Wiederholte Unmutsäußerung
Es gibt Texte, die lähmen. Sie sind irgendwie enttäuschend, tun eventuell etwas weh, aber sind zu verschämt, zu unverbindlich, als dass sie leicht darlegbare Irrtümer enthalten. Im günstigsten Falle muss man deren Autoren zu Gute halten, dass sie sie gedankenlos niedergeschrieben haben. In solchen Fällen verbietet sich allein schon deshalb die Mühe der Hebammmenkunst, erst einmal klar darzulegen, welche Fehlgriffe sich in den Texten verstecken. Dennoch wirken sie wie ein stilles Gift, weil sie Irrtümer verfestigen und Gedankenverbindungen zementieren.
Ein solcher Text stand jüngst in der Taz. Sollte man ihm widersprechen? Der Autor könnte es persönlich nehmen, dass ich mich bemüßigt sehe, Irrtümern, denen ich an anderer Stelle bereits widersprach, hier erneut entgegenzutreten! Da ich als Autor nur zu wenigen Medien Zugang habe, besteht überdies die Gefahr, dass ich die regelmäßigen Leser dieser Foren langweile, wenn ich erneut, wenn vielleicht auch anders akzentuiert, Stellung beziehe.
Dies alles verbietet einem eigentlich den Mund. Nicht nur aus Freude an Renitenz und Übertretung melde ich mich dennoch zu Wort. Sondern, weil sich der Rezensent eines Internetmediums wunderte, warum ich gerade Brocans Artikel schlecht fand. Und weil eine der in diesem Artikel positiv herausgestrichenen Stimmen sich eher erschreckt als erfreut gab. Auch sie schwieg, weil jeder Widerspruch als Streithammelei missinterpretiert werden könnte.

Wie das Nichts in der „Unendlichen Geschichte“ scheint sich das Nicht-kommunizieren-Können auszubreiten um bestimmte Formen von Äußerungen. (Hatte es nicht etwas ähnliches bei den Thesen Florian Kesslers gegeben?) Dies Nicht-sprechen-Wollen erwächst aus dem Umstand, dass ähnliche Irrtümer (wie der seine) ebenso verbreitet wie ineinander verflochten sind, man also immer gleich sehr viel reden muss, wenn man einmal damit anfängt.
Die Eigenschaften, die den lähmenden Effekt hervorrufen, sind vom Autor bewusst so eingerichtet worden. Zwischen einigen zitierfähigen Gemeinplätzen, versucht der Autor einige massive Behauptungen in bewusst weichgespülte Formulierungen einzumogeln: „Nachdem sich die Lyrik einige Zeit lang in ihrer Spracherkundung selbst genug war, wird seit ein paar Jahren wieder eine hohe Anzahl bemerkenswerter Gedichtbände veröffentlicht.“
Ja sicherlich sind in den letzten Jahren ganz hervorragende Gedichtbände entstanden. Aber vorher waren es weniger? Weil sich die Lyrik in der Spracherkundung genug war? Es wird außerdem nahe gelegt, dass diese selbstgenügsame Lyrik der Grund sei, dass so wenig Lyrik gelesen werde. Man müsse also nur noch allgemein darauf hinweisen, dass nun diese Verirrung der Lyrik überwunden sei… Stimmt das? Interessant finde ich die Geschichte dieser Behauptung. Sie ist ja nicht ganz neu. In den Nullerjahren wurden mit einer solchen Rahmenerzählung die Autoren von „Lyrik von jetzt“ begrüßt. Die Abwehr galt Leuten wie Bert Papenfuß oder Sascha Anderson, die in den 90ern für manche erstaunlich erfolgreich waren. (Und schon damals war es eine falsche, aber gleichwohl unausrottbare Legende, dass sich diese Lyrik genügsam auf die Spracherkundung beschränke.) Waren ein paar wenige Dichter so monströs erfolgreich, dass seitdem immer noch alle potentiellen Leser die Schnauze voll von Lyrik haben? Schaut man die Jahrbücher der Lyrik durch, sieht man, dass diese Leute niemals die Mehrheit des lyrischen Gesprächs bildeten.
