyrischen Wohllautes heute in ein eigenes Textkonzept zu
bringen sei29. Ihre Gedichte sind unfreiwillige Aggregationen heterogenster,
allesamt aufgeschnappter idiomatischer Versatzstücke wobei
sie ironischerweise in poetologischen Schriften das Ausgesetztsein an
eine nicht mehr synthetisierbare Vielfalt heterogenster Bau- und Sprechweisen
reflektierte30.
Umgekehrt gehörte demonstrative Verfügungsgewalt über den
Formenkanon schon damals zum Repertoire derer, die den Dichter-Metaphysiker
alten Stils zu restaurieren versuchten. Josef Weinheber, der namhaftesten
unter den Restauratoren des Hohen Sprechens und der angeblichen »Form«-Beherrschung,
die sich bewusst in Hölderlinnachfolge stellten, handelte lehrbuchartig
(»Von den Formen«), Modell für Modell die metrischen
Traditionsformen ab und wollte das als Beweis von Kunstmächtigkeit
verstehen. Alle Gattungen werden musterhaft durchdekliniert, Variationen-Folgen
vielfach schafft, musikalische Formen wie Menuett oder Scherzo in Wortsprache
komponiert, sogar Hölderlins Die Parzen werden variiert nach programmatisch
vorangestellten Genreangaben: »Transfiguration in eine kleine sapphische
Strophe«, »Transformation in Daktylen« usf.31 Verfügungskraft
über das Formenrepertoire ähnelt hier eher dem Passagenwerk,
mit dem Klaviervirtuosen (mit dem sich Weinheber durchaus verglichen sehen
wollte) promenierten. Das wesentlich auf die Romantik zurückgehende
Eilen durch die verfügbaren Formen als Ausweis des poetischen Genies
wurde hier ins Gegenteil verkehrt und partizipierte doch in einer
Hinsicht am Mainstream des 20. Jahrhunderts: Man imitierte »Formen«
im Sinne äußerer, metrischer Proportionen und »Töne«,
gemessen an subjektiven Imponierwerten, losgelöst von allen erkenntniskritischen
Modellen, die einmal »die Idee des erhabenen Sprechens« ausmachten.
Ein umsichtiger Beobachter des neuen »Weihestils« der 1930er
Jahre verstand diese Neu-Hymnik als Wiederbelebung Nietzschescher Dithyrambik
und die habe schon je zum Tonwechsel tendiert »uneinheitlich
[...] zwischen Überschwang, Predigt, Ironie der Dithyramben und der
Zarathustra-Hymnen« schwankend. Die neue Hymnik war also offen »gegen
lyrisches Bekenntnis, Feierspruch, Preis, dithyrambische Weltergriffenheit
usw.«.32 Der Hymnus stelle, so werden wir aus dem Jahre 1941 von
einem exilierten Schüler Erich Trunz kundig und seinerseits
üppig metaphorisch belehrt, »das einzelne Wort aus dem logischen
Satzgefüge heraus, es wird dunkel und von harter Fügung. Der
Hymnus zählt auf und umschreibt, versucht, von innen oder außen
das Besungene deutlicher zu machen, bedient sich dabei des Bildes und
des Sinnbildes.«33 Das Hauptproblem der neu erstehenden Hymnik sei
der »noch nicht restlos aufgenommene Formenreichtum und die Ungewißheit
einer neuen Form, die den neuen Gehalten den entsprechenden Ausdruck verleihen
soll«34. Die Konzentration aufs Spruchartige und Formelhafte einerseits,
der Hang zur Allegorie, das dosierte Aufladen mit dunkel Zeichenhaftem,
vieles, was in den 1950er Jahren flagrant wurde, lag in dieser Neu-Hymnik
bereits ausgeprägt vor, insbesondere auch das versatzstückartige
Durchschießen des Sublimen, Entrückten, Erlesenen mit Elementen
der modernen Zivilisation und Sprache, um das Erhabene an die Gegenwart
anzubinden, ohne ihm die Aura des Weihevoll-Ursprünglichen zu nehmen.
Johannes Linkes Neu-Hymnik, so lehrt der zitierte germanistischer Gewährsmann,
demonstriere »eine neue Nähe und Feierlichkeit der Dinge des
Alltags und der ewig wachsenden Natur [...]. Die Darstellung bewegt sich
meist in herben, wohlgeformten Sprüchen, gelegentlich liedhaft ausschwingenden,
einige Gedichte erheben sich ins Sinnbildliche und Hymnische.«35
Technik und Natur vermittlungslos zusammenpressen war damals keine Übung
in ironischer Desillusion, sondern ein Versuch der Transformation des
Hymnischschen in die Gegenwart, etwa in Gerhard Schumanns Auferstehung:
Sirenen heulen und die Schlote qualmen,
Motoren donnern herrlich durch die Luft [...].
Ein Atem weit vom Meer bis zu den Ahnen
heiß und befehlend in die letzte Bucht.
Das schwere Korn wogt auf den Ähren.36
Der Gesang [sic!] an den Sämann eines Herrn Herbert Böhme beginnt
beinahe balladenhaft leicht: »Der mit der Sense geht [...] / sein
Schritt kam schwer.« Dann folgt bei plötzlich wechselndem Maß,
ein merkspruchartiger, dabei metaphorisch angestrengter Einwurf: »Es
ist der beste Schnitt nur gut zur Saat.« Zuletzt aber wird es großräumig,
hymnisch, durchaus mit einem Schuß Expressionismus: »Er aber
singt von der Unsterblichkeit: / Blut wird zur Saat in dieser großen
Zeit.«37 Und natürlich wird auch das von alters her geläufige
Mittel der Beschwörungsformel, die in Abwandlungen litaneihaft wiederholt
wird, von den Neu-Hymnikern fleißig geübt.
Die das »Hohe« mit dem profanen Technikwort und dem alltäglichen
Parlando verschränkende eklektizistische und teils deutlich sarkastische
(selten ironische) Sprache der 1930er Jahre, heillos korrumpiert nach
ihren überhöhenden Selbstdeutungen, wurde von der deutschsprachigen
Mehrheitslyrik nach 1945 variiert, nicht abgelegt vor allem, weil
man sich in der Breite nicht, wie im Sektor der Neuen Musik, zu ganz neuen
Begriffen des Werkes und Komponierens durchringen konnte oder wollte.
Die Sehnsucht nach hymnischem Atem zog noch immer zu Hölderlin, Rilke,
Nietzsche zurück, mal expressionistisch erweitert, mal neusachlich
verschnitten. Das eine Ingeborg Bachmann und ein Hans Egon Holthusen in
die überkommene Sprache neue Idiome einschnitten und belastete Vokabeln
und als antiquiert empfundene Wortformen ausmerzten, war eine Sache der
Dekoration, nicht der Gestimmtheit als solcher. Dass Surrealistisches
nach dem Wegfall der völkischen Zensur (wieder) bedeutend wurde,
war keine Innovation, sondern die Fortsetzung des neu-hymnischen Geistes,
denn das Wandern, Springen und Vagieren zwischen den Tönen gehörte
zum jüngsten Weihestil: Beschwören, Mahnen, Belehren,
Überreden, Trancetaumel gehörte zu der einen, weltumspannenden
Feierlichkeit, und bei der Bachmann ging das Bruchlos in eichendorffische
Töne über.
»Was der Sprache in der Geschichte widerfuhr«, so war anno
1955 programmatisch in den Akzenten zu lesen,
läßt sich nicht rückgängig machen; die Destruktion
des Satzes im Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus bleibt ebenso verbindlich
wie dessen klassische Konstitution als Subjekt, Prädikat und Objekt.
