ANGELN IM FLUSS DER URBANITÄT.
Die Neuerfindung des Großstadtgedichtes im Debüt von Rainer Stolz
Mit der wachsenden Zahl der Menschen, die in Städten leben, verdrängt
das sich ausbreitende, nicht mehr enden wollende Stadtgedicht die alteingesessene
Naturlyrik. Auch der Dichter Rainer Stolz ist seit Jahren notorischer Großstädter.
Er schleicht sich schreibend in die Urbanität ein - und gerade dort, wo
sie am dichtesten ist, gewinnt er ihr Poesie ab: Man trifft einen "Lkw,
der schluchzt" oder blickt gedankenverloren zu dieser "Zigarettenhälfte
/ die sich brennend dreht / an der Auslaufkante einer Rolltreppe".
Es ist ein Lyrikband entstanden, in dem man Gedichten wie Großstadtindividuen
begegnen oder den man wie ein Angeln im Fluss der Urbanität lesen kann:
Mit jeder Zeile bekommt man ein weiteres, nicht vorhersehbares Detail an den
Haken, das seinen unverzichtbaren Beitrag zum Stadtbild leistet. Da stets offen
ist, ob die Mosaiksteine dieses Stadtbildes reale Fundstücke oder erfundene
Realitäten sind, bleibt das nötige Maß an Verunsicherung, in
dem Poesie gedeihen kann. In dieses Bild, das Rainer Stolz im Kopf hat, wenn
er sich von der Stadt gleichzeitig angenommen, vereinnahmt und entfremdet fühlt,
führt uns die Zeile "Während mich die Stadt erfindet", die
auch der Titel des Bandes ist.
Dieser Halbsatz öffnet jenen Raum der Möglichkeiten, den die Großstadt
von jeher zu bieten hat oder zumindest zu bieten verspricht. Er regt seine Leser
zur Fortsetzung an und kann unendlich viele Varianten der Vollendung erfahren.
Zunächst aber ist er die Haustür, die das lyrische Ich öffnet,
um uns auf einen Spaziergang durch die Stadt mitzunehmen, während es gerade
von ihr erfunden wird. Natürlich ist klar, dass die Stadt, wie man sie
auf diesem Spaziergang erlebt, vom lyrischen Ich erfunden ist. Rainer Stolz
liefert durch das Spiel mit diesem wechselseitigen Erfundensein von Stadt und
lyrischem Ich en passant eine Erklärung für die Sogwirkung, die Großstädte
trotz ihrer oft beklagten Unwirtlichkeit, Brutalität und Gefühlskälte,
die hier und da auch die Gedichte dieses Bandes durchziehen, ausüben. So
lernt der Leser schon in den ersten zwei Zeilen des ersten Gedichtes diese Stadt
kennen, "in der Berührungen / versehentlich passieren".
Rainer Stolz, der Soziologie und Psychologie studiert hat, möbliert sein
Stadtbild vor allem mit subversiven und schrullig-schrillen Existenzen, die
er in den Gedichten immer wieder zu Wort kommen lässt: "Habt ihr ein
paar Mark / für Handgranaten? / Habt ihr Drogen übrig?" oder
"Ich sah eine Alte am Stock / Golf spielen mit Kot". An anderer Stelle
sind "Selbstgesprächler ... massenweise unterwegs", die sich
fragen: "Wie wirst du dein Gefühl los" oder "Weißt
du exakt deinen Selbstkostenpreis?" oder die lapidar feststellen: "Wir
haben Gerätekonflikte". Wahrscheinlich sind sie es, die in das "Multi-Komplex-Kino"
gehen, weil die Freunde nicht mehr anrufen "seit sie in Callcentern arbeiten".
Anderen Figuren, die man quasi nur vom Sehen kennt wie "diese Frau .../
... mit den Schnallenschuhen", kann man einige Gedichte später wiederbegegnen.
Eine solche Figur ist auch der Zahnarzt, der mit seinen Ratschlägen die
Attitüde eines Vorgesetzten hat: "Mehr kauen soll ich, sagt mein Zahnarzt
/ weniger schlucken ...". Der Zahnarzt ist es auch, der dem von der Stadt
erfundenen lyrischen Ich Sorgen bereitet mit der Aussage: "Wer sein Leben
in die Hand nimmt / dem bleibt kein Finger frei". Den daraus resultierenden
inneren Zerreißproben ist das lyrische Ich als Individuum, das doch als
"das Unteilbare" definiert ist, in den meisten Gedichten ausgesetzt
und trifft damit präzise den Nerv des durchschnittlichen Bürgers (Lesers)
in seinen alltäglichen Bedrängungen, anschließenden Befreiungsversuchen
und dem resultierenden Gefangensein in der grenzenlosen Freiheit: "Seit
ich von Zuzahlungen frei bin / gehen die Viren an mir vorbei / wie die ehemaligen
Kollegen. / Ich lehne an Freisprechsäulen / höre sie reden, kaufe
/ Trauben - Nuss - Schokolade, und sie / riskieren ihr Leben für ein Taxi".
