| Es ist April, Mai, Juni | |
| Festivalzeit in Frankfurt. Festival-Overkill. Erst LiteraTurm, dann Romantik.
Will heißen, alles auf einmal, monatelang nichts bzw. das reguläre
Programm mit allem Langweiligen, das dies impliziert. Es ist April, Mai,
Juni, diese ersten schönen Monate im Jahr, diese reizende, dehnbare
Luft, die kürzer werdenden Nächte. Mehr Licht. Der Winter ist
vorbei, man lebt wieder eher von Woche zu Woche, statt von Tag zu Tag. Will
heißen in längeren Phasen, in einer Art Glück, das nicht
aufhört, weil es nicht existiert. An einem nehme ich teil, an WAS WIR
SUCHEN IST ALLES. Diesen Titel habe ich vielleicht fünfzigmal im Kopf
gedreht. Was will Hölderlin sagen? Die Suchbewegung ist alles, was
wir haben? Das ist alles, mehr geht nicht? Oder: Wir suchen nicht weniger
als ALLES? Das Ganze, das totale Wissen? So oder so, ich bereite einen Nachtspaziergang
vor, lese etwas Novalis, lese im Athenäum. Lege mir neuere Dichter
daneben. Denke über die Nacht nach. Als ich Hilbig zu lesen bekomme,
denke ich, dass hier jemand gnadenlos gegen sich selbst schreibt, gegen
das Ich zumindest, das eine faule Frucht ist, ein immer nur wegdämmerndes
Ding, ja, es will immer nur in Schlaf fallen, ins vollkommene Vergessen,
ins Nichts rein was immer das sei. Die Rede geht ja oft vom Nichts,
in der Philosophie. Und das Nichts interessiert mich. Es ist irgendein Gegenteil.
Irgendeine Fratze, etwas Gefährliches. Bei Hilbig kriegt man das zu
fassen, es lugt einen an, vermittelt in der Gedichtprozedur. Seine Gedichte
sind Torturen, sind schwergängig, unteilbar, schweißnass. Eigentlich
unerlaubt witzlos. Ironie ist nicht so seine Sache. Ein Glück, denke
ich, denn alles auszuironisieren, hat ja nur den Anschein von Coolness,
denke ich, einer Coolness, die unantastbar machen soll, weil sie das Fähnchen
schwenkt, auf dem steht, holla hey ich kenn mich selber, ich reflektiere
mich mit. Wohin mit der Sehnsucht, dachte ich ganz am Anfang. Das ist die
Ausgangsfrage. Irgendein Zuviel, so ein Bild aus dem Umkreis von 'übervoller
Kessel' o.ä. Es gibt etwas, das in keinen Kanal passt, in keine sonstige
Aktivität. Etwas, das sich nicht mitteilen kann, und darum auf sich
beharrt, quasi verzweifelt auf sich aufmerksam macht, indem es sich wiederholt,
und zwar so lange bis man es aufgeschrieben hat. Wörter also, Wortfolgen,
-ketten. Da ist ein Ansatz. Da ist die Nacht. Der Spaziergang beginnt mit
20 Leuten und endet mit etwa der Hälfte im Moseleck mit der Frage,
ob das Ich als Reh im Unterholz morgens um fünf ein konturscharfes
oder eher flüchtiges Ding sei. Marcus Roloff |