Die Spannung zwischen den Wörtern hat sich dadurch bis zum Zerreißen
verschärft, zugleich aber auch die Spannung zwischen Subjekt und
Objekt im ontologischen Sinne [...]. Die Brüche treten unverhüllt
zutage, im heilen Satz nicht minder als im Satzfragment.38
Verbindlichkeitsverluste gefährden und bestätigen den Satz,
sich befehdende Forderungen von Gestern, Heute und Morgen reißen
den Horizont des möglichen Vokabulars auf nicht nur Helmut
Krapp und Karl Markus Micchel haben die 1950er Jahre so, als Interimsphase
mit geteilten Loyalitäten, empfunden: Absterben des Abendländischen,
das in den Formeln, mit dem man es beklagt oder befehdet, ein Nachleben
feiert. Mit gutem Grund hat man Bachmanns Adaptions- und Allusionstechniken
von hoher Überlieferung »ein ambivalentes Mittel zum Widerruf
einer Tradition« genannt, der sie »doch verhaftet bleiben«.39
Dieser noble Konservatismus, der sich als eigentliche, metapolitisch-kunstreligiöse
Avantgarde verstand, ließ sich leicht messianisch aufladen
Adorno war, wie für Krapp und Michel, hierbei der Vorbeter:
Die Sucht nach Originalität um jeden Preis fällt unweigerlich
ins längst schon Dagewesene zurück, während die minutiöse
Aussage der latent gegenwärtigen, noch nicht verarbeiteten Inhalte
aus den Katakomben der Gesellschaft Ausdrucksenergien freigibt, die revolutionär
sind im Sinne einer Sprache, darin die Epoche das Bild der ihr folgenden
konstruiert; denn die Wunschbilder der Gesellschaft sind die Rückstände
ihrer jeweiligen dunklen Erfahrungen, die frei werden bei der Erfassung
dieser Erfahrungen durch Wort und Bild.40
Das ist 1950er Jahre in Reinform mit ihrem Primärbewusstsein, einer
eplodierten Masse gleichrangig verfügbarer Idiome ausgesetzt zu sein,
sich nach dem Hohen Sprechen (und dem Dichter-Priestertum) von einst zurückzusehnen,
und sich das Restaurative und Regressive gleichzeitig verbieten zu müssen,
ohne über eine Idee zu verfügen, wie man zu einem gänzlich
neuen Begriff von Text und dichterischem Erkennen gelangen könnte.
Mehr oder minder ratlos irrte die Mehrheitslyrik umher, nahm mal Zuflucht
zum alltäglichen Sagen, das über den Verdacht, Illusionen zu
zeugen, erhaben schien nur eben leider zum Hören, Emphatischen,
Mystischen, Verzückenden nicht geschaffen schien. Der Zerfall der
verbindlichen Idiome, an die man sich klammerte, provozierte eine kompensatorische
Überhöhung der an sich prekär gewordenen Sprachgestaltung
durch ethische, metaphysische und ideologische Lehren. Die Kehrseite der
Flucht in die prophetische Selbststilisierung war daher ein degoutantes
Kleinreden des sogenannt Handwerklichen oder bloß Technischen
mithin aber dem Herzstück des Hohen Sprechens, dem Quell eines genuin
poetischen Erkennens, wenn es nach Hölderlin gegangen wäre.
(Ingeborg Bachmanns Frankfurter Vorlesungen und mehr noch Paul Celans
Meridian-Rede waren Kardinalbeispiele für diese Tabuisierung um der
maskenhaften, seraphischen Selbsterhöhung willen.41)
Wo man einmal das Handwerk, die Mache, das Material ernsthaft ins Auge
fasste, brach sofort die dramatische Diskreppanz zwischen klitternder
Materialhandhabung und Prophetenpose auf. Wolfgang Weyrauchs Beschreibung
seines Gedichtes Atom und Aloe für Hans Benders epochemachende Anthologie
Mein Gedicht ist mein Messer etwa war eine instruktive, genetische Rekonstruktion
des Werkes als einer Abfolge von Problemlösungssituationen. Doch
eingeleitet wurde die handwerkliche Vivisektion durch Bekenntnisse der
Art, man habe gegen »die Entmenschlichung des Menschen durch den
Menschen« anzuschreiben per Gedicht: »Denn wozu wären
die Schriftsteller sonst da, als die Summe des Bösen zu vermindern
und die Summe des Guten zu vermehren?« Ergo: »Denn die Schriftsteller
sind Stellvertreter der Propheten, die verschollen sind.«42 An sich
ist Weyrauchs Gedicht allenfalls ein Beispiel dafür, daß Benns
Warnung vor dem seraphischen Ton durchaus ignoriert werden
konnte und dafür, daß die Überspannung des Vermögens
immer schon der halbe Weg zur unfreiwilligen Komik ist: »Atom und
Aloe / im letzten Areal / des schwarzen Ninive / Der Hauch flieht vor
der Zahl / der Kehricht küßt den Aal« (!)43 Solche im
Leeren kreisenden Imitationen surrealistischer Willkürkombinatorik
waren ein Stigma der lyrischen Zwischenepoche. Aber es ist mindestens
ebenso kennzeichnend, dass Weyrauch Bender ein zweites Gedicht überließ,
dessen (anfangs wohl brechtianischer) Parlandoton von einem anderen Dichter
zu stammen scheint:
Mein Gedicht
Ich schreibe ein Gedicht.
Ich veranstalte eine Expedition.
Ich mache mich davon
aus Antwort und Beweis.
Ich trete in den Kreis
der Fragen [...].44
Die Antwort auf die sich anschließende Frage »Warum und woher?«
bricht sogleich wieder in die Rauschsphäre der postsurrealistischen
Metaphernmanieren aus:
ich schlage mich quer
durch Gelee und Asbest.
Die Meridiane sind verwest.
Mein Gedicht ist die Welt
der diagonalen Messer.
Daraufhin kontaminiert Weyrauch Imponiervokabeln mit einem laxen Idiom:
»Ich gehe dem Ungeheuren nicht auf den Leim. / Ich setze die Ewigkeit
fort.« Auch Weyrauch wollte offenbar seine semi-religiöse Selbststilisierung
legitimieren, indem er Verfügungsgewalt über das ganze Panorama
konjunkturierender Töne und Techniken demonstriert. Von kleinen nachexpressionistischen
Härten abgesehen, bedient ein drittes Stück für Benders
Anthologie, als wäre nochmals ein anderer Autor am Werk, das eigentlich
schon totgesagte Sujet des Grünen Gottes45. Da ohnehin alles Imitation,
unfreiwillige Zweitverwertung oder Parodie im weiten Sinne des Wortes
war, konnte man problemlos die Genres wechseln.
Wenn einmal nicht bloß »Literaturgeschichte«, sondern
eine wirkliche Geschichte des dichterischen sprich: kompositorischen Denkens
und der Text- und Erkenntnisbegriffe geschrieben würde, müsste
man darin Gerhard Falkners Schreiben der letzten Jahre vermutlich als
Versuch beschreiben, das Klischieren, Kontrastieren, Genrewechseln als
typischen Umgangsweise der Mehrheitslyrik mit dem, was man als »Hohes
Sprechen« der Tradition empfand und nicht preisgeben wollte, heute
nicht mehr als Notlösung zu begreifen, sondern als Zeichen der Stunde
zu interpretieren und zum Programm zu erheben: Bewusster und freier in
den Mitteln, mit zunehmender Ironie, teils Spott oder Sarkasmus sich vom
Geruch des Eklektizismus und des ratlos pastichierenden Klebens an alter
Erhabenheit befreiend.
Ingeborg Bachmann war eine Epochenfigur, jedoch vor allem darin, dass
sie den Dichter wieder in den Rang von Dichter-Sehern erheben wollte,
und (symptomatischerweise mit Brecht, Rilke und Hölderlin als Bundesgenossen)
den ganz großen »Ausdruckstraum« noch einmal träumen46,
das ganz große Pathos noch einmal als Weltumarmung und Welterweckung
wagen wollte, das aber nicht als Restauration, sondern als fibröse
Utopie einer ganz andern Dichtungssprache ausgab und in ihrer Praxis
heillos zwischen den verfügbaren Bau- und Sprechweisen herumirrte.
Sie verzehrte sich danach, die »schlechte[...] Sprache, die wir
vorfinden, auf diese eine Sprache hin, die noch nie regiert hat, die aber
unsere Ahnung regiert und die wir nachahmen«47 zu verlassen
und kam doch nie über Flickwerke und Pasticchios hinaus. (Es dürfte
die Einsicht in dieses Scheitern gewesen sein, die sie dazu brachte, nach
zwei höchst erfolgreichen Gedichtbänden ohne jeden äußeren
Anlass, das Schreiben von Gedichten einzustellen die Prosa versprach
mehr Sicherheit, wie heute zu sprechen sei48.)
Eine anderer zeittypische Figur der Mehrheitslyrik, die aus der Verzweiflung
heraus dichtete, wie »die Idee des erhabenen Sprechens« heute
noch einmal konstitent und nicht lediglich restaurativ zu wiederholen
sei, war Hans Egon Holthusen von Gottfried Benn begeistert begrüßt
und als eine Art noch zu vollendender Kronprinz behandelt. »Himmel
und Blut« aus den frühen 1950er Jahren begann orphisch halluzinierend:
»Mein Blut, das dunkel umläuft in der Nacht«.49 Großvokabeln
wie Leib, Herz, Zeit stimmen hoch
ein, doch dann irritiert eine Anspielung auf den Wetterbericht. Erst hinterher
erkennen wir, dass es der Versuch war, einen schroffen Übergang von
der neu-hymnischen Höhe in die ganz unorphische, allenfalls heillos
fragmentierte Welt der Radionachrichten zu inszenieren:
Im Leibe schlägt mir das Herz, mit Zeit überladen,
Und stimmlos raunender Nachricht,
Von Wetterstürzen bedrängt mit Föhn und Regen.