So meint es auch Brocan wahrscheinlich nicht. Heute wird die Legende von der „reinen Spracherkundung“ gerne Dichtern wie Stolterfoht (Aha: Fachsprachen!) und Monika Rinck angeheftet. Auch quatsch, aber: geschenkt. Wichtiger ist mir folgendes: Die Geschichte von der reinen Spracherkundung ist eine Wanderlegende, zu jeder Zeit wird sie anderen angeheftet. (Sie galt auch mal Celan) Wie in jeder Schulklasse irgend ein Mädchen aus meist kinderreicher Familie gemobbt wird. So beweisen sich alle anderen, dass sie richtig liegen mit ihren Entwürfen. (Auch in den nachfolgenden Jahren stellten weder die genannten, noch irgendwelche Kookbooksautoren, noch Autoren von Engler oder Lux je die Mehrheit des lyrischen Gesprächs.)

„Zudem erweist sich, dass oft gerade die weniger bekannten Stimmen aus echter Dringlichkeit schreiben.“
Nach welchem Kriterium soll man denn bitte Texte zwei Schubladen zuordnen können? Solche, die Dringlichkeit haben und solche, die das nicht haben. Die Schwierigkeit besteht ja in folgendem: Ist ein Text dringlich, der ein besonders allgemein verbreitetes Gefühl auf den Punkt bringt? Einerseits ja. Viele Menschen werden sich mit ihm identifizieren. Und es kann ja durchaus eine gesellschaftliche Dringlichkeit bestehen, Gefühle, die viele vage haben, endlich sprachlich auf den Punkt zu bringen. Man denke an ein Glücken wie Hoddis „Weltende“ oder die Texte der Winterreise. Andererseits ist Dringlichkeit immer eine Frage der Obsession. Wenn es „Weltende“ nicht gäbe, fände man die dort geschilderten Katastrophenahnungen ebensogut (vielleicht: besser) bei Lichtenstein. (Statt Müller böte sich vielleicht manches von Hölderlin oder Lenau an.) Mit anderen Worten: Wo immer eine Seelenlage oder eine Weltdiagnose einen gewissen Allgemeinheitscharakter hat, werden sich nach und nach verschiedene sprachliche Angebote ihres Ausdrucks ergeben. Besonders dringlich für den einzelnen wären dann Texte, die seltene partikulare Empfindungen endlich fassen. Man kann also Texten von Quirinius Kuhlmann die Dringlichkeit kaum absprechen. So sprachverspielt seine Texte auch waren, so nahm er doch den Tod für die darin ausgedrückten Überzeugungen in Kauf. Auch Trakels Obesessionen mögen den Zeitgenossen teils recht skurril und einsam angemutet haben. Heute, einige Katastrophen später, sind wir unter Umständen klüger. (Ich wähle alte Beispiele nicht, weil ich keine neueren wüsste, sondern weil sie weniger umstritten sind.)
Dringlichkeit hat also ebensogut mit Partikularinteresse, Obsession und Verrücktheit zu tun. Das ahnt Brocan natürlich, weswegen er nicht Dringlichkeit sondern gleich „echte Dringlichkeit“ einfordert. Was das genau ist, dekretiert dann wohl Brocan, der offenbar über einen privilegierten Zugang zur Wahrheit verfügt. Wie er überhaupt in einer Position der Übersicht zu thronen scheint, aus der sich leicht richten lässt: „Gerade Entscheidern fehlt die nötige Aufmerksamkeit // Warum also gedeiht die Lyrik, ohne dass sie die ihr gebührende Anerkennung bei einer breiteren Leserschaft findet?“ (Brocan könnte ja Recht haben, aber dann ebensogut aus Zufall oder weil er irgendwo etwas aufschnappte, denn er begründet nicht, worauf sich seine Erkenntnisse stützen.) Ohnehin misstrauisch gegen solche Sprechhaltungen verstimmt mich noch mehr, dass er das hier erläuterte Problem des Kriteriums für „Dringlichkeit“ nicht sieht. Dies scheint mir ein starkes Indiz dafür, dass er offenbar kaum die Erfahrung gemacht hat, dass seine Mitmenschen seine Gefühle und Einsichten nicht verstehen. Vielleicht ist er zu angepasst und hat sich zu selten getraut, darauf zu beharren? Braucht die Lyrik dann bloß zum Genuss?

