Dinge und Spuren
Nochmal kurz zum Realismus, weil er zuweilen durch die Gegend fliegt wie ein Fischtöter und Dinge, die mich angehen, dummerweise gleich mit zu erwischen droht. Der Begriff vermittelt keine Sicherheit, er fungiert nicht als Sicherheitsbeamter im Gedicht (nicht mal im Reden über Gedichte), der alles regelt und gegen Störungen verteidigt, sondern dieser Begriff, wie ich ihn verstehe, enthält lediglich den Gedanken des Spurhaltens.

Alles ist grundsätzlich ungesichert, jede Art Wissen, Glauben, Dafürhalten, Meinen etc. Bezogen auf das, was vorliegt, was ich bereits geschrieben habe, kann der Begriff des Spurhaltens, der vielleicht eine Umdeutung, jedenfalls eine Akzentverschiebung des billigen eins-zu-eins-Realismus ist, verdeutlichen, dass es nicht so richtig um Abbildung geht. Abbildung von Etwas existiert nicht, wenn es dieses Etwas nicht tut. Es ist – wie jedermann weiß – immer konstruiert, zusammengezimmert im Kopf des Betrachters. Dieses Etwas existiert bloß in Formaten, in Aggregatzuständen, als großes, mehr oder minder (un-)spezifisches Jetzt.

Mal auf der Zeitebene: Hinter meinem Rücken sammelt sich Zeit an, die gewissermaßen nichts zu tun hat. Zeit als Nebenprodukt des Jetzt, das das Bewusstsein umspült wie ewige Milch. Das Jetzt ist also ebenfalls bloß konstruiert und eigentlich ein ständiges Gestern. Und mir gegenüber ist nichts. Das, was Morgen sein soll, also sein wird, ist eine leere Leinwand. Sie tropft zwar im Minutentakt voll, aber eben mit nichts als Vergangenheit. Daraus kann ich nur den Schluss ziehen, dass ich in die Leere hineinfahren soll wie ein böser Geist aus dem Leib.
Und das tue ich, bezogen auf Gedichte, indem ich versuche, mich in Beziehung zu setzen zu dem, was sich hinter und neben mir angesammelt hat, also von dem ich etwas als liegengeblieben, als Morgenluft oder unabschließbar in die Vergangenheit weisendes schwarzes Loch erkannt zu haben meine. Da ist es wieder, dieses „als“! Ja, alles kommt nur „als etwas“ vor – das ist auch so ein Kern von „Realismus“.

Und wenn alles, was ist, lebendig ist, also mobil ist, sich fortpflanzt und wächst, bewegt es sich zumindest von einem Punkt zum anderen. Und das Gedicht, das einfach nicht totzukriegen ist, tut das auch, und sollte, denk ich, nie nur in Sprache abkippen, die rechts und links wabert, möglicherweise als amorphes Großes-Ganzes, sondern Dinge wie Spuren verfolgen, um was einzukassieren, nicht mit leeren Händen dazustehen, sich anzufüllen, vollzutropfen, gern auch im Minutentakt. Es spurt quasi auch vor dem Material, das es chaosmäßig umgibt.

Marcus Roloff