Einige Bemerkungen über Anagramm und Palindrom als Prototypen der strengen Form

(Diesem Essay liegt mein Nachwort zu Titus Meyer „Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung“ zu Grunde. Herausgenommen wurden die Bezüge zu diesem Buch, Vergleiche mit anderen Bestrebungen der Gegenwartslyrik und allgemeinere Bemerkungen zum Sprachexperiment, die die andere Hälfte dieses Nachworts ausmachen.)

Die Gipfel, die man mit Hilfe anagrammatischer oder palindromischer Kunst erreicht, scheinen notorisch in einer Art Nebel oder Dunkel zu liegen. Gerade bei so strengen Texten mag man unsicher sein, ob man sich die Zeit nehmen sollte, sein Auge an dieses Schattenreich zu gewöhnen. Denn handelt es sich bei solchen rigiden formalen Spielen nicht eher um eine Art höherer Kreuzworträtselei? Zunächst spräche ja nichts dagegen: Auch ein ausgefülltes Kreuzworträtsel kann ja ästhetischen Genuss bereiten. Wenn wir ein Kreuzworträtsel zu Recht als Kunst nicht ernst nehmen, liegt der Grund darin, dass wir die Frage nach der Schönheit mit anderen verbinden: Welche Entscheidungen hat der Künstler gefällt? Für was übernimmt er die Verantwortung? Bei einem Kreuzworträtsel ist da nichts greifbar. Wem Palindrome und Anagramme Kreuzworträtseln ähnlich scheinen, der hat im Dunkel das Gesicht des Künstlers noch nicht erkannt. Er meint, während es hier nur um Erfüllung, um Formstrenge gehe, wäre das eigentliche Anliegen der Kunst ein anderes. In der „normalen“ Dichtung, so wird ja oft unterstellt, gäbe es zunächst eine Aussage, und die Form träte als Zweites erst nachträglich hinzu. Natürlich weiß der Gebildete, dass diese Vorstellung „letztlich“ naiv ist. Dennoch wird diese altgewohnte Vorstellung jede Saison neu von Literaturdebatten ins Feld geführt, die zwischen technischer Brillanz und inhaltlicher Aussage scheiden. Auch ein Deutschunterricht, der die formale Analyse notorisch von der inhaltlichen Interpretation abtrennt, stützt sie Tag für Tag wieder. Von dorther scheint sich ein nagendes Misstrauen gegenüber formal strengen Texten immer neu einzuschleichen: Der Aspekt der Wahl im ersten Schritt sei bedeutender als der Aspekt der Erfüllung in jenem zweiten.

Die Frage danach, was der Dichter zu sagen hat und die Frage, wie er es sagt, bleiben aber immer unauflösbar verknüpft. Wer hinschaut kann sehen, dass selbst bei ihren Palindromen verschiedene Dichter, sagen wir Anton Bruhin, Herbert Pfeiffer, Martin Mooz oder Titus Meyer – um vier lebende deutsche Vertreter der Form zu nennen, jeweils andere Entscheidungen fällen und unterschiedliche Stile ausgeprägten. Während Bruhin z.B. in seinem Band „Reihe hier“ den Aspekt des Ausschöpfens einer bestimmten Spielanordnung stark betont, bemüht sich Pfeiffer um Texte, die hinsichtlich des Vokabulars und der rhetorischen Strategie „klassischen“ Gedichten ähneln, während Meyer und noch mehr Mooz für eine große Breite ihres Wortmaterials sorgen. Anders als Mooz, der Verben eher meidet, finden sich bei Meyer auch ungewöhnlichere Verbformen wie Konjunktiv und Imperativ häufiger. Meyer hat außerdem eine Vorliebe für die Palindromierung möglichst langer Worte.

