Der ästhetische Gewinn durch mathematische Erkenntnis als Contradictio in adiecto
zu Oswald Eggers "Diskrete Stetigkeit"


Von einer Poetologie, die sich dem Wechselspiel zwischen Mathematik und Poesie widmet, werden sich manche vielleicht erwarten, daß sie die Grundbedingungen für dieses Zusammenspiel more geometrico darstellt, daß sie also, wie Euklids Elemente oder Spinozas Ethik, aus Definitionen und Axiomen die durch diese ermöglichten Aussagen herleiten wird. Das hieße, diese Poetologie machte sich für die gesamte Darstellungsweise die im Mathematischen so wesentliche Form eines Kalküls zunutze. Ebenso schlüssig ist aber - schon gar, wenn sich ein Dichter den Fragen nach dem Zusammenhang von Dichtung und Mathematik stellt - , die Darstellungsmöglichkeiten der Dichtung zu wählen, über solche Zusammenhänge also nicht (nur) in klaren, bedeutungsvollen Sätzen auszusagen, bzw. in distinkten, zum Ableiten reizenden Formulierungen zu handeln, sondern Zusammenhänge (auch) in durchgestalteten Assoziationen vorzuführen, zu zeigen. Für diese Art der Darstellung hat sich der Dichter Oswald Egger mit Diskrete Stetigkeit - Poesie und Mathematik entschieden, wobei sich in seinem Buch das Zeigen nicht auf die Figuren der Egger eigenen, aus Wortstämmen fortknüpfenden Schreibweisen beschränkt - "Wortstamm, Stammwort und Stammwortstamm und Wortstammwörter und Wort-Wort-stämme mit (stummen) verästelten Aspekten und Wissenszwieseln, die sich gabeln …" - , sondern auch durch von ihm gezeichnete Muster, Kurven, gekrümmte Flächen und Körper mit Aus- und Einstülpungen geschieht.

.....Wenn Max Bense mit seinem Diktum (in Geist der Mathematik) recht hat, "daß, genau genommen, heute die Mathematik an die Stelle der alten Metaphysik getreten ist", gehört Oswald Egger zu den metaphysischen Dichtern, bei denen es sich per Definitionem auszahlt, die Hintergründe ihres Schreibens näher zu beleuchten. Bei der von Egger gebotenen Fülle von Bezügen wäre dies tiefgreifend nur möglich, wenn vorbereitend (nach dem leuchtenden Vorbild Bense) grundlegende Unterscheidungen eingeführt und Schlüsselbegriffe analysiert werden. Denn wie sonst sollte klar werden, wie sich Metaphysik in Mathematik hinüberretten und dann mit deren Hilfe in Poesie breit machen kann? Einer der Gegensätze, an denen eine solche Unterscheidung festgemacht werden könnte, ist der zwischen Struktur und Begriff. Die Crux sprachlicher Reflexion, daß es sich bei beiden Ausdrücken um Bezeichnungen von Begriffen handelt, läßt sich nicht vermeiden, und ist diese Dichotomie einmal gesetzt, drängen sich andere Begriffspaare auf, wie Erfahrung und Spekulation, Werden und Sein, Ästhetik und Denken, Ornament und Traktat, Außen und Innen bzw. Oberflächen- und Tiefenstruktur, oder warum nicht gleich: Mathematik und Logik.

.....Das letzte Begriffspaar könnte, wird es als Paar von Gegensätzen gesehen, als Beweis genommen werden, daß hier noch Metaphysik außerhalb der Mathematik betrieben wird, obwohl es - mit verbindendem und gedacht - auch für eine "metaphysische" Position innerhalb der Mathematik stehen könnte, nämlich jene des Logizismus, die Bertrand Russell vertreten hat, und die Mathematik auf Logik zurückführen will. Wenn Egger gleich auf der ersten Seite mit "Denk nicht, schau" einen Absatz beginnt, schlägt er sich gleichsam auf die Seite der Mathematik, die nach gängiger Auffassung für das Erfassen und Wiedergeben von sich den Sinnen bietenden Strukturen und Proportionen geeigneter scheint als das Ordnen von Merkmalen in Kategorien, für deren Verwaltung dann die Logik zuständig wäre, und wenn er das Buch "Mitten im Leben ... wie in einem Wald" beginnt, so ist der Bezug zu Dante hergestellt, der den Dichtenden rät: "Schau hin, und geh vorbei!" Das widersprüchliche Denkverbot hat anti-cartesische Konsequenzen, z.B. in Vergangenheitsform, in einer von den durch Fettdruck hervorgehobenen Texteinlassungen im Buch: "Nicht ich wußte, ob ich sprach und existierte. Ich wußte nicht, ob ich war."

