Klaus Hensel: „Figo Fago in Auschwitz“

Mit dir in Auschwitz einen Freund
besuchen. Ins Figo Fago gehen,
der neue Night-Club im alten
Plattenbau. Sozialistisches Gulasch
essen nach ungarischer Art. Egri
Bikavér trinken, den schwarzen

Büffelwein. Mich aus Auschwitz
über den Autoverleiher beschweren:
Try harder. Dem eigenen Dusel zum
Opfer fallen, sieben Sekunden warten,
mich entschuldigen. Falscher Alarm.
Weiterfahren. Nach acht Stunden

mitten in Berlin sein. Ausgerechnet
dort, im Kempinski, Freunde treffen –
aus Sarajevo. Ihre Fragen beantworten,
Fragen wie: Hast du Hunger? Darauf
antworten können: ich denke, ihr in
Sarajevo habt nichts zu essen –

Also, Kitekat einkaufen, den Felix abholen,
Ernesto in der Scharfen Straße besuchen.
Sniperfrei. Seinen französischen Rotwein
trinken und Marc (de Champagne). Und
hoffen, daß man sich dann wiedersieht.
In Auschwitz, Sarajevo, hier.

(aus: Klaus Hensel, Humboldtstraße, römisches Rot. Liebesgedichte, Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2001)


Konnotationen des Grauens

Das letzte Wort dieses Gedichts ist eines der einfachsten, das es gibt, und in seiner ganzen Einfachheit an dieser Stelle durchaus verstörend. Denn wie ein Ausrufezeichen steht es da und entlässt den Leser in seine persönliche Gegenwart. Es weist mit Nachdruck darauf hin, dass Raum und Zeit derart umfassend gegenwärtig sind, dass nichts und niemand eine Entlastung darstellt. Zeitlicher und räumlicher Abstand soll beruhigen, entlasten, man will sich zurücklehnen in eine gute, schöne und wahre Gegenwart, aber es gelingt eigentlich nicht. Wir führen womöglich ein Leben unter Volllast, gestellt in die je eigene biografische Wirklichkeit, die jeden Tag etwas mehr historische Wirklichkeit wird: die tägliche private Spitze des Eisbergs innerhalb eines überpersönlichen Netzes aus Verweisen und historischen Daten. Und bloß, weil irgendetwas ein paar Jahre zurückliegt, bedeutet es nicht, dass es ein jenseitiges, in Geschichtsbücher verbanntes Dasein fristet. Wirklichkeit ist ja keine Vitrine, unter der Vergangenes endgültig abgeheftet und rubriziert werden kann. Schon die Annahme, erfassen zu können, was ‚ein paar Jahre‘ sind, ist irrig, da jedes datierbare Ereignis ebenfalls nur die Spitze eines Eisberges ist, dessen dunkler Rest jeden erschüttern kann, der ein paar zeitlich entlegenere Fakten kennt. Ohne uns, ohne fortfolgendes historisches Subjekt wären Zeit und Ort leere Floskeln, die Welt eine nicht vorstellbare, amorphe Abfolge aus Tag und Nacht, Seen und Urwäldern, Nichts und Wiedernichts. So aber ragt, was gewesen ist, in alles – in die Zukunft, und besonders ins Hier und Jetzt.

Was Klaus Hensel (* 1954) in dem 2001 in einem Band von Liebesgedichten erschienenen Gedicht „Figo Fago in Auschwitz“ tut, gleicht einem krachenden Wegreißen des Vorhangs, eines Vorhangs, der ohnehin nur scheinbar existiert. Ein Ich ist verliebt im Jetzt unterwegs, ein Ich mit den Sorgen und Nöten des Jetzt an unter anderem dem Ort, dessen Name für beispiellosen Völkermord steht. Der Horror kommt in der Banalität zur Sprache, nicht in der Verzahnung und Beschreibung historischer Fakten. Das kann und soll Literatur: den Horror zur Sprache bringen, der einen selbst nicht sprachlos zurück-, sondern das eigene Entsetzen im fremden benannt, also aufgehoben wissen lässt. Entlastung gibt auch das nicht, aber Atem zum Weiterleben. In Hensels Gedicht wird weitergelebt. Die Lektüre weiß um Adornos Diktum, nach Auschwitz sei es barbarisch, ein Gedicht zu schreiben, und klopft jede Zeile nach der Möglichkeit ab, es doch zu tun. Und vielleicht ist es vom Standpunkt des Guten, Wahren, Schönen aus nur noch so möglich: als Provokation, die die historisch aufgeladenen Zusammenhänge nur via Ortsnamen aufruft, um sie desto deutlicher ins Bewusstsein zu heben. Zugleich ist das Banale durchaus nicht ohne Bedeutung, denn das Gedicht eröffnet mit einem Du und steht erklärtermaßen in einer Sammlung von Liebesgedichten – und hier innerhalb eines Zyklus, der explizit den Holocaust und seinen realen wie zum Symbolort gewordenen Raum thematisiert. Der Auschwitzer Nachtclub heißt übersetzt etwa Schäferstündchen, nicht zuletzt damit kann das Gedicht als eines gelesen werden, das sich der Sprachlosigkeit widersetzt. Zugleich lebt es von den Konnotationen des Grauens, die es unangetastet lässt, um vor deren Hintergrund – quasi im Scherenschnitt – den Jetztzeit-Comic zu entwerfen.

Hensel überblendet zudem verschiedene historisch fortfolgende Schichten, die einen Hinweis auf sein eigenes Herkommen geben. Der Ostblock als topographische Klammer der Gräuel. Sarajevo war nach dessen Zerfall in den neunziger Jahren zum Synonym für einen menschenverachtenden Guerillakrieg geworden. Allein während der knapp vier Jahre dauernden Belagerung Sarajevos verloren Schätzungen zufolge mindestens 11.000 Menschen ihr Leben, nicht zuletzt durch Heckenschützen, deren mörderisches Agieren in keinerlei militärstrategischem Zusammenhang stand. Zynisch genug: Ausgerechnet in einem Berliner Luxushotel, das für historische Kontinuität bis in die fernweh-verwehte Gründerzeit sorgt, trifft das seltsam ratlos den Alltag bewältigende und durch eine beschädigte Gegenwart irrlichternde Ich auf den nächsten Namen, der eine weitere Geschichte Europas als eine der dünnen Tünche der Zivilisation erzählt.

Marcus Roloff