Wenn es diesen Aspekt der Wahl schon bei einer so strengen Form wie dem Palindrom gibt, wie ausgeprägt wird er dann bei vergleichsweise offeneren Formen wie dem Anagramm sein! Eine Poetik des Anagrammes begänne etwa schon bei der Wahl der Ausgangszeile. Der eine Dichter legt Wert auf eine besonders tiefsinnige, ihm vielleicht besonders nahe Zeile, sei es, um einem möglichen Sinn des Gesamttextes bereits vorgebahnt zu haben, sei es, um sich die Mühen des Schüttelns durch einen geliebten Ausgangstext erträglich zu machen. Der nächste wählt im Gegenteil etwas Lapidares, um seine Entdeckungen umso deutlicher zu inszenieren. Der vierte wählt ein Material, in dem bereits eine Irritation, etwa eine grammatische Rauheit, auftritt, damit sich seine Ausgangszeile am Ende nicht mehr merklich von seinen eigenen Funden abhebt. Einer wählt Material, in welchem die verbreiteten Buchstaben häufig, die selteneren hingegen sehr selten sind, um möglichst viele Möglichkeiten der Permutation zu gewinnen, der andere nutzt Material mit besonderen lautlichen Qualitäten, um den Klangreiz des Anagramms voll auszunutzen, der nächste begrüßt gerade solche erhöhte Schwierigkeit eher als besondere Herausforderung. Der eine wählt einen kurzen Ausgangstext, um sein Material weiter auszuschöpfen, der andere einen längeren, um sich treiben zu lassen. Der eine verbietet sich wörtliche Übernahmen aus der Ausgangszeile, der andere bezieht gerade dies in die rhetorische Strategie seines Textes ein usw. Schon die Draufsicht kehrt also charakterliche Unterschiede der einzelnen Texte hervor.

Bedenkt man dies, versteht man kaum noch, wie der Verdacht aufkommen konnte, ein Autor wolle oder könne sich gar hinter der formalen Richtigkeit eines Textes in strenger Form verstecken. Er kann dies offenbar nur bei naiven Lesern, die zuvor noch nie andere Anagramme (Palindrome, Homografien, etc.) gesehen haben. Wittgenstein beschreibt in seinen philosophischen Untersuchungen das Phänomen, dass uns oft nicht auffällt, dass wir für eine Ansicht keine Begründung haben, weil gerade dort, wo es keine Gründe mehr gibt, die Gründe sich geradezu auf die Füße zu treten scheinen. So ist es auch bei der Ablehnung der strengen Formen: Das Misstrauen ist so gewohnt, dass häufig, ist das eine Vorurteil überwunden, unmittelbar das nächste aufspringt. Solche Vorurteile neigen dazu zusammenzuarbeiten, ganz unbeschadet der Tatsache, dass sie sich oftmals gegenseitig widersprechen.

Strenge Formen haben es aus diesem Grund bemerkenswerter Weise nicht nur deshalb schwer, weil sie schwer zu erfüllen sind und den Dichter an beinahe jeder Stelle zu gewagten Findungen1 nötigen. Gesteht man ihren Dichtern die Lösung dieser Aufgabe zu, begegnet man ihnen oft im Gegenteil mit einem lauernden Wohlwollen, welches den Aspekt der Wahl gerade hervorhebt. Man bezieht diese Formen dann auf ihre geschichtlichen Vorbilder in religiösen Kontexten, kennt und bewundert die „Sator arepo“ Formel und dergleichen.

Diese Achtung der Form verkehrt sich aber sogleich in ein vergiftetes Kompliment. Das große Lob dient nur dazu, anschließend nun dem einzelnen Verwender dieses Schemas nachzusagen, er habe es nicht gut gebraucht.2