.....So unverwandt sind Mathematik und Logik also nicht, und damit auch nicht - die Dichtung sei Beweis! - Ästhetik und Denken. Der Zürcher Mathematiker Andreas Speiser, der in Vielem, vor allem mit seinem unter anderem von Ornamenten handelnden Buch über Gruppentheorie, die Quelle der Einsichten Max Benses war, zitiert in Die Mathematische Denkweise aus Platons Timäus, daß zwei Dinge sich nicht auf schöne Art vereinigen könnten, käme nicht ein Drittes hinzu. "Denn es muß ein Band zwischen ihnen entstehen, das sie vereinigt. Das kann am besten die Proportion vollbringen." Als Beispiel wird dort der goldene Schnitt gebracht, wo sich die kleinste Zahl zur mittleren wie die mittlere zur größten Zahl verhält. Und in der Logik? Egger, dem im ganzen Buch Naturphänomene wie Wald und Wetter die Topoi liefern: "- Entweder es regnet, oder es regnet nicht." oder: "Entweder rief der Kuckuck, oder er rief nicht." Daß in der Logik nicht nur der Satz vom ausgeschlossenen Dritten gilt (den die mathematischen Intuitionisten nicht uneingeschränkt gelten lassen wollen), sondern auch ein Drittes hinzukommen muß, das die Schaltungen richtigt betätigt und das Eine mit dem Anderen ins Spiel bringt, illustriert die Rätselfrage ganz gut, die dem Wahrheitssager, der immer die Wahrheit sagt, oder dem Lügner, der immer lügt, gestellt werden soll, wobei die zwei Auskunft gebenden an einem Scheideweg stehen, und der nach dem richtigen Weg Fragende nicht wissen kann, ob er die Frage dem Lügner oder dem Wahrsager stellt. Die Frage, die gestellt werden muß, ist, welchen Weg der Andere als den richtigen bezeichnen würde. Die Antwort wäre auf jeden Fall der Hinweis auf den falschen Weg und so könnte im Ausschlußverfahren der richtige ermittelt werden. Als poetologische Gegen- oder Kernfrage nach der Formulierung, die daneben geht, oder als Anreiz zur experimentellen Erzeugung von Unsinnssätzen könnte dann Eggers Frage herhalten: "Überhaupt: kann ein Satz so falsch sein, daß auch seine Verneinung falsch ist?" (Dichter und Lügner sind für Platon bekanntlich eng verwandt.)

.....Oswald Eggers Buchtitel verweist die Gegensatzpaare in das Innere der Mathematik, wobei er mit dem Oxymoron Diskrete Stetigkeit, dieses schönen Beispiels einer mathematischen Contradictio in adiecto, gleich den unbedingten Dichterwillen zur Synthese, zur Aufhebung der Gegensätze mitbezeichnet. Innerhalb der Mathematik könnte also die Stetigkeit oder das Kontinuum für das Erfahrbare stehen, das Diskrete für die Analyse, die Begriffe. Dies sind essayistische Entsprechungen, die der Tatsache nicht gerecht werden können, daß in keiner Wissenschaft die Begriffe so eindeutig und genau definiert und miteinander ins Spiel gebracht werden und in keiner Disziplin so viel und so scharf gedacht wird wie in der Mathematik, und gerade deswegen können in ihr (ist man formalistisch gewickelt - das mathematische Pendant zu den konkreten Poeten) Denken und Schauen (auf das, was die Zeichen machen oder machen dürfen) in eins fallen. (Und daß mathematisch wie kategorisch Imperative gelten, ist vielleicht schon die ganze Moral von der gemeinsamen Geschichte!) Das gegeneinander Ausspielen von diskret und stetig findet sich im zenon´schen Lauftext des Buches häufig wieder, etwa: "Gegensätze, aus deren Kreuzung - von Mal zu Mal gepurzelte - Formen der Kombination hervorgehen, sind fließend: das Diskrete ist auch wiederum stetig zu denken, Stetiges diskret, Gleiches verschieden (ungleich) das Verschiedene gleich." Oder: "... stets hatte ich den See diskret zur Linken, als wollte ich die Hand eintauchen können, stetiger, und nun konnte ich ihn nicht erreichen, jetzt nicht fassen." Die Wahrnehmung, die den vom Ufer gefassten See isoliert und als See bestimmt, ist selbst schon von diesem Begriff bestimmt, was das wirkliche Erreichen bzw. Erfassen des Gesehenen in Frage stellt. Die Unerreichbarkeit, die im Mathematischen das Infinitesimale auf den Plan ruft, ist vielmehr Voraussetzung für die Analyse des Kontinuums. Als weiteren Widerstand gegen die schematische Entleerung der Phänomene könnte Eggers Verharren bei den Unregelmäßigkeiten durchwachsener Randzonen gedeutet werden, das sich z.B. in seiner Vorliebe für Wortkonglomerate - "Staublichtflocken", "Haudegenhebel" - und ausgefallenes Vokabular wie Pflanzennamen, Fachsprachliches etc. äußert.