Ich schrieb hier zunächst von „Erfahrungen“ und „Seelenlagen“, um mich auf Brocans Ebene einzulassen. Für ihn spielt die Tatsache, dass ein Gedicht aus Sprache besteht, eine nachgeordnete Rolle: Der von Brocan wohlwollend zitierte Kooser wird recht haben, wenn er feststellt: "Das fehlende Interesse des Landes an Dichtung liegt zum Teil darin begründet, dass die meisten von uns in der Schule gelernt haben, dass die Bedeutung eines Gedichts herauszufinden viel zu viel Arbeit ist." Aber anstatt nun die Bedeutungsausgräberei, die die Schule betreibt, zu kritisieren, wie es mir logisch erschiene und von den Schulen vielleicht zu verlangen, erst einmal die Beobachtungsfähigkeit für sprachliche Phänomene zu verbessern, setzt Brocan noch einen obendrauf.
„Doch nur mit dem Verständnis ist es nicht getan“ „Lyrik ist das Angebot einer nicht primär auf Informiertheit und Effektivität gegründeten Denkweise in einer anderen Sprache als der des täglichen Umgangs.“ Immer scheint erst die Denkweise stimmen zu müssen, und dann kommt erst die Sprache. Diese Denkweise ist zu verbreitet, als dass er groß Aufhebens darum machen müsste. Sprache wird in diesem Verständnis instrumentell verstanden als Mittel, etwas anderes, nämlich etwas Eigentliches anzuzielen. Sprache ist sozusagen bloß die Leiter, die man hinterher wegwirft. (Es hat sich noch nicht ganz herumgesprochen, dass diese berühmte Formulierung des Tractatus sich dem späten Wittgenstein als ein Symptom seines eigenen Grundirrtums darstellte.) Ein lästiges Zwischenglied sozusagen. Eine gewisse Sorgfalt mit ihr sei zwar notwendig, so diese Denkhaltung weiter, aber eine zu große Sorge um sie führe in den Formalismus, dränge etwas Anderes vor das Eigentliche. (Das Denkschema übersieht, dass zumindest ein großer Teil unserer Gedanken sprachlich verfasst und somit auch gesellschaftlich beeinflusst ist.) Dieses Denkschema lässt sich ebenso antiavantgardistisch ausbuchstabieren wie antitraditionalistisch. Etwa, wenn man sich gegen alte Formen wie das Sonett oder überhaupt gegen Metrik wendet. Es ist so etwas wie ein kleinster gemeinsamer Nenner nicht nur des Lyrik- sondern überhaupt des öffentlichen Literaturdiskurses. Dieser Nenner hat Vorteile: Er verpflichtet niemanden auf eine bestimmte Form von Literatur. Jeder kann potentiell zustimmen. Er ist auch Menschen einsichtig, die wenig Erfahrung im Umgang mit Literatur haben. Zum Beispiel den Besuchern jener Literaturevents (z.B. slam), die Brocan so angreift. Außerdem lässt sich unter dem Schutz dieser Sichtweise mit Geniegedanken mehr als nur kokettieren.
So kommt es, dass sich mittels eines solchen Gedankens auch wirklich jedes Gespräch über die Sprache oder das Technische des Gedichts ins Unrecht setzen lässt. Das habe ich ebenso in Literaturseminaren erlebt, wie in Diskussionen nach Lesebühnenauftritten. Noch nicht einmal jemand, der sich in paargereimten Zweizeilern ergießt, muss einem zuhören, wenn man ihm erklären will, warum seine holprigen Verse weniger Anklag fanden, weil selbst jede basale metrische Überlegung sich mit dem auch von Brocan vertretenen Konstrukt als Formalismus verunglimpfen lässt. Diese Sichtweise neigt dazu, jede Kenntnis der „anderen Sprache“ des Gedichts (Brocan) zu verdrängen und außer Kenntnis und Geltung zu setzen, sodass ihr immer mehr Gedichte unverständlich bis zur Fremdsprachigkeit werden. Diese Haltung, die vom Eigentlichen die Sprache als Uneigentliches, bloß Vorläufiges abscheidet, wirkt auf mich so, als wäre es den Leuten irgendwie peinlich, dass Gedichte nur aus Sprache gemacht werden. Die Haltung ist also gar nicht so fern von der von Brocan kritisierten Intuition, Lyrik mit irgendeinem Brimborium z.B. Musik umgeben zu müssen, um sie attraktiv zu gestalten.

