Kierkegaard/Cash (Snippet)
Ich habe nichts, nur ein Leben, schon gar keine Gelehrsamkeit, ich, der absolute Trompeter, der Mann, der sich aus Gewissensgründen abgenabelt hat vom gesellschaftlichen Fortschritt, der leider nichts als ein ödes Fortschreiten ist, ein Tüfteln am nächstbesten gewinnsteigernden Geschäft, also nichts ist, das ich gebrauchen könnte, weil die Geschäfte immer schon in der Welt sind, und zwar als größtmöglich Relatives, weil ich aber genau das benötige, was nicht in der Welt ist, was erst von mir als größtmöglich Absolutes in die Welt gesetzt wird, weil ich diese Leere brauche, die mir Platz gibt für einen Armumfang, einen Hammer, der niedergeht (siehe Kafka), um die Phänomene in Schrift zu stürzen. Alles, was mich umgibt, kriege ich nicht zu fassen, aber einen Teil, meinen, den, der nur mich angeht, den Platz, den ich einnehme am Nytorv und den Gassen der Kopenhagener Altstadt, Ort meiner lebenslangen Behausung, die mir weder der Vater noch Regine Olsen streitig gemacht haben, denn ich war den Rest meines Lebens allein mit mir und der Angst davor, der Angst vor Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, nur der ängstliche Punkt im All war ich, der einmalig in der Zeit festsaß, seinen Platz einnahm und nicht von ihm abwich.
„Das lässt mich ratlos zurück“, lese ich immer wieder in Leserkommentaren von online-Zeitungen. Das ist es – denke ich immer wieder: das Gedicht muss mich ratlos zurücklassen. Das ist eine der Eigenschaften eines gelungenen Gedichts, denke ich neben dem vielen anderen, das ich denke. Zum Beispiel auch, was ich tue, wenn ich ratlos bin, und erst ratlos zurückgelassen. Soll denn das Gedicht mir sagen, wo’s langgeht? Was mute ich dem Gedicht damit zu? Was verlange ich denn immer? Immer was verlangen, das kannst du, denke ich. Bloß nicht selber was tun, bloß nicht selber denken, bloß keine eigenen Gedanken haben, immer nur das von andern Gedachte eintüten und etikettieren, als eine eigene Beobachtung ausgeben. Aber gut, wie weit hinunter muss ich denn? Welcher Quell soll’s denn sein, Gnädigste? Wie durch- und abgekaut ist das? Allein das Wort Quell! Wie weit zurück geht es eigentlich, kann es eigentlich gehen? Das ist doch Irrsinn. Ich tue doch im Jahr 2015 nichts anderes als mich an den Tod zu gewöhnen. Durch den Tod der andern. Jetzt fangen sie an zu sterben, denke ich, um mich herum wird gestorben. Ich war auf einer Beerdigung, es war Frühling, die Knospen schlugen aus. Die Nachricht, dass eine befreundete Künstlerin um Ostern herum plötzlich und unerwartet gestorben sei, kam wie ein Schlag ins Gesicht.
Reines, frühes Licht, ein Donnerstag im April. Im Bus Nummer dreißig, der mich von einem Ende der Stadt ans andere, hinaus nach Seckbach bringt, sammeln sich Künstlerfreunde an. Mit einer rede ich still und schaue ihr unter den Hut auf die Sonnenbrille. Mein Bewusstsein ist eins, das sich bewusst ist darüber, dass es jetzt im Bus zum Parkfriedhof Heiligenstock geht, das mitansieht, wie ich an die Verstorbene zu denken versuche, indem ich mir wieder und wieder Bilder von ihr als Lebende vor Augen führe, ihre Stimme höre (Verstorbene sind möglicherweise nichts als Stimmen), dann verloren in die Gegend starre, um die in mir hochwachsende Welle der Empörung gegen diesen Frühling besser beherrschen zu können. Nein, eigentlich ist es keine Empörung, und auch keine Welle, es ist das blanke Entsetzen über ihren plötzlichen Tod. Ist es nicht, denke ich, die Vorbereitung auf ein Ereignis, die uns das Ereignis verstehen lässt? Alles Plötzliche unterbricht auch jedes noch so verbissen zusammengehaltene und gegen Störungen verteidigte Kontinuum, denke ich, während ich hinauszufallen meine aus den Zusammenhängen, auch aus diesem. Frankfurt wird immer hässlicher, je länger man Bus fährt, bzw. Frankfurt lässt nach, es wird sofort ländlich und abgestanden. Je länger man Bus fährt, desto mehr schmerzt die Sonne (siehe Kleist). Hinter einer Kurve eine Haltestelle im Grünen. Ich sehe Leute, die nebeneinander hergehen, aber nicht sprechen. Für einen Euro fünfzig kaufe ich eine Rose. Im gewölbten, zugleich entschlossen und gleichgültig nach oben strebenden Raum der Kapelle setze ich mich hinter den Künstler R. P., der seine Sonnenbrille die gesamte Trauerfeier über nicht abnimmt und in seinem graublauen Anzug aussieht wie ein schwerreicher Galerist oder ein Studiomusiker aus New York. Es ertönt Musik, die die Verstorbene mochte. Es ist vor allem Johnny Cash, dessen Coverversion von Hurt ich mir merke, ein Song, in dem es drei oder vier Minuten lang abwärts geht, weit hinab oder hinein in etwas, das nicht auf einen Begriff gebracht werden kann, etwa Wahrheit oder Liebe oder Gott. Das heißt, Gott am ehesten. Und Liebe. Und in Wahrheit natürlich auch Wahrheit. In dieser Kapelle mit dem anschließend vonstattengehenden Versenken des Sarges in einem Erdloch hat mich der Gedanke, dass das Nichtweiterleben nichts mit einem Leben an sich zu tun haben könnte zumindest gestreift. Und zwar mittels des Songs Hurt in der Version von Johnny Cash.

Marcus Roloff