Dinge liegen an, die Jahre verschwimmen
Eben war ich noch Student bei Herrn Niedermeier, mit dessen Barockliteraturseminar ich eine Exkursion nach Wörlitz mitgemacht hab. Das war im November, wässriges Licht, eiskalte Hände. Das Seminar war klein, keinen Menschen interessiert Barockliteratur. Ich war froh, kein überfülltes Kafka- oder Foucaultseminar betreten zu müssen. Oder doch, einmal tat ich es, Platonseminar, das wegen des Andrangs sogar in einen Hörsaal verlegt worden war, wo die schrille Stimme einer ein Referat Vortragenden mir vorkam, als müsse sie über Köpfe und Rücken der einhundert Leute hinweg, die mir Zuspätkommendem trübe entgegensahen, ihr Ziel unweigerlich verfehlen.

Diese Neunziger, dieses herrlich verbröckelnde spätbarocke Ostberlin, in dem ich, natürlich, lebte. Dieser lange Flur im ersten Stock einer Wohnung in der Dunckerstraße, die nach hinten raus ins Dunkel führte und in der ich zwischen Küche und ochsenblutroten Zimmerdielen auf und ab ging, zwischen den Schreibanlässen und der Spinozalektüre. Herrlich, ja, voller Sorge, immer das Falsche zu tun. Gerade jetzt, im Augenblick des Tuns, das vollkommen unbekannt aus mir herauskam. Ein Tun, wie etwas als Anlass Getarntes, das vor sich ging, und mich mitzog, ich immer nur hinterher wie abgeschleppt, voraus das, was sich mir gleich vernebelte, das Gedichteschreiben, das ehrlich gesagt an einem Apriltag unterm Berliner Fernsehturm angefangen hatte, als ich Günter Grass' Gedicht Gleisdreieck las und dachte, ich müsse mir aufschreiben, was mir in der Berliner Luft so alles entgegenströmte. So a la Grass beziehungsweise nach Art der Gedankenströme, die sich in etwa zehn Jahren angesammelt hatten. Als ob es mit den Worten strömen oder ansammeln getan wäre, denke ich jetzt, wo ich, die Jahre verschwimmen, meinem Sohn auf einem Frankfurter Spielplatz dabei zusehe, wie er mit etwas zu viel Wucht eine Handvoll Sand nach anderen Kindern wirft, die schreiend auseinanderlaufen. Und es hatte so gar keine andere Bedeutung als für mich Bedeutung zu haben.

In Wörlitz ging mir das zum ersten Mal auf, dass ich, während wir im Novembernebel den Park inspizierten, meinen ebenfalls herbstlich vernebelten Kopf in diesem Leben nicht mehr geradeaus würde richten können auf die Dinge, die anstanden, die notwendigen und für den Aufbau eines Lebens und eines Berufslebens insbesondere unabdinglichen, die mir seitdem immer vorkamen wie lästige Anhängsel, etwas verlegen zur Seite Gelegtes, aber nachher als umso wichtiger Erachtetes. Etwas etwa so Wichtiges wie das lückenlose Abheften von Kontoauszügen, deren Zahlenspiele mir wie die hellgrün-grauen Unterseiten der im Sommerwind flatternden Pappelblätter vorkamen, die ich vom Küchenfenster aus vor einem Sportplatz hören und sehen konnte. Wenn das Fenster auf Kipp stand, rauschten sie wie die um Berlin herum versammelte Brandenburger und Mecklenburger Ferne, der nur durch die Fahrt die Prenzlauer Chaussee hinauf beizukommen war, so sehr rief sie und griff nach mir in den frühlingshaften Nächten im Herbst, die ich im so genannten LSD-Viertel verbrachte, im Anorak, im Acud, im Wohnzimmer.

Dabei ging es, wenn ich es denn mal unternahm, dran zu denken zwischen Hellem und Kurzem im Schliemanns um die Ecke, um mich als äußere Existenz. Etwas das ich ebenfalls nicht verstand, wenn ich dasaß und Spinozas Attribute als absolut relative Größen begriff, die mich sub specie aeternitatis unter sich begruben. Woraufhin ich dann selig verbiestert, verbissen und verpeilt meiner Wege ging und immer dachte, so schlimm wie in diesen schlimmen Träumen aus Altersarmut, Rechtsruck und schäbiger Küchenuhr werde es schon nicht werden in den fernen und fernsten Jahren der Jahre sagen wir zweitausenddreißig bis -vierzig, würde ich sie erleben sollen.
Man kann ja immer sagen, fiel mir viel später ein, als mein Sohn längst Schulkind in einer Schule mit vielen tollen modernen Förderkonzepten ohne das dafür nötige Personal geworden war, ich schweige zu diesem Land, zu diesem Mittelschichtsrechtsruck. Ich schweige mich aus und bin für morgen da, demnächst, wenn wir tot sind, in hundert Jahren rede ich weiter. Jetzt bringt mich niemand dazu, mich einzubringen mit Beiträgen, die klarmachen, wie ich das finde, dass die Deutschen solche Mittelschichtscruiser sind, so ein Tätervolk. Wirtschaftswunder und zack, alles vergessen. Vierzig Jahre betrogen und zack, Eigenheim, Alkoholismus, keine Perspektive, aber Super-Illu und zweihundert TV-Sender. Und endlich Pornos für alle und anonym, endlich nicht mehr rumstehn in Sexshops, endlich Autofokus Autoerotik, endlich abgehängt vom Leben und dauerbefriedigt. Und Berge und Nächte, und Sachsen und Hellersdorf und Schweinesystem und so weiter, dieser Atzenalarm, verblödete traurige Wutbürger mit den Kaffeekränzchenfressen, diesem Gartenzaun, der hegt und einhegt und es sich schön zurechtmacht im Leben.
Und keinen Schimmer davon, warum geschieht was geschieht, sich nur nach der ersten besten vorbeilaufenden Antwort umdrehen und erstbeste Dinge nachkrähen, Aufgeschnapptes ans Hirn tackern und loslaufen und so eine Ahnung von Grundgesetz. So eine irre anmaßende Ahnung, dass man ja als Bürger den Mund aufzutun hat, gefälligst, klar, Bürger, machst dir auch so deine Gedanken, hast auch so deine Meinung, willst auch eine, die zählt.

Jahrzehntelang vom Abendsessel eingeweichtes Gehirn, das von Besserem träumt als von der Wirklichkeit um die Ecke, die du sowieso nicht verstehst. Und diese blöden Impulse, irgendein runtergeschluckter Hass schon seit langem auf dies und das. Vor allem auf dich, weil irgendwas in dir ahnt, dass du niemandem die Schuld für deinen Dreck geben kannst. Das fällt letztlich alles auf dich zurück, deine Blödheit, deine Schrankwand, diffuse Erinnerungen an den ersten Fick, der irgendwie auch nicht so doll war, hatteste dir anders vorgestellt, hast nichts und niemand verzaubert, lief alles weiter wie vorher, alles Banane, hattest ja erst noch Absichten, Ambitionen, aber da waren immer Leute, die besser waren als du, unmerklich schlich sich dieses Gefühl ein, dass mehr als mitzulaufen nicht drin sein würde in diesem Leben, dieses eh schon in den Shoppingmalls zerschredderte Etwas, das deinen Körper durch die Gegend schickte, du ranntest und es ergab keinen Sinn.

Marcus Roloff