So loten die Gedichte die These des Erfundenseins des Individuums immer wieder
auf neue Art und Weise aus: "Komm ins Kompetenzzentrum / Sei dabei beim
Synergiefick / Du machst dich". Mit der Zeit und mit der Lektüre des
Bandes verfestigt sich der Eindruck des einerseits freien, gleichzeitig aber
ferngesteuerten bzw. fremdbestimmten Ich, das sich davon allerdings nicht unterkriegen
lässt, sondern neugierig beobachtet, was da passiert und versucht, dies
anzunehmen, vielleicht sogar zu genießen: "Gestern wollte ich Arbeit
suchen / kaufte aber ein Buch / das mir noch vier Kaffee aufzwang. / Tief in
meinem Outfit / saß ich recht gut".
Ein minimalistisches Meisterwerk und eine Art Höhepunkt des Buches stellt
unter diesem Aspekt das kurze Gedicht "Der Anzug" dar, weil es das
beschriebene Dilemma des lyrischen Ich nicht ausspricht, sondern intuitiv transportiert
und körperlich spürbar werden lässt: "Mir steht der Anzug.
/ Der Anzug sitzt. / Er fällt gut." Nach dem Kleider-machen-Leute-Prinzip
erlebt der Leser eine weitere Erfindung des lyrischen Ich und seine schon an
Narzissmus grenzende Betrachtung des eigenen Anzugs, die zwar verbal mit diesem
steht (, sitzt) und fällt, aber in jedem der drei abgegeben Statements
zu einem positiven Resümee kommt.
Auch der Kapitalismusskeptiker Rainer Stolz äußert sich in diesem,
von der Stadt erfundenen lyrischen Ich, das weiß, dass es "eine von
vielen Spielfiguren ist": "Tief in mir rebellierten Randgruppen"
und "Älter als die Zeitung von gestern / ist nur die Frau darunter".
Oft entlarvt er auf poetische Weise, wie simpel die Mechanismen dieser Gesellschaft
funktionieren: "Komm / ins Plakat komm park deinen Blick. / Einen Quickie
hast du noch", bietet aber gleichzeitig aberwitzige Lösungen an, um
dem schier unausweichlichen Stadtneurotikerdasein doch noch zu entgehen: "Ich
singe zur Tarnung" und "Wir werden eingefangen / und laufen gelassen
/ weiter". Grundlage ist das Prinzip, das Politische durch den Alltag und
das Gesellschaftliche durch das Individuum darzustellen, das Rainer Stolz wie
auch den Duktus bei seinen lyrischen Paten Nicolas Born und Peter Rühmkorf
gelernt hat und das er zur Darstellung der heutigen gesellschaftlichen Stimmung
weiterentwickelt hat.
Rainer Stolz hat einen weiten Horizont und - was bei einem Großstädter
eher selten ist - er kommt auch als Naturliebhaber, Baumkenner und Hobbyornithologe
in der Stadt auf seine Kosten, so dass wir u.a. den Mädchenhaarbaum, Trompetenbäume
und ein Sommergoldhähnchen in seinen Gedichten antreffen neben den vertrauten
Spatzen - die klauen wie im wirklichen Leben Kekse oder "spielen Fallgesetz".
Schließlich gelingt es Rainer Stolz gleichzeitig, die Omnipräsenz
der Erotik und die Dramen der Liebe in seinen Gedichten nicht zu kurz kommen
zu lassen, wobei das Spektrum von derber Deutlichkeit bis zur kaum noch erkennbaren
Anspielung reicht: "Die Stadt erwacht, wir ficken", "...spielten
Billard, touchierten uns. / Ihre Schnallenschuhe waren spitz / punktierten mein
Spielbein.". An anderer Stelle tastet eine Kassiererin "lasziv / den
Strichcode ab" und das lyrische Ich stellt sich "Büstenhalter
/ manchmal als Falter vor".
So erfindet Rainer Stolz, während er Lyrik in seinem unverwechselbaren,
lakonischen Tonfall schreibt und dabei allenthalben subtile Wortschöpfungen
einstreut, das Großstadtgedicht als Synthese von Stadt-, Sprachspiel-,
Liebes-, Polit- und Naturgedicht neu. Diese Konvergenz sollte man sich in Zeiten
der allgegenwärtigen Divergenz nicht entgehen lassen.
Lars-Arvid Brischke
Rainer Stolz – Während mich die Stadt erfindet, Berlin 2007
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Rainer Stolz: Während mich die Stadt erfindet. Gedichte. Edition Lyrik
der Jahrtausendwende. Elfenbein Verlag. Berlin 2007