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Mit ihrem Gedichtbuch Venice singt (2015) wurde Sonja vom Brocke
einem breiteren Lyrik-Lesepublikum bekannt. Ihr Debüt war 2010 das
bemerkenswerte (doch bei seiner Veröffentlichung weitgehend unbemerkt
gebliebene) Bändchen Ohne Tiere, das Texte von abstrahierender
Reduktion und kieselhartem Gestus enthält, wie sie einem in Venice
singt wiederbegegnen (Kameen) hermetisch verschlossene
Sprachobjekte mit realen Einschlüssen: Vögel; Mieterhöhungsschreiben;
Fotos; Lichter; die Glör, die durch Hagen fließt. Von Ohne
Tiere soll hier die Rede sein.
Am Titel bleibt man schon hängen, denn in welchem Kontext könnte
jemand sagen: Ohne Tiere? Die für sich genommen harmlosen
Wörter haben in der Kombination etwas Verunsicherndes, vage Bedrohliches.
Es ließe sich ein apokalyptisches Szenario denken (eine Welt ohne
Tiere), Ernährungszusammenhänge, Kindheitserinnerungen (ohne
Tiere aufwachsen).
Möglicherweise schlägt Sonja vom Brocke mit der Fügung
Ohne Tiere aber auch nur einen listigen Haken, denn würde
man nicht eher erwarten: Ohne Titel, wie man es v. a. von moderner Kunst
kennt? Das würde ganz gut passen, wie das 2011 von ihr gemeinsam
mit Christina Kramer herausgegebene Künstlerbuch thoughts fall
/ ins Fell und das Kapitel Gemäldegalerie in Venice
singt, in dem sie die schöne und lebendige Tradition des Gemäldegedichts
fortsetzt, beweisen.
Ohne Tiere ist eine Folge von 18 verschieden langen, miteinander
zusammenhängenden Texten, die formal als Zwischending zwischen Gedicht,
Kurzprosa und Notiz beschrieben werden können. Die (drei) kürzesten
bestehen aus je einem Vers und zählen sechs bzw. sieben Wörter,
der längste umfasst 21 Verse (170 Wörter).
Ein Thema ist schwer zu bestimmen. Bei wiederholter Lektüre stellt
sich der Eindruck eines Epitaphs zu Lebzeiten ein. Körperlichkeit
wird benannt, anatomisch (Ohrhöhlen, Hirn,
Knochen, Mark, Rippen) oder diagnostisch
(sie kommt nicht hinterher mit den Fingern, das holprige
Klopfen vom Herzen), Shakespeare zitiert das 146. Sonett,
ein Gedicht über Vergänglichkeit und Tod (Poor soul, the
centre of my sinful earth) auch ein Vers aus Rimbauds Das
trunkene Schiff, das den Menschen als Gescheiterten, als Ausgesetzten,
als Wrack zeichnet (geworfen vom Orkan in vogellosen Raum).
In einem der Texte, dem siebenten, der ein Dutzend amtlicher Belege aufzählt,
vom Gehaltsnachweis bis zur Energieabschlagsrechnung,
heißt es dreimal: der letzten 3 Monate. Verweist dies
stumpfe Insistieren auf eine bestimmte Frist, die doch etwas Akzidentielles
ist, auf das existentielle Faktum einer nur noch kurzen Lebensspanne?
