Leipzig. Wenn es das gibt

Diese grauen Wälder im März, das Schlafende, Schiefstehende in der Hängung. Natur, was für ein zerzaustes Ding. Da steht ein Wolkenbrocken vor der Sonne und neben den Gleisen ruht der Fluss, das heißt er ruht ja nicht, er schiebt sich an Gelnhausen vorbei. Diese graugrünen Wälder auf dem Weg nach Leipzig. Im Zug treffe ich niemanden, schönes leeres Großraumabteil. Draußen die Sonne, bescheint mich. Ich war das letzte Mal vor acht Jahren in Leipzig. Ich fahre durch Wälder, die kurz vor dem Aufbruch sind, in einen Mai. Eine sonderbare Musik gibt es hier im ICE, ein klagendes Summen, in Abständen, es scheint sich zu antworten, mit sich zu sprechen, wenn es in die Kurven geht. Es legt sich unbewusst im Gehörgang ab und äußert sich Höhe Flieden als melancholische Rückbesinnung auf etwas wie einen in der Erinnerung aufgehobenen Ort. Was ich über Leipzig weiß, ist in diesem gedimmten langgezogenen Sirren enthalten. Das wiederum weiß etwas über meine Fahrt nach Leipzig, es sitzt auf einer Überlandleitung und singt zu mir herunter, bzw. nicht zu mir, sondern in die Gegend, mir nicht zugewandt. Diese graugrünen Ebenen und komisch ausgefransten Wälder schweigen nur. Ihr Weiden, verbiesterte Fransen! So ein lässiges Quietschen, in das sich mehrere Töne mischen, dass sich fast so etwas wie Harmonik ergibt. Jetzt hätte ich gern noch Schienengeratter (siehe Kraftwerk Trans Europa Express), das diese fragende zögernde Musik unterlegt. Eine Ebene vor Bad Hersfeld, ein einsamer Jogger, der auf die Uhr sieht, die drei oder vier Leute, die den Zug verlassen und ihre Rollkoffer hinter sich herziehen, die mich weiter wenig beachtenden Bäume, Bergkuppen und Strommasten, Tunnel, Täler und Mittelgebirge, Laubwälder, Mischwälder; zerknickte abgewrackte Gegend vor Eisenach, Wommen mit Schloss direkt am Gleis, gegenüber Drei Gleiche, Eisenach mit Löchern im Gesicht, Leerstand, Gebröckel, plötzlich Schieferwände, locker bemoost, nach Norden raus, davor einsam gelegene Häuser in Waldstücken, von der Welt getrennt durch eine Schieferwand. Zu Weimar fällt mir nichts ein, nichts zu dem in der Sonne leuchtenden Turm der Freiheit, nichts zum diatonischen Quietschen, meinem Blick den Hang nach Buchenwald hoch, der Einfahrt in den Bahnhof, dem Stehen, dem pulsierenden Fiepen, den Leuten auf dem Bahnsteig, den Halden. Ilm-Pack (GmbH). Oßmannstedt, Wielands verfallendes Haus (Kleist sitzt nur da). Apolda ohne Bahnhof, nur aufgeschütteter Sand und ein zugenagelter Gründerzeitbau, Himmel und Äcker und Berge und Kirchen, Dörfer und Anhöhen. Bad Sulza z. B., was für eine unfertige rückwärtsgewandte wilde Gegend, hier sprießt Vergangenheit, zeigt sich vom Zugriff Verschontes. Die parkartige Anlage vor Naumburg, hinten versinken die Spitzen des Doms, fünfzehn Minuten Aufenthalt auf einem Ackerbahnhof. Die Sonne kippt in den Nachmittag und ein Schwan steht auf einem Feld bei Leißling. Die tote zerbröselte Landschaft hinter Großkorbetha, im Hintergrund schimmert Leuna, Dürrenberg ist gleich ein Gehölz, das sich in einer Senke verliert. Danach nur noch Planiertes, Aufgegebenes und Diffuses. Leutzsch, eine Lärmschutzwand, bedeckter Himmel, großer horizontaler ostzonaler Verfall versus aufgepeppte Fassaden. Einfahrt Leipzig, vom Bahnhof aus zu Fuß nach Plagwitz, vom Glanz ins Elend, vom Trügerischen ins weniger Trügerische. Da wohne ich eine Nacht lang, auf drei Clubsesseln, zwei Liegen und Fenstern auf die Karl-Heine-Straße. Ein komischer Flow ist in mir. Ich sehe alles, aber doppelt scharf. Wenn das unmittelbar mit Sprache zu tun hat, denke ich beim Ur-Krostitzer, das ich mir im noch geschlossenen Noch Besser Leben geben lasse, ist ja alles sonnenklar. Als ich die nicht enden wollende Käthe-Kollwitz-Straße hochging, betrachtete ich neugierig die teils vollsanierten, teils verfallenen Stadtvillen. Überall Bauzäune, Lücken und eiskalte Sonne. Die Straßenbahnen trommeln an mir vorbei wie Gerümpel. Dieses blasse Frühlingslicht heute. Wie es aus den Ecken kroch und die toten Ecken bestrahlte, die, die überwuchert waren vom Brombeergestrüpp, in dem alte Plastiktüten hingen wie nach einem Hochwasser. Zu jedem Gesicht, das mir entgegenkommt, eine Geschichte, die ich nicht kenne. Ich gehe auf in Gesichtern und unbekannten Geschichten. Ich bin durchlässig, nichts Festes. Ein Mittwochabend am Lindenauer Markt, wo man etwas das nicht schick ist, schick machen will. An den Leuten wird es erkennbar sein, wie weit sie mit ihren dem Kapital hörigen Plänen sind. Und das Straßenlicht, das die Ecken bescheint, macht die Stadt sichtbar als etwas, an dem Ecke Goetzstraße Taxis stundenlang sinnlos verharren oder Alleinerziehende mit ihren Kindern und Einkaufstüten nach Hause pilgern. Es ist so eine Art von Gegenwart, die nicht aus der Zukunft kommt, sondern aus der Vergangenheit – wenn es das gibt.

Marcus Roloff