Fruits of the spirit
Den ganzen Tag skipp ich mich auf Youtube durch Boiler Room Clips. Deren Kanal enthält derzeit etwa viereinhalbtausend hochgeladene Videos und hat über eine Million Abonnenten. Es handelt sich um Livemitschnitte von DJs aus feststehenden Kameraweitwinkelperspektiven, die ursprünglich als Livestream durchs Netz gehen und Klicks ohne Ende haben. Pixel-Idylle, Club fürs Wohnzimmer, DJs bei der Arbeit, bei der allmählichen Verfertigung des Flows beim Auflegen, auf jeden Fall Marketing für alle. Youtube ist Zweitverwertung, Archiv ohne Ende, und Boiler Room grundsätzlich kaum anders als ein Wetterkanal, auf dem sich 24 Stunden lang Farben und Formen verschieben.

Eine DJane wirft ihr blondiertes Haar von rechts nach links und haut einen Burner nach dem andern raus, mäandert zwischen House und Elektro, reißt mal eisklare Offbeats und Hooklines à la Damiano von Erckert, mal durch Filter gejagte Preachersamples und Achtzigerjahre-Basslines mit Holperbeat hoch. This shit is dope lauten die Kommentare zum Beispiel. Wenn mir was auffällt, suche ich in den Kommentaren nach den Track-IDs, oft ohne Erfolg, auch Shazam erkennt in der Regel rein nichts. Die Leute unterhalten sich in den Kommentarspalten eher über Tanzstile, die Art des Mixings oder – immer herablassend natürlich – über die gähnend langweilig im Vordergrund agierenden Mädels. Hinter der Blondierten steht ein Einsamer mit Sonnenbrille, der mit seinem Ellenbogen bei dem, was Tanzen sein soll, versehentlich ihren Arm trifft. Sie erschrickt kurz, wirft ihm einen bösen Blick zu und wedelt mit der CD, die sie gleich einlegen wird. Danach schiebt sich einer in weißem T-Shirt aus der drei- bis vierreihigen Menge und drückt ihn weiter nach hinten. Aber er bleibt die gesamten 53 Minuten in ihrer Nähe und zeigt seine Liebe.
Ja, denke ich, das ist ein Ausdruck, das ist schon was anderes als Hedonismus, das ist ja eigentlich Romantik, hier wird verschmolzen was das Zeug hält, hier kommt zusammen, was sonst draußen versprengt durch die Wirklichkeit schweift und nicht bis drei zählen kann, was sonst triefend vor Sehnsucht in den Seilen hängt und von sich als Individuum träumt, das es partout nicht gibt. Bei jedem Break schneit selig segelnd die Utopie eines besseren Lebens herab, dass es etwas geben könne, das mehr ist als bloß zwei plus zwei macht vier, ein phantastisches Eingreifen scheint möglich, ein Zugriff auf das eigene zusammengeschneite Häufchen Existenz, versammelten Idiotien, aus denen das Leben besteht, diese Perlenkette schneeverwehter Möglichkeiten.
Einer kann es besonders gut, in seinem Beitrag fällt auf, dass er sich bis auf ein riesiges Loch kaum Schwächen leistet, also einen Track in den andern gleiten lässt als wären sie schon immer füreinander bestimmt gewesen. Dieses Loch ist ein staubtrockenes, grauenhaft leeres Tool aus Claps und die Luft wie Sensen zerschneidenden Hi-Hats von überlang scheinenden vier Minuten etwa in der Mitte des Sets – ein echter Aussetzer, in den sich die Stimmen der umherstehenden Leute mischen. Bis die Erlösung einsetzt, müssen wir durch steinerne, vollkommen reglose Nacht. Eine mit kurzem Zopf und wechselnden Gesprächspartnern wippt die ganze Zeit nur, nippt am Dosenbier und lässt den Smalltalk, der ihr geboten wird, an sich abperlen. Sie erinnert mich an eine, die ich kenne, mit ihrem Undercut und den beiden leuchtenden Kopfhautstreifen unterm Zopf. Spätestens als sich aus M.ono „Holding Back California“ Boo Williams „Fruits Of The Spirit“ rausschält, ist alles klar, denke ich, das ist der Flow, den wir suchen, und sie ist auf lässigen 120 BPM der Film dazu, sie, die Unnahbare, die sich geduldig zutexten lässt und lächelt und jetzt, in diesem Moment, geradezu flippig zu werden anfängt, dem DJ, der leichtfüßig schüchtern von einem Bein aufs andere hüpft, einen längeren Blick zuwirft, die Schultern dreht und etwas von meiner Emphase hier auf dem Sofa abbekommen zu haben scheint.
Genau, weil er das so gut macht mit dem Eintauchen in die Nacht, dem übergangslosen Versinken in ein prächtiges Gestern und Vorgestern mit Blick auf den nächsten prachtvollen Moment, den man mit x-beliebigen Leuten in der Dunkelheit teilt, wenn der dunkle Raum nicht gefaked ist, jedenfalls ist man dabei und zugleich nicht dabei, verfolgt alles mit runden Augen und stellt sich die Gespräche vor, denn hier tanzt keiner entrückt oder selbstvergessen, sondern trinkt Heineken und nickt die Musik ab, was ein prima Bild abgibt für uns, die wir vor den Bildschirmen sitzen und eigentlich ja seit Jahren jeden echten Club meiden, weil es einfacher ist, sich durch die Sets zu skippen statt ihnen in Echtzeit auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein.


Marcus Roloff