Mitteilung hab ich vom Potsdamer Platz, von sibirischen
Bergwerken. Dann: eine Klinik in Rom. Eine Farm in Missouri.
Das hymnisch-epigonale Auftrumpfen kippt um in aufzählendes Parlando,
Imitation der Informationssprache im Ticker der Agenturen.
Holthusen ahmte sicher auch Benns Attitüde nach, lässige Brüche
in einem munter, auf Überraschung zugeschnittenen Parlando einzubauen,
um Souveränität zu demonstrieren. Doch mitunter verkeilt Holthusen
auch das Erhabene und Entgrenzende modulationslos mit Technikwort und
Gleichnisrede:
Zeitgenosse des Menschen. Nach zehn hoch sechzehn
Lichtjahren jetzt und hier. Durch all die verborgenen
Untergrundbahnen des Blutes
All das gemeinsame Leben wie Ebbe und Flut mir im Herzen.
Später wird es jäh expressionistisch: »Schutzlos geht
unser Leben, und wie der schlehen- / Bittre Mond das Blut aus den Frauen
herauszieht.«50 Anekdotisches tritt auf, politische Geschichte wird
umstandslos ins Geschirr einer großen, mit semantischen und syntaktischen
Beugungen aufgeladenen Metapher gekleidet:
Viele küßten mit blutiger Wunde das Land: China und starben
Wieder zurück in den Gleichmut der ruhenden Erde,
Mao las Marx und schrieb seine Verse
Über den Schnee, und einige traf es am Tatufluß [
]
Man sieht, es ist nicht weit bis zu solchen Tönen:
Sie sehen in mir einen brennenden Menschen.
Nicht völlig anheim gegeben/ zwar
aber heimwärts gebogen.
Droben vom empörten Äther
fallen Atomnummer
+Kernladungszahl
(Ross Ashhby & Norbert Wiener als letzten/ Heimkehrer
aus den Hochlagen des Chaos
iin endlich geregelte Vehrältnisse)
[
] (HR 16)
Sentenzen fehlen bei Weyrauch nicht: »Wie verzehrt uns Liebe und
Schuld und die allmächtige / Blutsäuferin Zeit.« Klassizistische
Mahnsprüche sind da: »Leidend reckt sich der Mensch und mißt
seine Größe.«51 Etcetera. Gottfried Benn hat die Gedichte
Holthusens gefeiert und ihren inneren Widerspruch benannt: Sie
»funkeln von Geist, von blendenden Überschneidungen, überraschenden,
oft faszinierenden Synkopen, Nahes ist mit Peripherem verkoppelt, innere
Erlebnisse durch banale empirische Aktualitäten kontrastiert
wir sehen eine bewundernswerte Fähigkeit, das heutige Ich zu porträtieren.«52
Doch Benn legte den Finger darauf, dass hier einige Kontaminationen zu
»neckischen« Ergebnissen führen, mitunter komischen,
zum Beispiel, wenn es heißt: »Dort brachte man dem Gott der
Geschwindigkeit sein Trankopfer dar mit Öl und Gasolin.« Dazu
lakonisch Benn: »der Gott der Geschwindigkeit erinnert mich als
Metapher etwas zu sehr an den in den Sportberichten oft erwähnten
König Fußball«53. Und dann die Hauptsache:
»Holthusen neigt zum Konformismus, zur Glättung, das ist seine
Gefahr. Vielfach nimmt er die Schläge seines Innern nicht, sondern
legt sich frühzeitig auf die Bretter.« Das mag vielleicht meinen,
Holthusen mache es sich zu einfach, Idiommischen verkomme zur Manier,
um sich nicht mit den schmerzlichen Problemen der Konsistenz heute aussetzen
zu müssen. (Möglicherweise ist es auch ganz trivial so zu verstehen,
dass Benn Holthusens Katholiszismus und Gerede vom »Sein«
un der »Wahrheit« als ängstliche Zuflucht vor der »Unbehaustheit«
der modernen Welt verstand.)
Diese Diskurse spielen sich allerdings noch ganz in intuitiven, feuilletonistischen
Jargons ab. Fragen der verbal vermittelten Erkenntnis spielten in der
Mehrheitslyrik nie eine Rolle es gab buchstäblich gar keine
Sprache dafür, in der das hätte problematisiert werden können.
Eine Geschichte des dichterischen Denkens also Komponierens hätte
gute Gründe auf ihrer Seite, Gerhard Falkners Dichten seit den späten
1990er Jahren als Versuch zu sehen, das Scheitern der Lyrik des gemäßigt
(oder, je nach Blickwinkel, auch unentschlossen) modernistischen, aber
strikt antiavantgardistischen Lagers im Umgang mit »der Idee des
erhabenen Sprechens« noch einmal in großem Stil aufzugreifen
und nun über das damalige kompromisslerische Klischieren und
Mixen aus Verlegenheit hinaus zu gelangen. Karl Krolow sprach schon damals
vom »Kraftfeld der Influenzen«, das der heutigen Lyrik ihre
Produktionsbedingungen diktiere und Krolows eigenen Arbeiten waren
ausgeprägt eklektizistische und epigonale, klischierende Züge
eigen. Der junge Hans Magnus Ezensberger sah die Situation durchaus ähnlich,
überspielte sie jedoch im wörtlichen Sinne, indem er das Taumeln
zwischen den (nicht-avantgardistischen) Gestaltungstraditionen und Sprechweisen
als ironisches Flottieren ausgeben wollte und damit zumindest der
prinzipiellen Haltung nach eine gewisse Vorläuferschaft zu Falkners
Versuchen beanspruchen könnte. Nur dass Enzensberger eben das wirklich
Brisante und heute Anstößige, die hohe Miene des Kündens,
des Affektrausches, des Verzückungsaffektes, der schroffen, gegenalltäglichen
Parataxe und Inversionen, füglich ausgrenzte existentielles
Ergriffensein war mit der Pose des lockeren Flottierens und Naschens an
allen Töpfen nicht zu vereinbaren. Gerade diese anstößigen
Elementen in das multiphonische Verschneiden einzubringen, ist dagegen
Falkners wesentliches Ziel, ebenso wie die Reintregation des Plattwitzes
und der Klassikerverhunzung, und vor allem das Re-Intgrieren der sperrigeren,
abstrakteren Konzepte von Text, die Enzensberger in locker-plaudernder
Manier verbannte, die konzeptgeleitete Materialkonstellation (wie die
»Material(schlachten)«), die vom (direkten) Aussage- und Ausdruckszwang
befreite Liste, die neckisch manipulierte Klassiker-Kopie. Im Vergleich
zu diesem Horizont des Redens erscheinen des jungen Enzensbergers Materialklitterungen,
ganz gegen seinen Ruf als »zornniger junge Mann« (Alfred Andersch),
als kommode Produkte mittlerer Temperatur, die sich von den eigentlichen
Spannungen und Konflikten im Horizont des Gegenwärtigen weder intellektuell
noch affektiv anfechten lassen will. Auch er, naseweiser Verächter
der Avantgarden, war in der Praxis hin- und hergerissen zwischen spitzbübischer
Tempelschänderei und Liebesgeflüster in Busch und Tal, zwischen
bildsattem Zelebrieren und Demaskierung des Hehren und Hohen54
nur im Überbau wurde daraus ein cooles und souveränes (ziemlich
Bennsches) Flottieren.
Was die Sprache betrifft, als jenes unter den künstlerischen
Materialien, das der Gedichtschreiber direkt beeinflussen kann,
so schlage ich folgendes Verfahren vor: Die Sprache ist durch die ganze
Temperaturskala von der äußersten Hitze bis zur extremen Kälte
zu jagen, und zwar möglichst mehrfach. Dazu ist ein ständiger
Wechsel des Pathos erforderlich. Zwischen Hyperbel und Andeutung, Übertreibung
und Understatement, Ausbruch und Ironie, Raserei und Kristallisation,
äußerster Nähe zu glühenden Eisen des Gegenstandes
und äußerste Entfernung von ihm fort zum Kältepol des
Bewußtseins ist die Sprache einer unausgesetzten Probe zu unterziehen.
Zur Herstellung dieser höchst sinnlichen, keineswegs abstrakten Dialektik
sind alle formalen Mittel erlaubt und vonnöten.55
Falkners »Reparatur« ist gerade hinsichtlich der Möglichkeit
des Ergriffensein und des durchlebten dramatischen Affektes bei aller
geteilten Ironie, ausgestellten Flottierenslust und Sarkasmus sicher ein
Gegenentwurf zu Enzensbergers Posen, die weis machen, alles und jedes
spielend zu beherrschen, doch das Riskante und Konsequente ängstlich
ausgrenzen, um in einer risikolosen Mitte fröhlich vor sich hin zu
pfeifen.
