Einstieg
In meinen Beiträgen für Lyrikkritik möchte ich Einsichten und Beobachtungen publizieren, die sich nicht in einen "grauchsfähigen" Kontext (Rezension, Aufsatz etc.) einordnen, gleichwohl für manche von Interesse sein mögen, sofern sie in der Lage sind, sie zu eigenen Problemen in Beziehung zu setzen.
Den Anfang macht eine Fußnote, die die Arbeitsweise beim Verfassen eines Textes erläutert, der in der Edit Nr. 64 erschien.
Die Anregung bildete folgende Einladung: "Wie schlägt sich eine Bundestagswahl in der gegenwärtigen Gedichtproduktion nieder? Was kann man als Autor dem Wahlkampf abgewinnen?
Wir möchten anlässlich der anstehenden Wahl im September versuchen, die Wahlkampfprosa gewinnbringend in Gedichten anzulegen, und Dich zu einem Experiment einladen. Aus den Wahlprogrammen der gegenwärtig den Deutschen Bundestag bildenden Parteien haben wir jeweils die erste "sinntragende" Seite herausgenommen – eine willkürliche wie punktuelle Wahrnehmung – und wollen sie eben so willkürlich fünf AutorInnen zulosen. Entstehen sollen fünf Texte von fünf AutorInnen zu und mit den Wahlprogrammen der fünf Parteien. Wir stellen uns vor, dass die Textausschnitte ganz materialistisch behandelt werden; Es darf erasured, montiert, collagiert etc. werden was das Zeug hält. Natürlich ist eine darüber hinaus gehende inhaltliche Auseinandersetzung ebenso zulässig"
Um einen Eindruck von dem entstandenen Text zu geben, hier die ersten und letzten zwei Strophen:

Gemeinsam können wir Politik entwickeln

Wir wollen Reiche und Reichtum, Millionäre
Milliadäre, Kapitalvermögen
Verteidigen – die uns am Herzen liegen, die Lobby
Ausbauen und verbessern. Wir stehen für

Den Eingriff in Bürger- und Menschenrechte
Wir wollen Reiche und Reichtum, Millionäre
Im Betrieb auf der Straße in Initiativen
Verteidigen – die uns am Herzen liegen, die Lobby
...

E.ON, Vattenfall & Co. Gestattet
Wenn es darum geht, Armut und Niedriglohn
Gerechtigkeit und wachsende Ungleichheit
Das ist eine Frage der Demokratie

Milliadäre, Kapitalvermögen
Ausbauen und verbessern. Wir stehen für
E.ON, Vattenfall & Co. Gestattet
Gerechtigkeit und wachsende Ungleichheit!

Zunächst entnahm ich aus der Seite des Parteiprogramms alle Bruchstücke  aus  fortlaufendem Text mit jeweils 5 möglichen Betonungen. Zu diesem Ausgangsmaterial wollte ich zunächst fünfhebige Zeilen aus klassischen Dichtungen gruppieren. Ich strebte eine Montage an, die ihren bruchstückhaften Charakter eher vertuscht als offenbart. Wie ich jedoch schnell feststellte, haben diese klassischen Zeilen sobald Schlagwörter wie "Gerechtigkeit" Freiheit" etc. vorkommen, eine Tendenz zum pathetisch-Stereotypen. Sie reichen von ihrer poetischen Kraft kaum über das Material des Parteiprogramms hinaus. Insofern also kein nennenswerter Mehrwert entsteht, hat eine derartige Erweiterung des Ausgangsmaterials etwas seltsam Willkürliches. Daher entschloss ich mich, lediglich mit dem Material des Parteiprogramms zu arbeiten. Dazu musste ich die Materialbasis vergrößern. (Ich wertete den "Leitantrag des Parteivorstandes zum Wahlprogramm Bundestagswahl 2013" bis S. 35 auf fünfhebige Gruppen aus.) Mehr als ein irrer Gegengesang, der zwar die Meinung wechselt, den ausgetretenen Diskurs der Vorlage allenfalls an den Rändern überschreitet, war auf diese Weise jedoch nicht möglich.
Interessant ist die Frage wo der pejorative Gebrauch des Wortes "Lyrik" im Sinne unverbindlicher pathetischer Phrasen sich auf Eigenschaften der Gattung "Lyrik" selbst stützen kann. Lassen sich anhand dieses Beispiels Anhalte finden? Das zwischen Inklusion und Exklusion changierende "wir"  des Parteiprogramms z.B. hat auch in der Lyrik eine lange Geschichte. Dennoch ist es aktuell, wie Bettina Hartz in Ihrem Essay für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung bzw. Fixpoetry zumindest für die 0er Jahre bekräftigte. Das nach rein formellen Regeln aussortierte 5-hebige Material enthält tatsächlich weniger Argumente und damit unverbindlichere Textteile des Parteiprogramms: In Argumenten kommen oft lange Substantive vor, sodass die Stanzmaschine hier öfter auf Wortmitten träfe und damit fünfhebige Gruppen nicht entnehmbar sind.  (Überhaupt kommt der prägnante Eindruck, den lyrisches Sprechen oftmals macht, dadurch mit zu Stande, dass Dichter lange Wörter meiden und nur zu speziellen Zwecken einsetzen. Kürzere Wörter sind, etwa im Gegensatz zu Fachtermini, oftmals weniger konkret verbindlich.)
Dagegen schneidet die Stanze im Parteiprogramm der LINKEN genau an den Sinneinheiten in Passagen des Textes wo das Papier pathetisch und werbend wird: Eine Passage mit derartigen Eigenschaften ist der folgende Auszug, auf dem gleich 5 fünfhebige Gruppen aufeinanderr folgen "... die Frage, wie wir morgen leben wollen. Das ist eine Frage der Demokratie: Was stärkt unseren Zusammenhalt, was schafft gerechten Zugang für alle, worauf können wir in Zukunft verzichten? ..."(S.5 Zeile 143 -145) Die Macher des Programms dürften jedoch intuitiv eher nicht auf lyrische Modelle zurückgreifen, sondern auf verblasste Erinnerungen an Blankverse von Dramenmonologen.

Die zugeloste Seite sieht so aus: linke.pdf

Bertram Reinecke