.....In Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft schreibt Hermann Weyl über das Kontinuum: "daß das Kontinuum nicht ein abgeschlossener Inbegriff, sondern ein ins Unendliche offenes Bestimmungsfeld ist; denn sonst käme man doch auf das Aristotelische Schema der charakteristischen Merkmale zurück ... Man muß also die einzelnen unter den funktionalen Begriff fallenden Gegenstände erzeugen, darf aber nicht fragen (in der Meinung, damit einem an sich bestehenden Sachverhalt gegenüberzutreten), ob ein vorgelegter Gegenstand unter ihn fällt." Weyl hat als mathematischer Theoretiker den Standpunkt des Intuitionismus vertreten, der neben dem Logizismus und dem Formalismus zu den "metaphysischen" Positionen in der Mathematik gehört. Im Gegensatz zu den Logizisten und Formalisten, denen der kalkulierbare, konsistente Umgang mit mathematischen Gegenständen bzw. Ideen genügt, um von ihrer Existenz überzeugt zu sein, müssen für den Intuitionisten mathematische Gegenstände in endlich vielen Schritten erzeugbar sein, damit ihnen Existenz oder zumindest die Berechtigung, mit ihnen zu rechnen, zugeschrieben werden kann. Das bedeutet in Bezug auf das Unendliche, um auf einen Schlüsselbegriff bzw. wiederkehrenden Ausdruck bei Oswald Egger zu kommen, daß der Intuitionist gegen den cantorschen Begriff der Menge und eines absoluten Unendlichen, mit dem gerechnet wird, ins Feld zieht, und nur das aktual Unendliche gelten läßt, das soviel bedeutet wie, daß bei bestimmten mathematischen Aufgaben eben infinit nicht in endlich vielen Schritten zu einem Abschluß gekommen werden kann. "Sie gehen nicht, sie rücken vor gegen Unendlich (wie Achilles)", dieser Satz Eggers könnte auf die Intuitionisten gemünzt werden, aber auch mit dem Mengenbegriff wird in Diskrete Stetigkeit gespielt: "Konnte ich mir den Wald als unzählbare bzw. überabzählbare Menge hintereinander geordneter Stäbe oder Stangen denken?"

.....Was genuin philosophisch-metaphysische Auseinandersetzungen betrifft, hat Egger trotz seines mathematischen Paradigmas keine Berührungsängste, beispielsweise, kantisch initiiert, der mittelalterliche Streit zwischen Realisten und Nominalisten: "Das Korollar aus verschieden okularen Wortarmen vermag erstarrte, aus der Luft gegriffene Annahmen zum Ding an sich zu drehen (und neu zu schmieden). Einmal verbirgt sich das Typische, das Universale, der Rede oder Realität nach, in Charakteristika, und kann - in Wahrheit - heraus- und ausgestellt werden ("universalia sunt realia"). Oder es steckt in Wirklichkeit Nichts, das ist, hinter dem Charakteristischen, und ist (und ist nicht) typisch - nichts anderes als Name, den der Vergleich bewog ("universalia sunt nomina"). Sind nämlich Figuren "etwas wie" in Worten metaschematisch versetzte Sachen, dann müßten sie das kuriose Arsenal anschaulicher Wunderkammern beides, bilden und verklammern (und übereinstimmen)." Ersetzen hier in Zeichen realisierte Gestalten und rhetorische Figuren (oder allgemeiner: poetischer Sprachgebrauch) Sätze, die nach Wittgensteins Formulierung im Traktat ein logisches Bild der Tatsachen bieten können? "Doch nicht die Ordnung der Dinge scheint arrangiert, sondern die Dinge bringen in Ordnung, was Sache einerseits, und was Wort ist andererseits, und wozu beide das Zeug des Wirklichen haben, so sie übereinstimmen darin, dafür zu zeugen." Wer Oswald Egger im Weiteren beim Wort nehmen will, hat allerdings, ehe sie oder er sich versieht, selbst den referentiellen Nasenring, der zu poetischen Tapp- und Tanzschritten zwingt "bis hinauf zum Korollar des Berges (montes mus), auf dem der Bär tanzt ..."