Auch Ironie und Sarkasmus, in Falkners Kontrafakturen präominent,
waren in der klischierenden Formationsphase der bundesrepublikanischen
Lyrik vorgeprägt das konnte kaum ausbleiben, da man so unentschlossen
zwischen Einst und Jetzt, hohem und vulgärem, Technikwort und imitierter
Verzückungsrede der Vergangenheit bewegte. Nicht nur aber zumal die
Ironie und die Attitüde des Durcheilens der Masse verfügbarer
Sprechweisen haben heute den Geruch von Notlösungen aber auch den
Charma provokanter Traditionszersetzungen verloren. Ironie, Sarkasmus,
Flottieren, Mixen, das sind längst kulturelle Mehrheitshaltungen
geworden, in und außerhalb der Kunst. Gerhard Falkner partizipiert
an diesem kommun gewordenen Geist, lehnt jedoch die gleichmäßige
Ironisieren von allem und jedem ab: Er verteidigt ein, wenn auch partielles
Eigenrecht existentiellen Ergriffenseins (wie man es bei Hölderlin
vorgeprägt sehen wollte) und damit die Solitärsrolle des Dichters
selbst gegen das bloße Mixen und konsumistische Einebnen. Falkner
operiert gewiss in einer erotischen Nähebeziehung zu postmodernen
Haltungen, wehrt sich jedoch entschieden dagegen, in solchen distanzlos
aufzugehen und keinerlei Unterschiede des Ranges und der Reichweite künstlerischer
Konzepte mehr geltend zu lassen. Mag er das Pathos mancher aus dem Zusammenhang
gerissenen Hölderlinzeile auch ironisieren diese Idee dichterischer
Erhebenheitsrede als ganze hat für ihn weiterhin Macht und Verbindlichkeit,
und zwar: untrennbar voneinander intellektuelle und affektive Macht, wenngleich
sie in der alten Weise, wie sich versteht, nicht wiederholbar ist.
IV. Falkners Umgang mit Hölderlins Erkenntniskonzept.
Eines kann man vorab sagen, ohne schon Details der Falknerschen Strategie,
Hölderlins »Idee des erhabenen Sprechens« zu transformieren,
besichtigt zu haben: Der Gesamtentwurf Hölderlins ist in seiner Geschlossenheit,
der unauflöslichen Verbindung von spekulativ-philosophischen Erkenntnismodellen
und aus der Tradition heraus entwickelter Sprachgebung offensichtlich
unwiederholbar. Sich mit ihm auseinandersetzen würde letztlich bedeuten,
gerade nicht die oberflächlichen Sprachgesten, Reizwirkungen, Affektauslöser
und auch nicht die Modelle periodischer Logik zu imitieren; es würde
bedeuten, die erkenntniskritischen Modelle weder zu kopieren noch zu ignorieren,
sondern andere Modelle zu entwickeln, die unter heutigen Bedingungen ähnlich
dichte Wechselwirkungen von Erkenntnisbegriff und Sprachgebung hervorzubringen
erlaubten, um genuin poetische Erkenntnis heute zu ermöglichen. Niemand
dürfte ernsthaft eine Idee haben, wie so etwas möglich sein
könnte. (Vielleicht einmal abgesehen vom inkommensurablen Reinhard
Priessnitz.) Wahrscheinlich wird man schon die Art von Hölderlins
Entwurf, genuine und emphatische dichterische Vergegenwärtigung des
Ganzen von Denken, Fühlen, Selbst und Welt durch eine solche Synthese
von Philosophie und multidimensionaler Durchdringung geistiger Funktion
im poetischen Textverarbeiten, heute abwegig oder unwiederholbar oder
unnötig intellektualistisch finden. Klar dürfte allerdings sein:
Ein ähnlich ambitionierter Entwurf dichterischer Erkenntnis heute
kann gar nicht gewonnen werden über eine wie auch immer geschmacklich
modernisierte Imitation der Ausdrucksgesten, der Reizwirkungen
von grammatischen Härten, der Oberflächenphänomene des
Stils. Höldelrin mit (vermeintlich) anderen Sprechweise zu klischieren
oderzu konfrontieren, heißt, der Auseinandersetzung mit dem Kunstbegriff
ebenso auszuweichen wie, sagen wir, ein Klischieren einzelner Manieren
der späten Beethoven-Quartette mit gegenläufigen Sprechweisen
die Vermeidung einer Auseinandersetzung bedeuten würde, zu der die
emphatische Wucht des Gesamtentwurfes gehörte.
Falkner geht zwar diesen womöglich prinzipiell nicht mehr
gangbaren fundamentalen Weg nicht, lehnt die in jener Formationsphase
der 1950er und 1960er Jahre üblicherweise praktizierte kompromisslerische
Klischierens aus Not ebenso ab, wie das bloße, fröhliche Mixen
und Flottieren der Postmodernisten. Falkner verteidigt beispielsweise
einen relativ starken Begriff der Textindividualität: Er versucht,
das nicht-avantgardistische Spektrum und einige Schritte darüberhinaus
kontrolliert von Text zu Text das Konzept poetischer Rede neu zu bestimmen
und zu individualisieren. Das geschieht nicht nach Plan, doch mit einem
gewissen programmatischen oder sogar locker systematischen Impetus stellt
er je eigene Weisen von Paraphrasen, Pasticchios, Kombinationen, Texttypen
her, von denen viele wirken, als seien sie Proben einer eigenen Werkgruppe
oder eines »Stils«. Ganz gegen den Geist der Klischierer aus
der Nachkriegsgründergeneration lässt Falkner die zentrifugalen
Kräfte im Tönespektrum zu, sprengt das Kontinuum auf, der Plattwitz
bekommt (wie in der Wiener Gruppe oder auch bei Dieter Roth) seinen Ort,
die absichtsvoll gedankenlose Lautvariation, das Spielen mit Varianten
elementarer Redefloskeln wie in der Linguistischen Poesie Heißenbüttels
(»Das Tote Meer«, HR 63), die konzeptgeleitete Materialkonstellation,
aber auch das plumpe »Ich«- und »Wir«-sagende
Parlando der Alltagslyrik hat ziemlich ungebrochen ihren Auftritt (»Wir
umarmten uns und trugen blaue Jacketts/ die glänzten«, HR 66).
Letztere kommt, wie im Mainstream üblich, mit technisch banalen,
emotionalisierenden Metaphern dekoriert einher (»Die einfahrenden
Züge/ versanken mit einem Seufzer«). Das aufgeschminkte Schlagergefühl
bekommt seinen Ort, sogar das schmerzerregend geistlose Wortspiel und
die Stammtisch-Persiflage von Klassikern (»Sei mir gegrüßt,
mein Hymnus, mein Wortschatz, mein Spandau« [HR 73], wohl zugleich
eine derbe Parodie trivialer Formen der »Sprachreflexivität«).
Hier dichtet jemand, dem die Populärkultur kein Gegensatz zum ambitionierten
Dichten ist, sondern in all ihrer Trivialität des Lebensgefühlrepoduzierens
und Arglosigkeit und Ignoranz, was Erkenntnisfragen betrifft, ins Blut
gegangen ist (allerdings, auch ein Gottfried Benn war symptomatischerweise
ein Freund der Leichten Muse und von vielen heutigen Dichtern wird die
Relevanz des Populären und Populistischen überhaupt nicht mehr
befragt, sondern zum Teil des Habitus und Lebensgefühls gemacht,
als könne es da keine Zweifel geben.) Aber auch jemand, der beharrlich
daran arbeitet, das Spektrum der Konzepte mit den dazu gehörigen
Affekten zwischen Größenrausch und plumper Parodie, massenmedialem
Müll und Imponiermetapher, Sänger-Narzissmus und kollektivem
Popularkitsch auszuleben das heißt: Durchaus nicht alles
zum gleich gewichtigen Spielmaterial zu degradieren.
