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Meinolf Reul //Lange belichtet, guter Abzug. weg vom fenster, Christoph Wenzels dritter Lyrikband


31 Gedichte versammelt weg vom fenster, Christoph Wenzels, nach zeit aus der karte (2005) und tagebrüche (2010), dritter Lyrikband. Der Titel kündigt es schon an: Wenzel wirft einen Blick auf Westfalen und Münsterland als ehemalige Bergbauregionen. Die Alten, die nach Abschluss ihrer Berufslaufbahn mit Staublunge am Fenster saßen, um ihre Atemnot zu lindern – und eines Tages gestorben, „weg vom Fenster“ waren: sie sind die proletarischen Penaten, die über die meisten dieser Texte wachen, in denen sich soziologische und poetische Genauigkeit verbinden.
Der Band beginnt mit einer Erinnerung an einen Sommer – Sex, Aufräumen der Festplatte, Fensterputzen; eine leichte Intro. Die letzten Verse sprechen von „den farbverläufen / dem aufgehobenen fraktionszwang eines sonnenuntergangs“ und leiten über zu den „deklinationen der sonne“ des nachfolgenden „fièvre marrakechien“. Marrakesch markiert den topographisch fernsten Ort, der in weg vom fenster beschworen wird. Das titelgebende Fieber äußert sich in Empfindungen von Kälte und Hitze; „schnee“ und „feuer“ treffen sich auf der Haut des Kranken, von draußen schallen Hahnenschrei, das Flötenspiel eines Schlangenbeschwörers und der Ruf des Muezzin herein bis an sein Lager: ein Fieberbild, wie geträumt.
Von Marrakesch geht es nach Amsterdam und an die Nordsee: „lenkdrachen drehen an der sichtbarkeit / des windes – ihr motorengeräusch und / der klang alter scharniere mit dem die vögel / [...] rufen“. Schafe auf dem Deich, Seesalz, das in der Luft liegt und, „lungengängig“, vielleicht den Husten lindert, der in den Bronchien überwintert hat: So schön ist ein Tag am Meer, und man bekommt Lust, hinzufahren.

Zentral der zehnteilige Zyklus „das schwarzbuch die farbfotos“, für den Wenzel beim diesjährigen Lyrikpreis Meran ausgezeichnet wurde. Ein Album in Worten, in dem in dokumentarischer Präzision eine kleine Welt fortlebt, die über Jahrhunderte für die Region zwischen Ruhr, Lippe und Emscher prägend war.
Gute Gedichte sind – nicht prinzipiell, aber oft – auch Wortaufbewahrungsstellen, und so finden sich im „schwarzbuch“ spezialsprachliche Begriffe wie „kaue“, „sauberjunge“, „strecke“ (waagerechter Grubenbau, der von einem anderen Grubenbau ausgeht), „grubensocken“ (auch als Pütt-Socken bekannt), die, untermischt mit Regiolekt („lorenz“ für „Mond“, „jaust“ für „Bengel“, „klümmchen“ für „Bonbon“) und Soziolekt („vadda“, „pulle“), eine Quasi-O-Ton-Qualität und -Funktion haben. Die erwähnte soziologische Genauigkeit kommt auch und vor allem da zum Tragen, wo die Texte vom Alltagsleben und von den Hobbies der Bergarbeiter handeln, dem Brieftaubensport zum Beispiel (Wenzel hat dessen Sprache recherchiert und u. a. für das IX. Gedicht des Zyklus' („BERGAUF“) fruchtbar gemacht.) Kein Wunder eigentlich, dass die Männer, die ihr Arbeitsleben unter Tage verbringen („schwarze ringe / um die augen um die nase eine blässe glänzend“), in ihrer Freizeit „kröpper“ und „duwen“ in den Himmel werfen, dessen „dürre lichtausbeute“ 1961 Thema einer Wahlkampfrede Willy Brandts war: „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden.“ (Hinweis und Zitat finden sich in einem Glossar am Ende des Büchleins.)
Typisch auch der „pitter“ (Schrott- bzw. Lumpensammler) (VIII), und natürlich der Bolzplatz (VI): eine „abstiegsgefahr“ bestand schließlich nicht nur in Bezug auf den Bergbau; da aber besonders: „manch guten kameraden deckt / schon längst der grüne rasen“, zitiert Wenzel einen einschlägigen Vers.

Zwei thematisch verwandte Gedichte, die mit vier weiteren aus dem vorherigen Band, tagebrüche, übernommen wurden, „GLÜCK AUF“ und „NEUE HEIMAT“, leiten über zu Texten, in denen sich Wenzel seiner westfälischen Heimat in Erinnerungsbildern nähert. Sie weiten den Blick in die Landschaft und in die neue Zeit, in der die Industriekultur der Kulturindustrie Platz machte; Wenzel bringt den Strukturwandel in der Fügung „das ausgestellte förderrad“ bündig zum Ausdruck. Dem Leser kommen hier vielleicht die Becher-Photographien von Industriedenkmälern in den Sinn, oder die, zeitlich früher liegenden, Reportageaufnahmen eines Alfred Renger-Patzsch oder Heinrich Hauser. Photo-, auch filmkünstlerische Bezugspunkte sind in der Bauart der Gedichte selbst auszumachen. Überblendungen und Doppelbelichtungen verdichten und entwickeln die Worte und Bilder zu komplexen Sprachgebilden, die sich aber immer im Rahmen einer Linearität bewegen, nicht die Fragmentierung, sondern gewissermaßen eine 'Sämigkeit' suchen. Die Bilder/Worte werden beim Lesen eins nach dem andern 'angeschlagen', hallen nach, überdecken sich in einem Bildcluster.
„EIN INSEKTENSTICH“ mit seinen semantischen und syntaktischen Überlappungen ist hierfür ein gutes Beispiel.

Selten erliegt Wenzel der Versuchung einer Pointe – so am Schluss von „IM NICHTS HAUSEN“, das von einem Vers Ernst Meisters ausgeht. Pointiert sind Wenzels Beobachtungen ohnehin. Worte wie „trinkhalle“, „kühlturm“, „spannungsmasten“, „silos“, „kühe“ lassen im Kopf des Lesers Stadträume und Landschaften erstehen – Landschaften, von denen es an einer Stelle heißt, sie seien „wie kopfschmerzen“.

Eins der schönsten Gedichte des Bandes ist „spielplatz, abends, am kamp“. Die Jungs „ziehen hektisch an den zichten“, aus dem Sand „wachsen kippen, scherben“, „kronkorken“ blitzen im Abendlicht auf. Der öde Ort bietet Raum für „lachen“, „wut“, „harte debatten“, „ärger“. Die Kleineren gehen auf die Geräte. Vom Schaukeln bleibt ein „schwankend herz“, vom Karussellfahren „ein drehwurm, der noch anhält bis nach haus / zum abendbrot mit mutters dick mit / spätem licht bestrichnen kniften“.

// Meinolf Reul

Christoph Wenzel, weg vom fenster. Gedichte. 32 Seiten, Klappenbroschur. vorsatz verlag, Dortmund 2012 (roterfadenlyrik / Edition Haus Nottbeck, Oelde). 5,00 Euro

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