Es ist die Frage, wie sich der vergleichsweise geheimnislose Duktus dieses
Gedichts in die im übrigen ganz und gar verschwiegene, alle Deutlichkeit
meidende Erzählung von Siechtum, die Ohne Tiere vielleicht
ist, einfügt. Hat es zu tun mit dem Spruch, den der Rezensent früher
seinen Vater sagen hörte: Formulare, Formulare, von der Wiege
bis zur Bahre? Alles vollgesogen von Tod[.],
heißt es im unmittelbar nachfolgenden Gedicht. Darin und an anderer
Stelle gibt es Hinweise auf Bettlägerigkeit und den damit verbundenen
eingeschränkten Bewegungs- und Aktionsradius: Gestern Lichter
gefilmt, so lange es ging, aus dem Bett durch / das dreckige Fensterglas
[
]. - Verschiebungen stellen sich ein, auch wenn sie
im Bett / liegen bleibt. Doch letzten Endes bleibt Ohne
Tiere schwer zu deuten, zumal nicht auf eindeutige Weise. Immerhin
lässt sich sagen, dass es Texte am Krisenpunkt sind. Eine Leere
hat sich ergeben[.], Entwürfe habe sie nicht, sagte sie[.],
Transparente Hüllen verschwinden wie eine Illusion, [D]as
Wildern für heute vorbei, Hier ist Exit: Es sind
dies alles Formulierungen des Aufhörens, des Nichts oder des Nichtlänger
und wenn dann doch einmal ein Lächeln vorkommt, dann ist es
eines, von / dem man sich nichts mehr versprechen kann // nichts.
Im folgenden sollen drei Texte näher betrachtet werden.
Das humorvolle und auch anrührende Dialogstück PAR CUR
beginnt mit einem szenischen Hinweis: Hagen, durchgesessenes Sofa.
90 und 89, aus Ulmumgebung verzogen, beim Anschauen von alten Photographien.
Die Stadt Hagen ist also Ort des Geschehens: Zwei uralte Leute sitzen
auf einem durchgesessenen Sofa und blättern in einem Photoalbum und
erinnern sich an früher. Das Erinnern wird jeweils durch den Staunlaut
oO eingeleitet. Jeder der zwölf Verse beginnt so und
vermittelt auf diese Weise, dass die alten Leute das Gesehene identifizieren
und in gewisser Weise begrüßen, ihm neu begegnen, es in ihrer
Erinnerung erneuern, ihm auch wo Auslassungspunkte folgen
schweigend nachsinnen.
oO(Desch is der Hirschwirt g'we'en, Karl)
oO(den hen i au no' gut g'kennt)
oO(...)
oO(...)
Der Großbuchstabe wäre normalerweise an erster Stelle zu erwarten;
indem er an zweiter Stelle steht, wird oO als Notierung kenntlich
zumindest ist anzunehmen, dass das große O lauter artikuliert
wird als das kleine, und beide O's miteinander verschliffen werden.
Wer die beiden sind, die sich da gemeinsam erinnern, bleibt offen. Vielleicht
sind es Eheleute (dann wäre Karl der Name des Ehemanns, und nicht
der Name des Hirschwirts), vielleicht Geschwister oder Nachbarn
sicher ist nur, dass sie Erinnerungen an früher teilen.
Nur am Rande sei erwähnt, dass Doppel-O in der Schreibung o.O. auch
für ohne Ort steht und in bibliographischen Angaben verwendet
wird. Es ist außerdem die Abkürzung für ohne Obligo:
ohne Haftung, ohne Gewähr. Beides spielt aber für das Gedicht
keine Rolle, auch nicht als versteckter Hinweis darauf, dass das Erinnern
der beiden Alten unter Umständen Irrtümer einschließt.
Par cur heißt wörtlich mit dem Herzen.
Im Deutschen wird es mit auswendig wiedergegeben; treffender
wäre inwendig.
Connaître quelque chose par cur (im Titel auf
die beiden letzten Wörter reduziert) wäre so einerseits etwas
auswendig kennen, andererseits etwas im Herzen tragen,
etwas verinnerlicht haben da hätte es einer photographischen
Erinnerungsstütze wohl gar nicht bedurft.
Die Ulmer Photographien treten zum Ende des Textes dann auch ganz in den
Hintergrund, zugunsten der Hagener Gegenwart, in der das gemeinsam Erlebte
und gemeinsam Bestandene aufgehoben ist und eine alte Liebe speist. In
dieser vermischt sich das PAR CUR mit dem lautlich naheliegenden,
wenn auch nicht ausdrücklich erwähnten, Parcours, der
wörtlich übersetzt durchlaufenen Strecke.
oO(i bin nimmer viel wert.)
oO(Hauptsach', du bischt noch da.)
oO(...)