Die Aufspreizung des Spektrums, die Bewusstheit, mit der das Ergriffensein
durch die »hohe« Verzückungsrede ebenso wie die Plumpheit
des Alltags, die Banalität des Lebensgefühlhaften und die Miene
des alltagsferne Bauens, das Basteln mit Sprechfloskeln wie das Eintragen
in Auflistungen nicht nur verschämt oder aus Ratlosigkeit zugelassen,
sondern in der Heterogenität forciert, grell bunt instrumentiert
und nach außen getrieben werden, das ist etwas, was Falkner weit
von der Nachkriegsgeneration entfernt. Falkner dürfte sich gerade
auch vom wohlfeilen Bennanisieren und technisch dilettantischen Nachahmen
der Attitüden der Vätergeneration eines Durs Grünbein absetzen
wollen, wenn er die Typendifferenz der Sprechweisen als Differenz von
Erfahrung und Selbsterfahrung, wenn er die Fähigkeit, die Fallhöhen
und Fragmentierungen selbst verbal durchleben zu können, als Zeichen
einer zeitgemäßen dichterischen Existenz noch einmal entfaltet
nur eben entschlossener im Erfahrungsnachvollzug vom schwülen
Ergriffensein bis zum Plattwitz, der ideenlosen Materialbastelei bis zum
populären »Wir waren«-Alltagseinheitssound der Pop-Epigonen,
vom Kokettieren mit Eichendorffsüße, die parodiert, doch nicht
restlos entwertet wird bis hin zum Material-Trash, der die Heterogenität
gleichsam bildhaft in die Fläche verteilt. ohne sie in einen »Ton«
der kontinuierlichen Rede noch einmal einbinden zu wollen.
Insofern kann man Falkners als konsequentesten, versiertesten Nachfahren
oder auch Vollender der Nachkriegsgründergestalten verstehen, der
die von Heißenbüttel über Höllerer, Benn zu Krolow
geteilte Diagnose eines zersplitterten, nicht mehr synthetisierbaren Töne-Kosmos
der Gegenwart in eine Heterogneität der Töne umsetzt. Allerdings:
Während der junge Heißenbüttel ebenso wie Höllerer
(»Transit«) dem »Ich« abermals wie schon
in populär gewordenen Diagnosen der Zeit um 1900, an die man in den
1950er Jahren vielerorts anknüpfte bescheinigten, im implodierten
und zerklüfteten Kosmos der Rede- und Erkenntnisweisen mit »entthront«
oder untergegangen zu sein, fndet sich bei Falkner dieses »Ich«
durchaus wieder im Verlust. Nicht triumpierend als neuer Herr der Sinn-Welt,
doch als Anverwandlungsvirtuose des Durchlebens, der in den diversen Retorten
des Erlebens nicht aufgeht, aber sie auch nicht bloß als Spielmaterial
benutzt.
Allerdings: Falkner bleibt insofern ein, wenngleich konsequenterer, die
Fehler der Vorgänger reflektierender Exponent des Mainstreams, als
kein Begriff des verbalen, schriftbasierten Sinnstiftens oder Selbstaneignens
leitend ist, sondern das gefühlshafte Nachahmen verfügbarer
Sprechweisen. Was Hölderlin im Besonderen betrifft: Falkner lässt
sich nicht einfach ergreifen von der Fremdheit und Kunstfertigkeit und
Bedeutungsmacht dieser Sprechweise; er versucht auch nicht nur, die Unwiederbringlichkeit
dieser Art Höhe als Modus der heutigen, schreibenden Erfahrung ernst
zu nehmen; er ahmt nicht nur nach, um sich vor der eigenen Anhänglichkeit
in Ironie und die zeitgeistige Haltung des Remixens zu retten. Er zelebriert
das Leiden und die Lust des zur Nachahmung verdammte immer gleich mit.
Er stellt die Verlegenheit aus, die in die Ironie treibt, er parodiert
immer auch das eigene Nachahmung und die Flucht ins Re-Mixen. Er legt
das Ausweglose des Verdammtseins zum Nachahmen und zum Klischieren des
Rang-»Hohen« offen und münzt es um in Sprachgestalten.
Wenn man das postmodern nennen will, dann nur, insofern dieses Posthistoire
seine Aporien reflektiert und in Produktionsmotive verwandelt.
Wie wenn am Freitag/
falls es Wind und Wetter da noch gibt/
und um das weite Feld zu sichten
um das zu Hause hier die schweren Stürme toben
wir zu den Göttern flögen
um die freien Tage dort zu feiern
statt sie hier zu büßen
in Athen herrschen seit Wochen
konstante 42 Grad
Da könnten wir aus heißer Nacht
den mitgebrachten/
eisgekühlten Bommerlunder
in die Ouzogläser fließen lassen
[
] (HR 32)
Wer so dichtet, verkalauert nicht einfach »die Idee des erhabenen
Sprechens«; er remixt nicht einfach ironisch. Wer so dichtet, weiß,
dass das der Weg des Mainstreams war, um die Ohnmacht angesichts vergangener
Kunsthöhe zu überspielen. Wer so dichtet leidet daran, dass
dieser einfach Ausweg im Umgang mit dem Erhabenen das letzte Wort sein
soll, dass nicht doch »Mehr« möglich sein sollte, oder
vielleicht gar daran, dass nicht viel mehr als Illustrieren von Ohnmacht
und Phantomschmerzen angesichts unwiederbringlicher Kunstmächtigkeit
möglichist. Wenn es eine Art »reflexiv« gewordene Postmoderne
gäbe, dann wohl hier: Die Reflexion eigener Aporien wird zum Teil
des Kunstbemühens selbst. Sonst wäre es kaum denkbar, dass ein
Dichter heute noch einmal das gewaltige »Wie wenn am Feiertage«
in solcher brutalen Trivialät parodiert. Das ist ebensowenig postmodern
ironisch parodierend, wie es, sagen wir, das Zitieren der Exposition des
C-Dur-Quartetts Mozarts aus den »Preußischen« Quartetten
wäre, das in die Kadenz eines Jazzstandards mündet, um dann
acht Takte einer Popsongparodie einzukleben, daraufhin wieder ein Stückchen
Mozart variiert als Computersound anstückt usf. Man würde nur
das eigene Epigonentum innerhalb der sich längst überlebt habenden
Tradition von Verlegenheitslösungen des coolen Remixens zur Schau
stellen und die eigene Ohnmacht illustrieren, wie eine Haltung
zu den kanonischen Kunstleistungen der Traditionen zu gewinnen sei.
Die Ratlosigkeit, wie man die Kunsthöhe der Klassiker, von der beeindruckt
zu sein man nicht verbirgt, wieder erreichen könnte, würde umso
größer, wenn der heutige Dichter erkennen würde, dass
der parodierte und remixte Text selbst gerade auch in diesem Fall seinerseits
eigentümlich mit demonstrativ leeren Retorten arbeitet, das proto-montierende
Vorgehen jedoch mit einer virtuosen Technik der mehrdimensionalen, vor
allem, jedoch nicht nur, periodisch basierten Durcharbeitung kombiniert
in einer Sprache, deren Material und Idiomatik nur punktuell etwas
von »Höhe« und Archaität hat. Die meisten Elemente
könnten für sich genommen auch von einem Hobby-Dichter heutiger
Zeit stammen:
Wie wenn am Feiertage, das Feld zu sehn
Ein Landmann geht, des Morgens, wenn
Aus heißer Nacht die kühlenden Blitze fielen
Die ganze Zeit und fern noch tönet der Donner,
In sein Gestade wieder tritt der Strom,
Und frisch der Boden grünt
Und von des Himmels erfreundem Regen
Der Weinstok trauft und glänzend
In stiller Sonne stehn die Bäume des Haines:
[
] (Hölderlin, Werke I., S. 262)
Es kann aus doppeltem Grund gar nicht darum gehen, den »Ton«
eines solchen Gedichtes mit gegenläufigen Redeweisen und Vokabularien
zu »konfrontieren« allzu offensichtlich ist, dass es
kein »Ton«, sondern alleine die periodische Konstruktion ist,
die das Poetische aus nahezu beliebigen Versatzstücken zeugt. Kühlende
Blitze fallen aus heißer Nacht, das ist in seiner billigen, gegenalltäglichen
Kontrastkonstruktion für sich genommen beinahe selbst schon Parodie.
»Die ganze Zeit und fern noch tönet der Donner,« klingt
anfangs laienhaft ungeschickt und vorpoetisch sprachunbewusst, ähnlich
wie unsere alltägliche Redefloskel »Die ganze Zeit regnet es«.
Im zweiten Teil klingt es wie ein Klischee von altertümelnder, »edler«
lyrischer Inversion: »fern noch tönet der Donner«. »und
frisch der Boden grünt« klingt für sich genommen ebenfalls
beinahe selbstparodistisch, »In stiller Sonne stehn die Bäume
des Haines« wie eine bessere Atmosphären-Postkarte in Worten.