Brocan selbst redet ebenfalls lieber von Symptomen der Gesellschaft als konkret vom Gedicht und seiner Sprache. Jaja, die Gesellschaft ist schlecht, darauf kann man sich immer einigen (Ich glaube das ja wirklich auch!). Brocan ist also daran beteiligt, dass öffentliche „Literaturdebatten“ von allem Möglichen handeln, nur kaum von Literatur. (Auch Kesslers Beitrag wurde als einer über Literatur missverstanden) Hier kann man Brocan zum Teil in Schutz nehmen, denn eventuell handelt es sich hierbei um ein Problem von mutlosen Entscheidern in den Redaktionen.
Wenn man dagegen doch etwas länger bei der Sprache verweilt und nicht nur beim „sprachlichen Genuss“ der Lyrik, sieht man noch mehr. Man könnte z.B. in den schiefen Formulierungen Brocans Signaturen seiner problematischen Haltung erblicken: „... gäbe auch jenen Stimmen einen Raum, die weder zugkräftige Namen besitzen noch mit werbewirksamer Gestik auftreten möchten. Dann mag auch mancher Leser seine Scheu vor der Lyrik verlieren, weil er findet, was ihm verständlich und begreiflich ist.“ Wie genau stiftet sich dieser Zusammenhang? Muss nicht gerade der, der werbewirksam sein will, sich bemühen, verständlich und begreiflich zu sein? Brocan verteilt Zensuren: Die einen sind die reinen, die anderen (ihm!) unbegreiflich Unverständlichen fallen durch: Sie wollen überreden, überrumpeln wie die Werbung, so sein Ressentiment. Ihm schwebt überhaupt eine reine Lyrik jenseits der Zwecke vor, ernsthaft differenziert und still. Der Anschluss an und Auseinandersetzung mit Sprachformen von Werbung und Propaganda, wie ihn Brecht, viele Autoren der 70er Jahre aber auch Ingeborg Bachmann versucht haben, ist ihm offenbar ebenso zuwider wie Coolness und Ironie. Aber wenn manche Haltung so verharrscht ist, mancher derartig ignorant ist, manches Gespräch dauerhaft verweigert wird, sodass man nicht ernsthaft bleiben kann, sodass nur eine radikale Schreibweise noch möglich scheint, die auf Andere mitunter skurril wirken mag (wie, sagen wir, Endler)? Glaubt Brocan denn an seine eigenen Thesen von der Schlechtigkeit der Gesellschaft, wenn er diesen Fall nicht einrechnet oder war diese These bloß eine Antizipation der vermuteten Meinung der Taz-Leser?

Brocan fordert irgendwie eine Rückkehr zu einem Kulturbetrieb gemäßigter Stimmen. „Hochwertig“ und „Nachhaltig“. Offenbar eine Art kanonischen Höhenkamm? Aber gerade hatte er doch noch eine größere Vielfalt eingefordert? Er fordert Vielfalt der Namen, aber Prämierung einer einförmigen Sache, nämlich einer Mäßigkeit. Diese feiste Mäßigkeit dürfte jedoch gar nicht so selten Preise erringen, wie Brocan behauptet, weil sich das unter Umständen bereits aus dem Kompromisscharakter von Juryentscheidungen ergibt. Würde dies der Lyrik helfen, bräuchte Brocan seinen Artikel gar nicht erst verfasst zu haben. Oder meint Brocan, Lyrik würde bloß deswegen lieber gelesen, weil sie in Bottrop verfasst wurde und nicht in Berlin?
Brocan spricht vom „Schutzraum der Metropolen“ - und meint damit Berlin und Leipzig. Warum sind das Ruhrgebiet vor seiner Haustür, Köln oder München keine Metropolen für ihn? Allesamt sind sie größer als z.B. Leipzig. Oder sind das zwar Metropolen, die aber, anders als Berlin oder Leipzig, keinen Schutzraum darstellen? Nun ja, wer daran denkt, wie rüde gerade in Berlin z.B. vom Arbeitsamt mit Dichtern umgesprungen wird, verfällt wohl kaum auf den Gedanken, dass hier irgend ein Schutzraum bestehe. (Die Exschwaben, Expommern und sonstigen Exkleinkleckersdorfer kommen sicher aus anderen Gründen dorthin.) Brocan beobachtet offenbar, dass das Gespräch in Berlin und Leipzig andere Aspekte kennt, als jenes in seiner Heimatsstadt? (Hat er recht? Ich als Leipziger weiß, dass es hier genauso wie anderswo reflektierte, informierte Positionen gibt wie krudes, resentimentgeladenes Gequatsche.) Brocan kann, was er missbilligt, nur als krank und nicht lebensfähig verunglipfen, indem er in Berlin und Leipzig entstehende Werke, die ihm nicht passen, zu Sumpfblüten eines Reservates erklärt. (Ein Trick, den Falkner z.B. in der Bella 19 vor fast 8 Jahren vorexerziert hat.)