Es wird dann behauptet, es hätte nicht genug Auswahl stattgefunden, es seien zwar einige schöne Funde zu benennen, aber auch viel „Leerlauf“, Halb- und Nichtsinn. Der Dichter sei schwach, weil er eitel vergessen habe, das Dazwischen auszustreichen. Man muss sich aber bei der Lektüre solch strenger Texte darauf einlassen, dass Sinn oder Grammatik hie und da vage werden, man tut es ja auch bei anderen Gedichten seit Klopstock oder Marlarme. Wenn man bei Palindromen und Co. sich oftmals weniger wohlwollend ist, liegt das daran, dass die Stilhöhe in solchen Texten notgedrungen stärker schwankt, während andere Dichter statt des formalen Limits ihrem Text einen gleichmäßigeren Sprachfluß abfordern, der dann über noch Unverstandenes oder beinahe Unverständliches zunächst hinwegträgt. Dies ist als Stilwille und Entschiedenheit wahrnehmbarer und ermuntert den Leser leichter dem Text im Ganzen zu trauen. Man muss bei strengen Formen etwas anders lesen, muss seltsame Stellen als Ränder mit einbeziehen. Formstrenge Arbeit ist ja immer auch ein Moderieren von Sprachgeröll, legt einen jede sprachliche Entscheidung hier doch sofort auf zusätzlichen Text fest, der immer in der Gefahr steht auszuufern. Dadurch lässt sich aber das Gewicht des Intendierens bei solchen Formen erfassen und man kann damit ein Leseverständnis erschließen, das, je freier eine Form ist, umso weniger bereit steht, und bei gänzlich „freien“ Texten, wo alles gleichermaßen leichthin gesagt werden kann, gar nicht mehr vorhanden ist.

Strenge Texte stellen zwar einerseits Kunstwerke dar. Sie sind andererseits aber immer auch und vielleicht noch mehr als viele andere Gedichte seit der Moderne, Dokumente ihrer eigenen Genese: Sie teilen gleichzeitig mit, was unter diesen Bedingungen neben dem Gesagten auch gerade nicht sagbar war. Solche Formen sind manchmal nicht bequem. Es lässt sich nicht im Prinzipiellen von der Kenntnis einiger Texte ein für alle Mal auf das schließen, was der nächste bereithält. Man muss sich immer erneut versenken.

Eine Lesehaltung hingegen, die nach der Qualität von Werken fragt und auf der Suche nach einzelnen Spitzenleistungen ist, statt Licht in Prozesse werfen zu wollen, ist deshalb notorisch überfordert von sehr strengen Formen.

Jene „wohlwollenden“ Kritiker, die nach guten Stellen fahnden und das Palindrom gern in Bezug setzen zu den großen Werken der Vergangenheit, die sie kennen, werden am ehesten noch mit Pfeiffers Palindromen zufrieden sein, die – rhetorisch durchaus geschickt – häufig in einem symbolistischen Code agieren. Wozu aber bräuchte man Anagramm, Palindrom und Co., wenn sie zu nichts anderem taugten als unter größten Anstrengungen Texte nachzustellen, die irgendwie der Lyrik des 19. und 20. Jahrhunderts ähneln? Sind also nicht viele der Palindrome Pfeiffers eigentlich künstlerisch besonders heikle Artefakte, weil sie gerade alles Heikle meiden: Signaturen ihrer Genese ebenso wie Sinn, der, weil er sich nicht auf bereits eingeführte Konzeptualisierungen verlassen kann, vorerst nur ein möglicher Sinn bleibt? Ist nicht dadurch nur umso schwerer einsehbar, was ihre dichterische Leistung darstellt, jenseits einer zugegeben brillant artifiziellen Etüde im Herstellen von kunstartigen Gegenständen?

Es ist aber aus naheliegenden Gründen schwer, im Palindrom etwa Tieren wie dem Reh oder dem Esel ganz zu entgehen, die symbolisch immer etwas gröbere Wirkung entfalten, als wir es von den feinsinnigeren Kunstleistungen gewohnt sind, die das Modell solcher Nachbildungen abgeben.3

Mit dem Vergleichen ist es ohnehin so eine Sache: Uns kommt leicht das Gespür für die Einzigartigkeit von Schreibansätzen und Gattungen abhanden, das dabei half, Texte in der Eigenständigkeit ihres künstlerischen Anliegens wahrzunehmen. Ein Opitz oder ein Gryphius mit ihrer Schulung an antiken Klassifikationen hätten schon den Gedanken, dass es sich bei einem Sonett4 oder einem Dystichon um „Lyrik“ handeln soll, mit Verwunderung aufgenommen.

Und sie hätten mit Staunen gesehen, wie heute oftmals die Erwartungen, die man an bestimmten Texten5 gewonnen hat, auf völlig anders geartete Formen übertragen werden. (Ich will nicht bestreiten, dass solche Strategien des wilden Lesens auch produktive Momente haben können.) Heute muss das Gespür für die Eigenständigkeit und Vielfalt von Sageweisen ständig neu zurückerkämpft werden. Es liegt also nicht in erster Linie daran, dass die Gegenwartslyriker immer so vertrackte künstlerische Anliegen hätten.