Formuliert man (wie Falkner) »Wie wenn am Freitag/ falls es Wind
und Wetter da noch gibt/ und um das weite Feld zu sichten« setzt
man sich nicht deshalb nicht mit Hölderlins »Sprache«
auseinander, weil eine edle Art des Sagens verkalauert wird, sondern weil
alle entscheidenden periodischen Eigenschaften von Hölderlins Konstruktion
entfallen und mehrere unbeabsichtige Nebenlesarten entstehen, die
parataktische, auf Mehrdimensionalität ausgerichtete, permanenten
Wechsel der Erscheinungsformen eines Phänomenkomplexes anstrebende
Technik also einfach entfällt oder nicht beherrscht wird. »Wie
wenn der Landmann am Feiertage das Feld/ zu betrachten hinausgeht, des
Abends, wenn/ aus heißer Luft die kühlenden Blitze fielen /
den ganzen Tag, und fern noch hallet der Donner,/ und wieder in sein Ufer
der Strom sinkt,/ [...]«. So lautete eine frühere Fassung des
Gedichtes und sie ist noch nah am lyrischen Beschreiben einer abendlichen
Szenerie: Es ist, als würde ein Landmann abends hinausght, um das
Feld in Augenschein zu nehmen, dann wird das Als-ob in Form der vorhergehende
Tag atmosphärisch ausgemalt. So könnte, denkt man zumindest,
dieser erste, prosanahe Entwurf semantisch verlustarm paraphrasiert werden,
auch wenn Hölderlin hier schon mit dopelbödigen Elementen arbeitet,
etwa der Mehrdeutigkeit des »Wie wenn«: Es könnte sich
um einen Vergleich handeln (Der Wahrnehmungseindruck ist ähnlich
wie x), ein Als-ob, aber auch um ein Was-wäre-wenn (der Landmann
hinausgeht). Diese Ambivalenz wird im wunderbar (und irritierenden) »fielen«
fortgeführt, das ein zum Zeitpunkt des Hinausgehens vergangenes Ereignis
(das Gefallensein der Blitze) bezeichnet, aber auch ein Als-ob und ein
Was-wäre-wenn, denn das anfängliche »Wie« kann natürlich
auch übergebunden werden zu »Wie [
] wenn aus heißer
Luft«. Trotz dieser schon angestrebten grammatischen Komplexität,
die zu einer Simultaneität der Zeiten, Modi und Phänomene führt
oder führen wird (die Blitze sind vergangen und es ist doch, als
ob sie noch fielen während die Landschaft erscheint, als ob
ein Landmann hinausgeht etc.) ist diese frühe Fassung noch nah an
einer lyrischen Landschafstatmosphärendarstellung (mit erzählenden
Elementen).
Diese Nähe zur lyrische Atmosphärenrede hat Hölderlin in
der nächsten, erhaltenen Textstufe radikal ausgetrieben. Die Periode
ist nun zerfallen in eine Reihe in sich abgeschlossener Glieder, die vor-
und zurückbinden und lediglich vorbehaltliche, prekäre, erahnbare
und sich verflüchtigende Phänomenkonstellationen bilden, Haupt-
und Nebenobjekte wechseln fortlaufend die Rollen, Wahrnehmbares, Potentielles
und Halluziniertes wechseln ebenso oft die Rollen. »Wie wenn am
Feiertage, das Feld zu sehn« es ist, als wäre einen
Moment lang das eigentlich Erstaunliche, dass am Feiertage das Feld zu
sehn ist (oder man es sich vornehmen würde zu sehen). Wenn daraufhin
das Element »Ein Landmann geht« auftaucht, scheint es, als
ob er alleine nun plötzlich das einzige ist, was zweifellos und feststellbar
sinnlich wahrzunehmen ist, denn der Landmann geht während
zuvor nur eine infinitivische Ellipse »das Feld zu sehen«
auftrat, die noch ungebunden vagiert. Es ist durchaus nicht auszumachen,
ob die Landschaftsfragmente mitsamt dem gehenden Landmann etwas anderes
in einem Wie-Vergleich oder einem Als-ob veranschaulichen sollen (oder
noch werden), oder ob die Landschaftsfragmente das Gehen des Landmanns
ausmalen sollen. In letzterem Falle würde er so gehen, als ob er
an einem Feiertage ginge, um (wider das Gebot der Ruhe am Tag des Herrn)
das Feld (nach einer »Heißen Nacht«) zu begutachten.
Er ginge dann so eigenartig und was für eine visionäre
Kraft muss ein Beobachter besitzen, der so etwas »sehen« kann!
-, als am Morgen noch »Aus heißer Nacht die kühlenden
Blitz fielen/ Die ganze Zeit«, als ob die hitzige Nacht noch weiterwirkt
aus der Vergangenheit heraus, wie ein Kampf, eine Katastrophe, ein sexueller
Rausch oder was immer. (Kampf wie Liebe können »hitzig«
sein.). Ebensogut könnte sein, dass es nur um eine visionsartige
Hallluzination einer kleinen Apokalypse, die Ordnung der Dinge invertierte,
und ein Landmann geht in dieser nachklingenden Erhabenheit des Chaos.
Das Atomisieren der einzelnen Phrasen korrespondiert deutlich dieser Situation
nach dem Kataklysmus, da alles wieder sich beruhigt und »In sein
Gestade wieder tritt« ein jedes Ding, in seine angestammte Bahn.
»Die ganze Zeit und fern noch tönet der Donner«, es ist
hier zunächst für einen Lese-Augenblick, als ob »Die ganze
Zeit«, also die ganzheitliche Zeit, oder das Gesamte der Zeit sich
hier zeigte im Tönen was eine bloße Behauptung wäre,
eine Phrase. Daher klingt diese Option nur verwischt mit: »Die Ganze
Zeit
fern noch tönet«. Es ist also ein ähnlicher
Bruch mit anschließender Überscheibung eingearbeitet wie in
»Mit gelben Birnen hänget/ Und voll mit ...«.
Dass es der Landmann ist, der hinaus aufs Feld geht, um es am Feiertag
zu begutachten, das steht nur in der früheren Fassung. (In der das
symptomatischerweise noch am Abend geschah Morgen und Abend sind
hier austauschbare, abstrakte Bildkörper, keine Bezeichnungen innerhalb
einer Darstellung von [und sei es imaginär] Wahrgenommem.) In der
späteren, schon sehr viel näher am erratischen Hymnenton der
Reifezeit sich bewegenden Textstufe, sind alle Phrasen so atomisiert,
dass gleich das Feld-Sehen ein in sich abgegrenzter Sachverhalt ist, der
sich noch nicht fix an andere Sachverhalt bindet und ebenso das
Gehen des Landmanns. Es mag auch sein, dass die flüchtige Halluzination
des Feiertags nicht nur ein Gleichnis des Gehens, sondern auch eine versuchte
Verbalisierung des Morgens ist denn auch »des Morgens«
taucht so isoliert auf, als könnte er (vorübergehend) der Hauptgegenstand
sein. Erst zu Beginn der zweiten Strophe, mit dem Vers »So stehn
sie unter günstiger Witterung, /« begreift der Leser, dass
die gesamte, neunzeilige erste Strophe der Versuch eines Ausmalens der
Art ist, wie »sie« was immer »sie« sind
, »unter günstiger Witterung« stehen! Das kryptische,
polyphone neunzeilige, brüchig in sich widerstreitende Gebilde, soll
nun nicht mehr das Gehen des Landmanns, sondern das Stehen ungenannter
Gegenstände charakterisieren! Noch paradoxer: »sie«,
das könnten durchaus auch die Gegenstände der ersten Strophe
selbst sein zumindest unter anderen! Und wie wunderbar klingt »das
Feld zu sehn«, wenn man es rückblickend noch einmal liest:
Es ist, als ob ungewiss wäre, dass es noch (oder wieder) sichtbar
ist, was immer es sein sollte, dieses »Feld«. Die Phrase kann
sogar ein fragender Einschub sein. Auch sie ist noch unfertig, erst auf
dem Weg dazu, in ihr »Gestade« zurück zu treten.
Hölderlin machte aus dem landschaftlichen Atmosphärengleichnis
eine Art Aggregation von Splittern, die nach einem diffusen konvulsischen
Geschehen zusammenschossen wie Trümmer. Wenn es heißt, »fern
noch tönet der Donner,/ In sein Gestade wieder tritt der Strom«,
so kehrt etwas wieder in seine angestammte Ordnung zurück, gewiss;
es wird wortwörtlich wieder in Bahnen gelenkt, also auch in der Rede.
Nur: Diese Rückkehr zur gewohnten,eindeutigen Bezugsordnung und Energiegestalt
ist auch nur Schein, denn »sein Gestade« ist wie nahezu alle
syntaktischen Bezugsworte in Hölderlins reifen Partituren polyvalent.
