| WERNER SÖLLNER: Gerettet
An die Namen jener, die
uns geschlagen haben, erinnern wir uns
bis ans Ende unserer Tage.
Unsere Flucht nennen wir
Vertreibung, als kämen wir
aus dem Paradies, als schämten wir uns
dafür, daß wir nicht mit den Gegnern
marschiert sind.
Daß sie so mächtig waren, sagen wir.
Und daß unser Schrecken so groß war,
größer als unsere Kraft, führen wir
ins Feld, als müßten wir uns noch
immer verteidigen.
Eingebrannt auf unseren Stirnen
ist das Schandmal der Opfer.
In unseren Adern fließt Asche.
(aus: Werner Söllner, Kopfland. Passagen, Gedichte, Suhrkamp,
Frankfurt a. M. 1988)
Dieses Gedicht macht mich schlagartig zu einem, der überlebt (hat).
Als jemand, der jetzt (in diesem Augenblick) mal einen schönen frischen
Atemzug nimmt und nachher zu REWE geht, der sich durch die medialen Angebote
klickt, Meere von sinnlosen Bildern, in dessen Ohren Musik von Slowdive,
Tycho und Superpoze läuft, der daliegt, dasteht, herumläuft,
schläft, sein Portemonnaie in der Hand hält, Scheine und Kleingeld
herausholt und einsteckt, zahlt, hier ist, dort ist, nirgends richtig,
überall gleich und überall gleich falsch und gleich richtig,
gleich wirklich, in derselben Weise vorhanden wie die, die das auch mal
waren, aber millionenfach eines gewaltsamen Todes starben als ein
solcher an und in die Gegenwart Versetzter kann ich nur meinen, dass mein
Hiersein angesichts der Berge von Toten ein überlebendes Hiersein
ist, das selbst keinerlei Eigenwertanteil an seinem Hiersein hat, sondern
sein Hiersein ganz allein dem Überleben verdankt, zu dessen Modus
es geworden ist. An diesem Punkt, dieser Bilanz nach '45, ist schlichtweg
kein Trallala-Leben mehr möglich, sondern nur noch nacktes Nachgeborensein.
Eigentlich ist gar nichts mehr möglich außer nach hinten, will
sagen zurück zu starren in einer Mischung aus Entsetzen, Scham und
äußerstem Hass. Unter diesem Schatten wird nie wieder Licht
sein. Das, was wir Licht nennen, ist höchstens geballte Nacht aus
Neonröhren, und zwar rund um die Uhr. Wir leben in etwas, das analog
zum Gitarren-Soundeffekt Small Room, also ganz kleines Karo und
wie dieser niedlich-plinkernde Nachkriegs-RocknRoll ist. Brentano
sprach vom Gesichtsviereck, in das nur Viereckigkeit passe, alle anderen
Ecken und Kanten und Rundbögen dieser Welt einfach nicht wahrgenommen
werden könnten. Seine Definition des Spießers, das weiß
ich nach diesem Gedicht, trifft auf ausnahmslos alle zu, auf alle von
jetzt, und nicht nur, wie wir dachten, auf die so genannte Elterngeneration.
Angesichts der Bilanz nach '45 ist die Rolle ein für allemal klar,
die ich einnehme, wenn ich glaube, mich frei und ungebunden durch allen
möglichen gegenwärtigen Tand hindurchbewegen und darauf beharren
zu können, dass sich nach und nach schon alles von selbst ins Vergessen
absenken, alles von selbst ins Lot rücken und von selbst ins schönste
unschuldige Existieren einmünden werde: Ich bin der Zaungast, der
sich nirgends festzubeißen vermag flatternd wie ein Vogel,
unruhig wie ein Insekt. Ein einziges Stochern, Drübergehn, Einsortieren,
Aussortieren. Lange Zeit glaubte ich, es läge an meinem gottgegebenen
flatterhaften Temperament oder daran, dass ich etwas sollen zu müssen
seit der Schulzeit nicht besonders gut aushalte. Heute soll ich ja auch,
aber das ganze Sollen ist selbstgemacht und schwappt immer hübsch
rein in den selbstgewählten Furor. Aber dieses Gedicht zeigt mir,
denke ich nach seiner Lektüre wieder und wieder, dass es überpersönliche
Gründe hat. Gerettet von Werner Söllner macht mir
schlagartig klar, dass alles noch viel schlimmer ist als befürchtet,
dass die Farbe dieser Welt die von Gefängnissen ist. Die Gegenwart
ist deshalb so mulmig, marode und unhaltbar, weil die Vergangenheit so
monströs ist. Und das gilt ja auch nur für diesen Erdteil, dem
siebzig Jahre Frieden genug zu sein scheinen, der die erbärmlichsten
Krakeeler wieder herausholt und mit ihnen siehe Brentano
alle nur denkbaren Anachronismen, die anderswo ganze Länder, Regierungen
und Erdteile in Schutt und Asche versenkt haben und weiter versenken (werden)
also auch jetzt: überwunden ist gar nichts, alles monströs.
Doch jetzt passt es zusammen, denke ich, jetzt passt zusammen, was zusammengehört,
nämlich die ununterbrochene Zeitlinie, in der es eben keinen Bruch
gibt, den wir uns immer nur einbilden, den wir uns einreden, weil wir
aus Entlastungsgründen nicht anders können als uns einzuhämmern,
dass wir mit der Vergangenheit nichts zu schaffen hätten. Jetzt endlich,
nach diesem Gedicht, dessen letzte Zeile so viel gewagter, aber auch um
so vieles heftiger ist als Kafkas Briefstelle von der Axt (für das
gefrorene Meer
), dessen letzte Zeile lebenslang im Gedächtnis
desjenigen bleibt, der sie gelesen oder gehört hat und zwar
als Kettensäge für das gewissenlose Herumlavieren in uns. Hier
macht einer Ernst mit der Schuld, die wie am ersten Tag durch die Luft
sichelt und den Kern des leichtsinnigen, stupiden und vergesslichen Kreatur-Dinges
Mensch berührt und verschattet bis alles zum Erliegen gekommen sein
wird.
Marcus Roloff
zuerst erschienen in: Die Wiederholung. Zeitschrift für Literaturkritik,
Nr. 4 - Zum Werk von Werner Söllner, hg. v. Leonard Keidel u.a.,
Heidelberg 2017
Mit herzlichem Dank!
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