Wo wir zunächst weniger verstehen, suchen wir Analogien zu bekannten Texten, und da fallen uns schnell andere Gedichte ein. Ansonsten sind eben Palindrome Palindrome, Anagramme Anagramme und Homografien Homografien, und man kann die Forderungen anderer Gattungen oder Genres nicht unmittelbar auf sie übertragen.

Genauso gut könnte man Palindrom, Anagramm und Co. aber auch mit dem Murmeln Sterbender vergleichen. Auch bei ihnen ist das Bedeuten kurz vor dem Erlöschen, Sinn wird mit großer Kraftanstrengung zahlreichen physiologischen oder psychologischen Limitationen abgerungen, und es fällt nicht leicht zu unterscheiden, welche Teile der Rede den Intentionen des Sprechenden entspringen und wo es sich um Effekte unwillkürlicher Vorgänge oder gar um Missverständnisse handelt.

Ein riesiger Unterschied würde, wagte man diesen Vergleich, jedoch ebenfalls offenbar: Während der Sterbende so etwas wie ein Urbild der Eigentlichkeit evoziert, reden Palindrom und Co. bewusst uneigentlich. Ihre Buchstabengläubigkeit schlägt um in einen ostentativen Agnostizismus. (Wobei die Eigentlichkeit, das „authentische Sprechen“ oder das „Tacheles Reden“ welche(s) andere Dichter für sich in Anspruch nehmen, sich im Einzelnen ebenfalls als diskursive Fiktion decouvrieren ließe.)

Von daher mag dann der Vergleich mit der Lyrik doch wieder nicht ganz zufällig sein, weil viele Gedichte interessante Beispiele uneigentlicher Rede darstellen und noch das schlichteste liedhafte Gebilde an jener untergründigen Spaltung zwischen dem Zeichenträger und seiner Bedeutung teilhat, welche Anagramm und Co. so besonders hervorkehren.

Bertram Reinecke


1 Sie erfüllen also deutlich gesagt von der gewagten Findung her jene über verschiedene Lager hinweg in unterschiedlichem Gewand erhobene Forderung nach dichterischem Mut zur Entgrenzung, die einst im alten Ausdruck von der „erhebenden Dichtung“ anklang, und die sich bei den einen heute nüchterner darin ausspricht, der Dichter solle „Tacheles reden“ bei anderen im Imperativ zum Experiment, im Dekret zur “Überwindung der Form” oder in der Frage nach Originalität, „dem Neuen“ usw.

2 Jenen Wohlwollenden wäre es jedoch bestimmt nicht angenehmer, wenn Michael Lentz oder Titus Meyer ansonsten religiöse Erbauungstexte verfassten!

3 Bei Pfeiffer lässt sich mit der nämlichen Wirkung auch eine Häufung der Worte „Reue“ „Redner“ oder „Liebe“ finden.

4 Der Alexandriner ihrer Sonette sollte den Hexameter nachbilden, der zunächst ein epischer Vers war. Sonette sind Sprech- und nicht Singtexte. Wir können uns kaum vorstellen, dass die Gattungstrias, die uns so selbstverständlich ist, erst im 19. Jahrhunderts dominant wurde. Jean Paul lehnte es in seiner Vorschule der Ästhetik ab, ein lyrische Prinzip auf der gleichen Ebene anzusiedeln, auf der er das dramatische und das epische Prinzip verhandelt, Goethe nimmt zwar drei Dichtweisen an, sieht sie aber offenbar noch nicht als Gattungen im heutigen Sinne, wenn er im West-östlichen Diwan schreibt: „In dem kleinsten Gedicht findet man sie oft beisammen, und sie bringen eben durch diese Vereinigung im engsten Raume das herrlichste Gebild hervor“

5 etwa solchen im romantisch symbolistischem Code, im neusachlichen Sound eines Kästner, im Schlagwortstil eines Erich Fried oder in den Sageweisen der Popmusik oder des Slam