Der Strom kann auch an die Stelle des Donners treten oder an die
Stelle des Landmanns. Der Regen erfreut den Weinstock, aber auch den Himmel
selbst, es erscheint wie ein eigentätiges Medium der Heiterkeit,
das Quell und Zielobjekt in wechselseitige Verhältnisse setzt
ausgerechnet der Regen! Selbst in diesen Details steckt das spekulativ-idealistische
(und immer auch etwas magische) Denken, dass das, was etwas anderes hervorbringt,
immer auch im selben Moment das Hervorgebrachte ist. Und »Regen«,
das ist nicht nur fallendes Wasser, es ist das Regen, das ist auch das
bewegende Aktivwerden. Und as Aktivwerden ist auch das Grünen des
Bodens: Vers 7 bindet wiederum über einen Bruch im Wort »Und«
hindurch, auch an die Vorzeile zurück: »Und frisch der Boden
grünet/ [
] von den Himmels erfreuendem Regen«
Alle Attribute binden bei Hölderlin im Moment des Lesens oft mehrfach
zurück, und zugleich nach vorne zu kommenden Gegenständen
das ist Hölderlins Adaption einer Kerntechnik des »Hohen Stils«
(sic!) Klopstocks, um spekulativ-idealistischen Denkfiguren zu realisieren.
Alles Verse der ersten Strophe können als Bedingung gelesen werden,
dass der Landmann geht oder/und als Charakterisierung der Art des
Gehens des Landmanns.
Es bedarf keines langen Überlegens, um zu erkennen, dass nichts von
dem, was Hölderlins berühmten Hymnenanfang, Ausdruck einer neuen
(in selbst übrigens nicht befriedigenden) Stufe seines Nachdenkens
über den »pindarischen« Stil im Deutschen, in der periodischen
Organisation ausmacht, in Falkners klischierender Paraphrase bewahrt oder
gar transformiert wird. Dass auf S. 30 des Gedichtbuches der Anfang der
Hymne im originalen Wortbestand abgedruckt wird, möchte man daher
fast wie ein Eingeständnis der Unnerreichbarkeit oder Unwiederholbarkeit
oder Unübersetzbarkeit des Originals lesen: Die ersten 7 Verse des
Gedichtes werden jeweils eingerahmt, der erste Vers auf der linken, die
restlichen 6 auf der rechten Seitenhälfte gesetzt. Es wirkt ein wenig
wie ratlos eingerahmt, als ob noch nach einem Ansatz gesucht wird, wie
man Gebilde aufzufassen oder zu imitieren habe. Dass Vers 1 separat nach
links gerückt ist, wirkt, als wollte jemand Klarheit gewinnen darüber,
wie diese beiden Eingangsphrasen sich zu den nachfolgenden verhalten.
In Falkers kalauernder Paraphrase »Wie wenn am Freitag/ falls es
Wind und Wetter da noch gibt/« ist nicht ganz im Ernst und auch
nicht bloß parodierend Hölderlins kunstvolle Arbeit mit der
Gleichzeitigkeit von Konditional und Als-Ob nachgeahmt zu werden
während Hölderlins Arbeit mit der Doppeldeutigkeit des zweiten
»wenn« getilgt wurde. (Das zweite »wenn« kann
bei Hölderlin auf derselben Hierarchieebene wie das erste »wenn«
gelesen werden und somit als verkürzte Wiederholung des »wie
wenn«, doch das zweite »wenn« kann auch eine weitere
Bedingung in einer niedrigeren Stufe der syntaktischen Hierarchie anzeigen,
sodass wir es mit einem Bedingungssatz innerhalb eines Bedingungssatz
zu tun hätten.)
Falkners Nachstellung des »da« dürfte Hölderlinsche
Partikeleinsätze zu imitieren, darunter doppeldeutige Funktionsworte
wie »es« oder eben »da«, das temporale oder spatiale
Relationen markieren kann, aber auch kindlich auf etwas deuten. Letztere
Funktion wird in Falkners betont lässiger oder auch willkürlicher
Inversion nicht aktiviert.
Der Beginn des Verses 2 »falls es Wind ...« bricht Hölderlins
polysyntakisch Konstruktion auf Alltagsparlando herunter und artikuliert
nichts als einen Konditional möglicherweise mit der Idee,
sozusagen als Ausgleich für diese Trivialisierung die idiomatisch
gebundenen »Wind und Wetter« in eine ostentativ hohl tönende,
sentenzartige Ausmalung dieser falls-Bedingung auszugleichen.
Die Folgezeile »und um das weite Felde zu sichten« imitiert
Hölderlins querständige »Und«-Zeilenanfänge,
spricht aber den Zweck des Tuns banal aus, der bei Hölderlin nur
ein Oberflächenschein war. Dass das speckig abgegriffene geflügelte
Wort vom »weiten Feld« darin verwendet wird, ist wohl als
Montage einer längst hohl gewordenen Sprechfloskel gemeint, bleibt
jedoch ohne weiteren ästhetischen Mehrwert.
Eine äußerliche Imitation der »Harten Fügung«
(die in »Wie wenn am Feiertage« Hölderlin vermutlich
selbst nicht befriedigte, weil sie zu wenig Pindarisch war!) sind Falkners
sperrige Nebensatzeinschübe in den Versen 2-4, denen mit »wir
zu den Göttern fliegen« in Vers 5 eine Fortsetzung des Anfangsgliedes
folgt (»Wie wenn am Freitag
wir zu den Göttern flögen«).
Nur eben: Es sind äußere Imitationen von Baustrategien, denen
die eigentliche, erkenntniskritische Motivation Hölderlins fehlen
und ohne jede Konsequenz für die weitere Sprachgebung bleiben: Der
Rest des Gedichtes läuft in konventionellem, prosanahen Parlandoton
durch, als hätte sich das Gedicht nicht anfangs mit Erinnerungen
an einstige periodische Künste abgemüht.
Andere Texte in Falkners Buch versuchen sich konsequenter an solcher grammatischer
Querständigkeit, etwa »Flucht & Vertreibung« (HR
25). Ohne ein Konzept der periodenvermittelten Erkenntnis dürften
syntaktische Querstände kaum als Erkenntnismittel, sondern eher als
eine Art Störeffekt oder Aufrauhungsmittel des lyrischen Parlandos
erfahren werden.
V. Aus- und Rückblick: Falkners Hölderlin Reparatur
in der Geschichte der verschiedenen Kunstgattungen
Es scheint vorderhand zweifelhaft, ob man mit solchen Remixes wirklich
mehr erreicht, als in Sachen sprachlogischer und erkenntniskritischer
Durchdringung hinter Hölderlin zurückzufallen und zu versuchen,
die dadurch entstehende Verlegenheit in einen Gewinn an Subjektivität
und Vielfalt und Freiheit des Klitterns umzumünzen. Dennoch sind
Falkners »Reparaturen« der erhabenen Rede gewiss von ganz
anderer Bewusstheit, Entschiedenheit und Freiheit, als es die eher hilflosen,
verdrucksten Versuche der Gründergeneration der Mehrheitslyrik nach
1945 noch waren, der Faszination durch die »Idee des erhabenen Sprechens«
(oder auch durch Eichendorffs kristalline Artistik der Simplizitätsfassaden)
nachzugehen im Wissen, dass es kein bloßes Zurück mehr geben
kann, doch ebenso ein Vor auf ganz neuen Sprach- und Textmodellen.
Falkner greift schon generationsbedingt aus ungleich größerer
Entfernung auf diese elaborierten Kunstsprachen zurück eher
wie auf archäologisches Material denn auf eine fortlebende Vergangenheit.
Und vielleicht erfolgt dieser Rückgriff in Verwunderung darüber,
wieso in der Wortkunst schon die Idee der erhabenen, artifiziellen Entrückungsrede,
auch wenn im Falle Hölderlins eine gewisse affektive Direktwirkung
noch spürbar sein mag, als Sprachkonzept so antiquiert und in keiner
Weise wiederholbar erscheint doch hernach kein tragfähiges
Konzept einer neuen, artifiziellen Erhabenheit mehr entstand. Darin unterscheidet
sich die Geschichte der Dichtung fundamental von der Geschichte anderer
Künste: In Zeiten der triumphierenden »Historischen Aufführungspraxis«
wird Alte Musik als Gegenwärtiges empfunden, Johann Sebastian Bachs
Kunst der Fuge oder die H-moll-Messe dürften zu den abstraktesten,
komplexesten Werken der Musikgeschichte gehören doch sie sind
im alltäglichen Bewusstsein verankert. Velazquez und Frans Hals sprechen
zu uns, als wäre es gestern gewesen, ein barock gedichtetes Versdrama,
da sich womöglich derselben ikonographischen Motive bedient, befremdet
dagegen heute. Wir müssen uns das Versdrama umständlich erschließen,
können es eher historisch achten oder gegebenenfalls bewundern. Wie
fremd und fern und museal erscheinen literarische Texte der Renaissance
heute während die extrem artifizielle Musik Palestrinas oder
Machaults selbstverständlicher Teil der Rundfunk- und Konzertprogramme
ist. Die spätromantischen, zweifellos das Erhabenste suchenden Kolossalgemälde
Anton Bruckners, die das Erhabene mit dem Alltäglichsten verschränkenden
Weltsinfonien eines Gustav Mahler und andere aufs Monumentale, Transzendente,
Überwältigende zielenden Kompositionen aus der Zeit um 1900
berauschen heute Millionen Menschen doch wer würde heute hingerissen
die orphisch inbrünstigen Gesänge eines Alfred Mombert oder
Theodor Däubler lesen?