Ich kann also verstehen, wenn nicht jeder Autor, den Brocan wohlwollend nennt, sich gerne vor den Karren seiner Forderungen spannen lassen will. (Ich nötige deshalb hier niemanden, mit seinem Namen für mich einzustehen.) Er führt einen autoritären Diskurs, weil er andeutetend zu Wissenden spricht, uns die Kriterien seiner Distinktionen verheimlicht und sich damit letztlich allein vorbehält, zu bestimmen, welche Lyrik ins Töpfchen und welche ins Kröpfchen gehört.
Vielleicht kommt ihnen aber auch mein Artikel genauso abgeschmackt vor, wie mir der Brocans? Das mag dann daran liegen, dass mich Brocan ja verpflichtet, ernst, unironisch und uncool zu bleiben, wenn ich mich nicht als infantil von ihm beschimpfen lassen möchte. Gerade das kommt mir allerdings etwas kindisch vor.

Nun habe ich viel über Sprache, aber noch kaum über Lyrik geredet. Es findet sich in jener Tazausgabe auch ein Gedicht.
Ich weiß nicht, ob Brocan dieses schätzt, es vielleicht gar selbst ausgewählt hat. Immerhin beruft er sich auf dessen Autorin explizit. Ich halte das Gedicht als Beispiel für die von Brocan der Lyrik zugeschriebenen Qualitäten zwar für passend, als Beispiel dafür, was ein zeitgenössisches Gedicht kann, aber höchst unglücklich.
Typisch ist für das Gedicht (ebenso wie bei Brocans Thesen) dieses allzuschnelle Übergehen von dem, was es sprachlich tut, zu einem eigentlich angezielten Anderen. Zunächst gibt sich das Gedicht viel Mühe ein Bild zu bauen: „Etwas licht /liegt auf den dingen / etwas licht/ von einem unbekannten tag“
Aber statt aus diesem Bild etwas zu machen, wechselt der Text das Thema und geht ins allegorische und abstrakte „der irgendwo / noch hängt und nicht / vergehen will“. Dieser zweite Teil ist auf das Bild vom Anfang überhaupt nicht angewiesen, sondern möchte eine Stimmung versinnbildlichen. Und das Bild des Anfangs zerbricht: Wäre das der Text eines Anfängers, würde man doch wohl entweder konstatieren, er wisse noch nicht, was er will bzw. er traue seinen eigenen Wirkungen nicht und wolle zu schnell auf etwas anderes hinaus, als das, was er aufbaute. Sollte die Übertretung solcher Regeln, die dem Anfänger leicht fällt, die wesentliche Leistung moderner Dichtung sein? Wohl kaum. (Wohlgemerkt, ich halte solche Übergänge prinzipell durchaus für möglich, nur liefert das Textstück kein Argument, warum dieser Übergang wünschenswert, notwendig oder, mit Brocan gesprochen, gar dringlich sein sollte.)
Das Stimmungsvolle des Textes erwächst ebenfalls aus sehr einfachen Mitteln: Der verträumten Empfindung des Lichts und einem druckvollen Zeilenbruch, der dringlich tut, als wäre er dem Schweigen mühselig abgerungen, indem er mitten in den grammatischen Gliedern bricht. Auch diese einfachen Mittel haben im Prinzip ihre Berechtigung und sind zu Recht verbreitet. In einem so kurzen Text entsteht allerdings ein wenig überraschender und etwas verwaschener Eindruck.
Eventuell ist es aber auch bloß eine einzelne Strophe? Oder im Kontext eines Zyklus oder eines Bandes, in dem der sprachliche Kontext eine Aufladung der Worte zu Chiffren erlaubt, mag das Gebilde tragfähiger sein? Als isoliertes Beispiel für „zeitgenössische Lyrik“ jedenfalls ist der Text überfordert. (Ich kann mir allerdings auch nur sehr wenige Texte denken, die diese Last wirklich tragen könnten.)

Bertram Reinecke