Aufruf zu einer neuen Lyrik (angesichts eines Debütbandes von
Steffen Popp)
Was SteffenPopps Gedichte schon auf den ersten Eindruck sympathisch macht –
ist ihre Unbekümmertheit um die Meinungen darüber, was heute angeblich
geht und nicht geht in der Lyrik bei gleichzeitig hohem und reflektiertem Sprachumgang.
“Mein Herz – eine Sprengwolke” heißt es bei Popp –
und in der Tat sind seine Zeilen immer wieder kleine Sprengwolken für Leser
– und wem nicht der ein- oder andere Splitter ins Auge fliegt, hat sie
nicht zu lesen verstanden. Daß dabei einiges durcheinandergerät ist
klar. Verse von hoher Bedeutung mischen sich mit Banalitäten und Abschweifungen.
Immer stimmt dabei aber die Intonation mit ihrer Mischung aus luzider Überdrehtheit
und ironischer Abfederung inclusive skurriler Beäugung alles Terrestrischen.
In seinem fiktiven Nachwort treibt es der Autor dann fast zu studentisch-bunt,
aber Popp verzeiht man diese ungehemmte Wilderei. Er ist natürlich auch
vom neustimmungsvollen Lyrikmilieu in Deutschland beeinflußt (und entsprechend
ist manches mit romantischen Zügen versetzt) – aber er entgeht den
üblichen Fallen und erweist sich vor allem, anders sowohl als seine frühvergreisten
gleichaltrigen wie auch seine vierzigjährigen, immer noch “jung”
genannten Kollegen – tatsächlich einmal als junger, aber eben nicht
“seriöser” und von einem unsichtbaren “Kanondruck”
entstellter Autor. Es sind dies sicherlich keine Gedichte, die den Eindruck
großer Austariertheit wecken. dafür sind sie komprimiert und vor
allem glänzen in ihrem Kürmel fast genialisch anmutende Zeilenperlen
von E.T.A.Hoffmanscher herzbetäubter Verstiegenheit: “am Fenster
der grauen Kaschemme/ rollte das trunkene Auge des Heimleiters.” Wenn
man je darauf gewartet hat, jemanden unerhört nach Größtem greifen
zu sehen, ohne gewichtig sein zu wollen – manchmal findet mans hier: “das
Gralslicht der Tankstellen”. Unvergesslich auch die gelben Turnschuhe
der Jäger.
Popp folgt auf seine Art einer Berliner Tradition zwischen den Polen, die bei
aller experimenteller Energie immer wieder Rückkopplung mit energetischen
Momenten betreibt, eine Art Neue Entropische Literatur (NEP), deren harmonie-
und konsensresistenter Gestus schon immer stimmte, wenn auch nicht alle Erzeugnisse
einlösten, was die Haltung versprach. Nach Johannes Jansen, der vielleicht
eine Art mentales Scharnier zwischen der alten Prenzlauer Berg-Garde und der
neueren, etwas narrativeren Generation der Berliner bildet, zeigen Ron Winkler,
Monika Rinck, Daniel Falb oder Hendrik Jackson – daß sie, bei extremer
Verschiedenheit ein Grundzug eint: Sie nehmen zwar die Sprache als selbsttätige
Maschine wahr, aber zugleich treten sie Expeditionen in die Empfindungs- und
Wahrnehmungswelt an, mal soziologisch, mal mystisch übercodiert, aber meist
auf recht eigensinnige Weise. Es ist wohl klar, daß man pedantischem Einspruch
recht geben muß: Natürlich nicht alles, was die genannten Autoren
schreiben ist groß. Es geht um etwas anderes, um die Unterminierung von
jener Wahrnehmungsverunmöglichung, unter der auch die besseren Autoren
zu leiden haben. Denn letztlich geht es mit allen poetischen Prozeßen
nicht um das gedruckte und nicht das gesprochene Worte, sondern um das ungeschriebene,
Um die Partizipation, das Aufwachen in den Versen selbst, wie es Pasternak beschwor.
Und daran rührt und das ermöglicht diese neue Dichtung. Man möchte
ihr fast zurufen: Ja, es ist Zeit für eine neue Lyrik! Zeit für eine
fraglos sprachbewußte, aber rücksichtslos schwankende, entropische,
unausgegorene Lyrik, die sowohl wildert und wuchert wie auch kristalline Momente
magmatisiert.
Wir brauchen sicherlich keine Literatur für ausgedörrte Betriebstiger,
die sich von neuen Kombinationen kraulen lassen wollen. Wir brauchen auch keine
spätviktorianischen Stimmungsgedichte und keine stipendienbewußte
Professionalität. Dann lieber erklecklich ekklektizistsiche Traktate und
dreiste Rabulistik oder sonst etwas Abwegiges.
Nehmen wir die Fährte ins Ahnungsvolle auf, schreiten wir wie Lanzelot
mit tropfenden Schweißperlen, in einem nur verschwommen konturierten Panorama,
in die leere Referenzwüste, die von Transzendenz widerhallt.
Steffen Popp – Wie Alpen, Berlin 2004, kook-books
Hendrik Jackson