Wenn überhaupt, liest man aus früheren Epochen noch Texte, die
szenisch abbildend erzählen oder solche, die heutige Standardschemata
von Lyrik erfüllen. Carl Philipp Emanuel Bach gehört
zum Repertoire, doch Klopstock, den er vertonte, befremdet, gilt als schwierig
und vergangen. Es gibt seltsame Ungleichzeitigkeiten in der Geschichte
der verschiedenen Kunstgattungen gerade, was die Idee des erhabenen
Sprechens angeht. Hölderlin scheint in mancher Hinsicht (vielleicht
ähnlich wie Kleist) eine Ausnahme zu sein, die die Regel bestätigt:
So fremd und zeitbedingt seine artifizielle Sprache wahrgenommen wird,
scheinen doch manche Affektgesten und Bilder lebendig und
direkt zu rühren. Wir sahen allerdings am Beispiel des Gedichtes
Hälfte des Lebens und en passant auch am Entwurf Wie
wenn am Feiertage, dass diese Art direkte Gefühlsansprache
kaum etwas mit den eigentlich poetischen Ideen und Qualitäten zu
tun hat ganz wie Hölderlin es in seinen poetologischen Notizen
beschrieb.
Diese Fremdheit und prinzipielle Antiquiertheit des traditionell Erhabenen
in der Dichtungssprache im Gegensatz zur lebendigsten Gegenwart des Erhabenen
in traditioneller Musik, Malerei und Architektur wird umso erstaunlicher
und beunruhigender, wenn wir den Grad der erkenntniskritischen Bewusstheit
und Virtuosität hinzurechnen, mit der ein Hölderlin Sprachlogik,
Gedanke, Gefühl und Phänomen in wechselseitige Verhältnisse
setzten konnte wo doch die Systemlogik des Wortsprachensystems
von Äußerlichkeiten der zeitbedingten lexikalischen und idiomatischen
Präferenzen abgesehen dieselbe ist, die noch wir selbstverständlich
nutzen. Das heißt: Gerade solche dichterischen Redeweisen, die aus
besonders komplexer, hintersinnniger und konsistenter erkenntniskritischer
Durchdringung der sprachlogischen Potentiale hervorgehen, sind heutigen
Lesern fremd und museal geworden.
Solange man sich dagegen beispielsweise auf die scheinbare Schlichtheit
von Liedern (»Songs«) beschränkt, stellt sich das Problem
der Fremdheit und Antiquiertheit dichterischer Gestaltungsweisen der Vergangenheit
nicht oder zumindest nicht in gleicher Intensität: Niemand empfindet
Wilhelm Müllers Sprach- und Textkonzept des popularen Liedes demodiert
allenfalls eine gewisse Art von Sentimentalität oder Symbolik,
also gewisse Konventionen des Empfindens oder Veranschaulichens. Popsänger
können bruch- und hemmungslos barocke Lieder trällern und das
als Beweis des immergleichen Wesens der Musik ausgeben. Nein, der eigentliche
Konflikt des Gefangenseins im letztlich nicht prinzipiell anders zu organisierenden
Verbalsystem bricht erst auf, sobald man emphatisch sprechen will, mit
Macht und philosophischer Ambition die affektive und epistemische Übersteigung
des Alltäglichen wie zugleich des Einfach-Sangbaren durch eine spezifische,
kunstvolle, artifizielle Organisationsform der Sprach-, Gedanken- und
Affektlogiken sucht. Und wie immer Gerhard Falkner die Gewichte zwischen
dem Tumult der neuen, fragmentierten und superkurzen Einsatz- und
Bereitschaftssprachen und der Idee des erhabenen Sprechens
verteilen mag ein so passioniertes Abarbeiten an letzterer, wie
Falkner es vorführt, wäre ganz unerklärlich, wenn man sie
lediglich für einen Code unter hundert im Prinzip gleichwertigen
ansähe.
Kunstmusik hat wie die Bildende Kunst seit mehr als einhundert Jahren
immer wieder ganz neue Systeme des Darstellens und Ausdrückens und
Sinn-Erfahrens erfunden. Das ist dem Literaten verwehrt: Er hat nur dieses
eine Symbolsystem, das auch Matthias Claudius, Hölderlin, Lessing
und Rilke benutzten. Was sich änderte, sind Konventionen des Geschmacks
im Lexematischen, Morphologischen und Idiomatischen, sprich: zeitbedingte
Füllungen und Verwendungen, nicht das System selbst. Gewandelt haben
sich allerdings das Wissen und die Interpretationen, wie und weshalb der
Mensch sich mit diesem einen verbalen Symbolsystem zu sich und zur Welt
verhält; sich diese wichtigste Dimension der Geschichtlichkeit bestimmter
Sprachkonzepte anzueignen, setzt jedoch erhebliche Abstraktionsmühen
voraus und die Fähigkeit, diese mit der poetischen Kompositionspraxis
in furchtbaren Austausch zu bringen.
Ob sich innerhalb dieses nicht fundamental veränderbaren Systems
tragfähige, das Kommen und Gehen der Lebensstile überdauernden
Begriffe des erhabenen Sprechens grundlegend anders entwickeln lassen,
als es die Tradition tat, ist eine vorderhand unbeantwortbare Frage. Daher
bleibt es eine offene Frage, ob das Erhabene als genuin wortkompositorisch
gestiftete (also nicht bloß als gefühlte, behauptete oder vorgestellte,
die lediglich in Worten ausgedrückt wird) Erfahrung in der heutigen
Welt nurmehr in der Erinnerung lebt, oder nicht doch noch einmal, wie
gebrochen auch immer, neu geschaffen werden kann.
Wenn man diese wie immer zu differenzierenden systemischen Besonderheiten
des Wortsprachensystems sich vor Augen führt, erscheinen die Aporien
von Falkners »Reparatur«-Versuchen nicht mehr als Zeichen
persönlichen Versagens, sondern als Ausdruck einer heroischen Konsequenz:
Der Literat, eingesperrt in das eine, nicht grundsätzlich (in absehbaren
Zeiträumen) reformierbaren Kommunikationssystem, muss eigentlich
bei jedem Schritt, den er auf dem Papier tut, das Vor-Bild der Klassiker
im Nacken sitzen haben, um zu erfahren, was möglich ist in diesem
einen Symbolsystem, das das unsrige ist, wie es schon dasjenige Hölderlins,
Goethes, Lessings, Brockes war. Doch in eben diesem System scheinen bereits
alle grundlegenden Strategien der Organisation von Sprachlogik lang zuvor
erprobt und praktiziert zu sein, und das oft mit einer Differenziertheit
und Komplexität und Konsistenz in der Organisation des Außerordentlichen,
die kaum noch einmal erreicht werden dürften. Falls Hölderlins
Stringenz, periodische Logik und erkenntniskritische Motivation zu verschränken,
tatsächlich nicht mehr erreicht werden könnte, widerführe
Dichtern, die sich Hölderlin, Inbegriff des erhabenen Redens auf
dem Wege des praktischen Imitierens nähern wollen, etwas Ähnliches
wie Musikern, die den Tonsatz von Mozart, Bach oder Beethoven zu imitieren
suchten, oder Malern, die der Brillianz Adolf Menzels oder Eduard Manets
nacheifern. Man kann nur verlieren, doch man muss Nacheifern, um zu erfahren,
was möglich war.
Gesetzt selbst, Imitationen dieser kanonischen Modelle traditioneller
Virtuosität wären hie und da noch einmal verlustarm möglich
die Ergebnisse wären, wie sich versteht, allenfalls Zirkusnummern,
Fleiß- und Fingerübungen, keine poetischen Gebilde von heute.
Gerhard Falkners Versuche, Hölderlin in seiner zwar weiterhin unvermittelt
die Emotionen agitierenden, der Redeweise nach jedoch seltsam entrückten
Dichtung, zumindest partiell wiederzugewinnen, ohne die Zeitgenossenschaft
im Rede-Multiversum der späten Moderne zu leugnen, leben gleichsam
die Unlösbarkeit des Dilemmas aus weil sie sich nicht mit
vorschnellen Ironisieren oder bloßem Remixen begnügen, sondern
alle widerstreitenden Affekte auch durchleben und mit systematischem Impetus
sich am zerklüfteten Spektrum von Bau- und Sprechweise und Textkonzepten
als ganzem abarbeiten wollen.
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