.....Nichts, das ist erinnert nicht nur an den Titel eines anderen, früheren Buches Oswald Eggers, in dem er mit seinen mathematisch durchsetzten Reflexionen und Sinnsprüchen ansetzt, sondern führt Egger zu Meinongs Frage nach den "unmöglichen Gegenständen". Die Anspielungen auf diese, wenn es denn solche geben kann, sind im Buch zahlreich, zum Beispiel, wenn die Betrachtungen auf einer Doppelseite klangassoziativ von einem Plato-Zitat ausgehend (Theaetet, ein ausnahmsweise ausgewiesenes Zitat im Buch): "Wer eine Meinung hat, der sollte nicht ein Etwas meinen? ..." auf Meinong hinauslaufen: "Ein Gegenstand, der nicht möglich ist, zum Beispiel das runde Viereck, kann nicht wirklich sein. Es gibt keine runden Vierecke, auch nicht zwischen Erde und Himmel; runde Vierecke, sagt Meinong, sind deshalb "heimatlose Gegenstände"." Ein paar Seiten weiter sieht der poetologische Schluss daraus dann so aus: "Nun spricht das Gedicht davon, daß ein Wort ums andere nur so gedeutet werden kann, daß es sich auf nichtexistierende Gegenstände bezieht. Tatsächlich fußt die Annahme, daß es nämlich keine runden Vierecke gibt, auf surrealer, nichtwirklicher Ungegenständlichkeit." Es findet sich aber auch ein anderer Lösungsvorschlag, der einer poetischen Technik einiges zutraut: "... das runde Viereck ist ein Dreieck, das sich dreht: hatte Leibniz erst entdeckt, daß das Wort Triangel, durch anagrammatische Umstellung, den Begriff Integral in sich trug, war die Infinitesimalrechnung "erfunden", welche damit rechnen konnte, geringe Unterschiede und Differenzen (zwischen Berg und Bär etwa) zum Verschwinden zu bringen." Vor alldem wurde im Buch Leibnizens metaphysischste aller Fragen aufgeworfen: " ... warum etwas überhaupt existierte und nicht vielmehr nichts."

.....Das poetische ,wilde Denken', das sich von gegebenen Laut- bzw. Zeichenstrukturen inspirieren läßt, bildet mit seinen Figurationen gewissermaßen ein subversives Potential, metaphysische Begrifflichkeit zu unterlaufen und zu transformieren. Bei Oswald Egger gewinnt es durch das Verschmelzen mit mathematischen Disziplinen an Effektivität, an Ordnungs- und Umordnungsmöglichkeiten. Die Umsetzung mathematisch manipulierbarer Verhältnisse in eine Umgangssprache (auch so kann ihr eben poetisch zu Leibe gerückt werden) kann ja auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden, auf der konkreten, z.B. durch Quantifizieren und mathematisches Proportionieren der Lautzeichen, auf zu erschließenden Zwischenebenen durch Verschlüsselung gematrischer Werte, d.h. indem bestimmten Zeichen bestimmte Zahlenwerte zugeordnet werden, mit denen berechnet werden kann (der im Buch Eggers mitwesende Dante - "Ich sah ein, daß der "rechte Weg" verloren war" - war ein Meister dieses Fachs), wie auf begrifflicher Ebene, z.B. durch das Übertragen mathematischer Begrifflichkeit oder eben durch ihr abwegiges Anwenden zur schrittweisen Konstruktion des Unanschaulichen.