Ist in diesem Dialektgedicht die Situation einigermaßen deutlich,
so stellt sie sich im folgenden lapidaren, 'einsilbigen' Text als unergründlich
dar. Jeder erzählerische Ansatz ist getilgt:
[hier kann der Text nicht geheilt werden]
Eckige Klammern werden in der Regel für ergänzende, erläuternde
Einfügungen gesetzt. Die Worte scheinen sich also auf einen anderen
realen oder fingierten Text/Kontext zu beziehen. Möglicherweise
ist der Bezug der letzte Vers des vorherigen Gedichts: Und schon
splittert's.
Oder sind pauschal die anderen Texte aus Ohne Tiere die Referenz?
Oder heißt hier: in der Schrift?
Noch interessanter ist die Frage, was das Verb heilen zu bedeuten
hat.
Ist der Text der Kranke, oder ist er die Krankheit (die Wunde)?
Anders gefragt: Geht es darum, den Text 'gesund' zu machen, oder ihn zum
Verschwinden zu bringen, oder ihn von etwas Schädlichem zu befreien?
Vielleicht spielt bei [hier [...]] das hinein, was Jan Kuhlbrodt
in seiner Besprechung von Venice singt als das Dilemma einer Dichtung
festhält, die auf die Vielfalt semantischer Möglichkeiten
am Rande der Sprache abzielt:
Sprache wird niemals zum reinen Geräusch, andernfalls hört
sie auf, Sprache zu sein. Die Semantik hängt ihr an [
].
In dieser Lesart wäre das Schädliche der Wortinhalt, den die
Wortform immer mit sich trägt wie abgerockt auch immer.
Das (auch gemäß der Anordnung im Buch) folgende Gedicht scheint
direkt hierauf zu antworten, denn es beginnt mit dem Terminus Therapie.
Die Heilbehandlung für den an seiner semantischen Last krankenden
Text sieht vor, gar nicht mehr zu schreiben, und stattdessen zu zeichnen,
ohne dass dies ausdrücklich benannt wäre; aber auch das nicht
gesagte, geschriebene, Wort ist Teil der Aussage, wenn die tatsächlich
geäußerten Worte und der sie liest oder hört
dies wollen.
Therapie
erst Linien, dann Kreise, dann Häuser, dann Wolken
dass nichts
uneindeutiger sein kann
Beuys' Diktum Auch wenn ich meinen Namen schreibe, zeichne ich
gilt ebenso in der Umkehrung: Das Zeichnen ist wieder ein Schreiben und
Aussagen, weil auch das Gezeichnete etwas bezeichnet (Linien, Kreise,
Häuser, Wolken) und ein Bezeichnetes im Schlepptau führt.
Abschließend ein Wort zur Buchgestalt. Die Anmutung des Bändchens
ist harsch. Der weiße, glänzend-glatte Einband vermerkt nur
den Namen der Autorin, Titel und Verlag / Verlagsort. Innen kommt der
Copyrighthinweis hinzu, und der Vermerk: Printed in Gemany
keine Genrebezeichnung, keine Textnumerierung, keine Seitenzahlen,
keine biographische Notiz, kein Bild. Es ist aber gerade diese
auffällige und unüblich gewordene Abwesenheit von Paratext (ausgenommen
Titelei und Impressum), die die Textpräparate voll zur Geltung kommen
lässt und ihnen alle nötige Aufmerksamkeit sichert.
Meinolf Reul
Sonja vom Brocke, Ohne Tiere. Gedichte. [Ohne Paginierung, 40
Seiten]. Broschur.
20,5 x 13 cm. Verlag Heckler und Koch, Berlin 2010. 7,00 Euro
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