.....Am faszinierendsten, was die Umsetzung von Mathematischem in Sprachliches betrifft, und vielleicht auch am gewagtesten hinsichtlich dessen, was dem Vorstellungsvermögen der Leser zugetraut wird, ist Eggers kontemplative Aneignung und Umwidmung der Riemann'schen Geometrie. Sie ist deswegen so interessant, weil da am deutlichsten wird, daß sich sein ironisches Projekt, seine poetische Subversivität, die die Erzeugung von verschränkten Vorstellungsbildern anzustreben bzw. prozedural wiederzugeben vorgibt, auch gegen die Begrifflichkeit, die abstrakte Unsinnlichkeit und Vorstellungsarmut der konventionellen Lehrbuch-Mathematik selbst zu richten scheint. Dass Vorstellungsbilder trotz genauesten Beschreibungsmöglichkeiten schwer zu normieren sind, haben Literatur und Mathematik gemeinsam. So schreibt Bernard Bolzano, der dem spekulativen Zweig mathematischer Denker zuzurechnen ist, in Philosophie der Mathematik: "Daher denn auch, daß die Beschaffenheit dieses Bildes bei verschiedenen Menschen verschieden ist und sich nach tausend zufälligen Umständen richtet. [...] - Ich begreife daher auch gar nicht, wie Kant zwischen der Anschauung, die irgendein wirklich vor uns hingezeichnetes , und zwischen derjenigen, die ein nur in der Einbildung konstruiertes Dreieck hervorbringt, einen so großen Unterschied habe finden können, daß er das erstere zum Beweise eines apriorisch-synthetischen Satzes zwar allerdings für überflüssig und unzureichend, das letztere aber für notwendig und hinreichend erklärte." Hermann Weyl, als mathematischer Konstruktivist, leitet die für variable Raum-Zeit-Konstellationen sensible Riemann'sche Geometrie, in der einem Punkt mehr als die euklidischen Dimensionen zugeordnet werden können, aus Leibniz' infinitesimalen Kontinuitätsprinzip her, das die Grundrelationen der klassischen Geometrie nur bei unendlich nah benachbarten Punkten in Zeit und Raum gelten lässt. Weyl: "Zur analytischen Behandlung beliebiger stetiger Mannigfaltigkeiten wird also eine Theorie der Invarianz gegenüber beliebigen Koordinatentransformationen nötig …" Was unsere Anschauungen vom "notwendig homogenen Raum der Erscheinungen" betrifft, meint Weyl allerdings, daß sie sofort auf den klassischen, euklidischen Raum zurückgreifen müssen. Angesichts der allgemeinen Vorbehalte Bolzanos und der speziellen Weyls hat Eggers bildlich produktionsverpflichtete Untersuchungsrichtung einen doppelten Boden zu unterlaufen. "Diese Flächen konnten unbegrenzt (Kugel, Ring, Kringel) oder begrenzt gedacht werden (Viereck, Felder); es sei gleich bemerkt, daß alle unbegrenzten Flächen, d.h. Flächen ohne Randkurven, nicht immer verschiedene Seiten besitzen (die durch verschiedene Färbung unterschieden werden könnten), aber doch immer die Eigenschaft aufweisen, den Raum in zwei Teile zu teilen dergestalt, daß ein (außerhalb gelegener) Punkt der einen Hälfte mit einem (inneren) Punkt der zweiten Hälfte nicht verbunden werden kann, wenn das Überschreiten der Fläche nirgendwo gestattet ist." Seine Anweisungen zu einer Vorstellungsakrobatik, die nur aus langen Versenkungen über mathematischen Büchern und komplexen geometrischen Durchwebungen und Verschlingungen hervorgegangen sein können, begleitet Oswald Egger, wie gesagt, freundlicher Weise mit gekonnten, feinstrichigen Zeichnungen, die die dreidimensionale Bedingtheit unserer Anschauung nicht nur illustrieren, sondern im Zweidimensionalen benützen, um diese zumindest in einer programmartigen Proklamation der Randzonen des Poetischen als multidimensionalen, Innen und Außen umstülpenden Vorstellungsraum zu transzendieren.



Benedikt Ledebur


Oswald Egger, "Diskrete Stetigkeit", edition unseld, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2008